Flüchtlinge die aus der Türkei mit Booten in Lesbos ankommen. © Amnesty International
Flüchtlinge die aus der Türkei mit Booten in Lesbos ankommen. © Amnesty International

Die Beschlagnahmung eines NGO-Schiffes durch Italien zeigt die gefährliche Politik Europas auf See

Von Matteo de Bellis, 29. März 2018
Italiens Beschlagnahmung des Rettungsschiffes einer Hilfsorganisation lenkt die Aufmerksamkeit von Neuem auf die Art und Weise, wie Europa die Kontrolle des zentralen Mittelmeers an die libysche Küstenwache ausgelagert hat. Matteo de Bellis von Amnesty International beleuchtet die relevanten rechtlichen und humanitären Fragen in diesem Zusammenhang.

Beim Anblick der 93 ausgemergelten Flüchtlinge und Migrantinnen und Migranten, die diesen März im italienischen Hafen von Pozzallo ein spanisches NGO-Schiff verliessen, erklärte der Bürgermeister der Stadt, das Bild erinnere ihn an „eine Szene aus den Konzentrationslagern“.

Sie hatten ein Boot nach Europa bestiegen, waren jedoch in Seenot geraten. Einer von ihnen, der 21-jährige Segen, starb am Tag nach seiner Ankunft. Seine Mitreisenden erhielten dank des mutigen Einsatzes ihrer Retter an Bord des NGO-Schiffes „Proactiva Open Arms“ die dringend benötigte Hilfe. Eine Woche später geriet jedoch ebendieses Schiff selbst in die Schlagzeilen.

Am 18. März wurde die „Open Arms“ von den italienischen Behörden beschlagnahmt. Ihr vermeintliches Verbrechen? Dass die Besatzung am 15. März weitere 218 Flüchtlinge und Migrantinnen und Migranten auf See gerettet und sich geweigert hatte, sie der libyschen Küstenwache zu übergeben. Stattdessen brachte sie sie nach Italien.

Der Aufschrei im Zusammenhang mit der Beschlagnahmung des Schiffes und der Ermittlung gegen drei Mitglieder von Proactiva wegen „krimineller Machenschaften zur Begünstigung illegaler Einwanderung“ lenkt die nötige Aufmerksamkeit auf den Plan der EU, die Kontrolle des zentralen Mittelmeers an die libysche Küstenwache abzutreten, damit keine Flüchtlinge und Migrantinnen und Migranten mehr nach Europa gelangen können.

Die libysche Küstenwache bringt die Menschen, die sie auf See einsammelt, auf libyschen Boden zurück, wo sie eine lange willkürliche Inhaftierung in Einrichtungen, in denen Folter an der Tagesordnung ist, erwartet.

Ein europäisches Schiff kann Menschen nicht rechtmässig nach Libyen zurücksenden, denn die Überführung einer Person an einen Ort, an dem sie einer realen Gefahr der Folter oder anderer ernsthafter Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt wäre, ist verboten. Die europäischen Regierungen haben deshalb in den Kapazitätsaufbau der libyschen Küstenwache investiert, was wiederum zu einer Verzerrung der Dynamik der Rettungseinsätze auf verschiedenen Ebenen geführt hat. Wenn heute sowohl Schiffe der libyschen Küstenwache – die grösstenteils von Italien gespendet wurden – als auch Schiffe von NGOs ein Boot in Seenot erreichen, nachdem die italienische Küstenwache einen entsprechenden Notruf verbreitet hat, kommt es häufig zu Konflikten.

«Durch die europäische Unterstützung und Ausbildung wurden zwar die Kapazitäten der liby-schen Küstenwache gestärkt, professioneller ist sie dadurch jedoch nicht geworden.» Matteo de Bellis

Am 15. März, so berichteten die Mitglieder von Open Arms, seien sie von der libyschen Küstenwache bedroht worden. Man hätte sie aufgefordert, die Menschen, die sie soeben geborgen hatten, zu übergeben. 2017 war bereits über ähnliche Fälle berichtet worden, in denen die Libyer in die Luft schossen, Feuerwaffen auf die Rettungshelferinnen und -helfer richteten, per Funk Drohungen verbreiteten und sogar an Bord von NGO-Schiffen drängten.

