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Covid-19 Beschäftigte im Gesundheitswesen in Gefahr

Medienmitteilung 13. Juli 2020, London/Bern – Medienkontakt
Viele Beschäftigte im Gesundheitswesen sind bereits an Covid-19 erkrankt, mindestens 3000 von ihnen mussten sterben, weil sie sich nicht ausreichend vor dem Coronavirus schützen konnten. Amnesty International verlangt, dass die verantwortlichen Regierungen für ihr Handeln Rechenschaft ablegen müssen. Auch in der Schweiz fordert die Menschenrechtsorganisation eine unabhängige Untersuchung der Auswirkungen der Pandemie auf besonders gefährdete Berufsgruppen.

Amnesty International hat für den neuen Bericht «Exposed, silenced, attacked. Failures to protect health and essential workers during Covid-19 pandemic» (PDF, englisch, 61 Seiten) Versäumnisse beim Schutz von Gesundheitsangestellten während der Coronavirus-Pandemie untersucht. Eine Analyse der verfügbaren Daten ergab, dass weltweit bisher mindestens 3000 Beschäftigte im Gesundheitswesen an Covid-19 gestorben sind. Besonders alarmierend sind die von Amnesty International dokumentierten Fälle, in denen sich Gesundheitsmitarbeitende, die mangelnde Schutzmassnahmen gegen Covid-19 kritisiert hatten, mit heftigen Gegenreaktionen konfrontiert sahen – von Festnahmen und Inhaftierungen bis hin zu Drohungen und Kündigungen.

«Besonders verstörend sind Fälle, in denen Regierungen diejenigen bestrafen, die lebensbedrohliche Arbeitsbedingungen kritisieren. Gesundheitsmitarbeitende sind an vorderster Front tätig und merken es als erste, wenn Regierungsmassnahmen ins Leere laufen.