Ich habe mit zahlreichen Flüchtlingen und Migrantinnen und Migranten gesprochen. Sie erzählten mir, die Beamten der libyschen Küstenwache hätten sie bedroht und ihnen ihre wenigen Habseligkeiten abgenommen, oder sogar mit den Schleppern für Geld gemeinsame Sache gemacht. Auch die UNO hat bereits ähnliche Vorkommnisse dokumentiert.

Durch die europäische Unterstützung und Ausbildung wurden zwar die Kapazitäten der libyschen Küstenwache gestärkt, professioneller ist sie dadurch jedoch nicht geworden. Die Ausbildungsmassnahmen erweisen sich als unzureichend, denn es fehlt an soliden Mechanismen zur Überwachung und Rechenschaftspflicht. Zwar wurden Versprechungen gemacht – Kameras, Einsatzberichte usw. –, aber die konkret geleisteten Schritte reichen bei Weitem nicht aus.

Trotz dieser Situation bemühen sich die europäischen Regierungen weiterhin, dafür zu sorgen, dass die libysche Küstenwache über die Kapazitäten verfügt, um nicht nur im zentralen Mittelmeerraum zu patrouillieren, sondern auch die Rettungseinsätze anderer zu koordinieren.

Laut der italienischen Küstenwache koordinierte die libysche Küstenwache den Rettungseinsatz am 15. März. Die Seenotrettung fand rund 73 Seemeilen von der libyschen Küste entfernt, in internationalen Gewässern statt. Dieser Bereich gehört weder zur „Such- und Rettungszone (SAR)“ (d. h. dem Gebiet, in dem ein Land die Verantwortung für die Koordination der Rettungseinsätze trägt) von Italien noch von Malta. Gemäss den libyschen Behörden gehörte das Gebiet jedoch zur vermeintlichen SAR-Zone Libyens.

Daraus ergeben sich zwei Probleme. Erstens gibt es derzeit gemäss der Internationalen Seeschifffahrtsorganisation keine libysche SAR-Zone. Es ist nicht einmal klar, ob eine erforderliche Seenotrettungsleitstelle (ein sog. Maritime Rescue Coordination Center) in Libyen existiert. Einige behaupten, diese befinde sich an Bord der Tremiti, einem Schiff der italienischen Marine, das in Tripolis stationiert ist.

Zweitens trägt derjenige Staat, der den Rettungseinsatz in seiner SAR-Zone koordiniert, die Verantwortung dafür, dem Rettungsschiff den „Ort der Sicherheit“ (place of safety) mitzuteilen, an dem die Geretteten von Bord gehen können. Dieser liegt normalerweise auf seinem Staatsgebiet. Da Flüchtlinge und Migrantinnen und Migranten jedoch nicht rechtmässig nach Libyen rücküberführt werden können, kann von einem Schiff, das Schiffbrüchige rettet, nicht erwartet werden, dass es diese Menschen der libyschen Küstenwache übergibt, damit sie nach Libyen zurückgebracht werden. Tatsächlich hat dies auch kein europäisches Marine- oder Handelsschiff in den letzten Jahren je getan. Täten sie es, könnten sie vor Gericht angeklagt und sogar verurteilt werden, wie es Italien 2012 in einem richtungsweisenden Fall vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte widerfuhr.

Dieser Vorfall sendet daher ein beunruhigendes Signal aus: Italien verhält sich gegenwärtig, als ob eine libysche SAR-Zone existierte, und erwartet von den Hilfsorganisationen, dass sie den Anweisungen der libyschen Küstenwache Folge leisten.

Obwohl die italienischen Behörden die Rettungsaktion eingeleitet hatten, indem sie alle Schiffe in der Region auf den Notfall aufmerksam machten und Open Arms aufforderten, sich dem Flüchtlingsboot anzunähern, waren sie der Ansicht, es obliege den libyschen Behörden – die die Bergung koordinierten – zu entscheiden, wo die Geretteten an Land gebracht werden sollten. Als Ergebnis davon war nicht klar, welches Land Open Arms anlaufen sollte, nachdem man sich geweigert hatte, die Geretteten zu übergeben – Malta oder Italien.

Da die auf See geborgenen Menschen nicht rechtmässig nach Libyen gebracht werden können, stellt sich weiterhin die Frage: Wo sollen die NGOs sie nach Ansicht der europäischen Regierungen hinbringen?

Eines ist sicher: Wenn die Überstellung von Flüchtlingen und Migrantinnen und Migranten an die libyschen Behörden einen Grundsatz des Völkerrechts verletzt, dann kann die Weigerung einer solchen Übergabe wohl kaum als Verbrechen betrachtet werden. Catanias Staatsanwalt Carmelo Zuccaro, der den Fall leitet, wurde bereits letztes Jahr bekannt, weil er öffentlich behauptete, es gäbe Verbindungen zwischen NGOs und Schleppern. Später gab er zu, dies sei nur eine Theorie, für die keine Beweise vorlägen. Die Beschlagnahmung stellt möglicherweise nur ein weiteres Kapitel in der unbegründeten Kriminalisierung der Hilfsorganisationen dar.

«Eines ist sicher: Wenn die Überstellung von Flüchtlingen und Migrantinnen und Migranten an die libyschen Behörden einen Grundsatz des Völkerrechts verletzt, dann kann die Weigerung einer solchen Übergabe wohl kaum als Verbrechen betrachtet werden.» Matteo de Bellis

Die Open Arms wird vielleicht monatelang von der Polizei festgehalten werden, genau wie die Iuventa, ein Schiff der deutschen Hilfsorganisation „Jugend Rettet“. Die Iuventa wurde unter dem Vorwurf der „Beihilfe zu illegaler Einwanderung“ beschlagnahmt, ohne dass jedoch fundierte Beweise vorgelegt oder ein Verfahren gegen die Besatzung eingeleitet worden wären.

Im Frühling werden die Mittelmeerüberquerungen mit grosser Wahrscheinlichkeit wieder zunehmen. Es ist fraglich, ob die verfügbaren Mittel zur Patrouille auf See und zur Rettung von Menschen in Seenot ausreichen werden.

Die europäischen Regierungen müssen ein solides Verfahren zur Überwachung der Aktivitäten der libyschen Küstenwache erarbeiten. Gleichzeitig dürfen die auf See geretteten Menschen niemals nach Libyen zurückgebracht werden, solange der Schutz ihrer Rechte nicht garantiert werden kann.

Dazu müssen die europäischen Regierungen ihre Unterstützung der libyschen Behörden an die Bedingung knüpfen, dass die willkürlichen Verhaftungen ein Ende nehmen und eine Vereinbarung geschlossen wird, die es dem UNHCR erlaubt, alle Flüchtlinge zu unterstützen Ausserdem müssen sie ausreichend Resettlement-Plätze für die Flüchtlinge zur Verfügung stellen, die in Libyen gestrandet sind, ebenso wie sichere und legale Routen für Migrantinnen und Migranten.

Es ist an der Zeit, dass unsere politischen Verantwortlichen ihre Zusammenarbeit mit Libyen dringend überdenken und ihre Prioritäten anpassen, damit junge Männer wie Segen nicht in libyschen Gefängniszellen geschlagen und missbraucht werden oder auf europäischem Boden vor Erschöpfung sterben.

Artikel zuerst auf «Refugees Deeply» veröffentlicht.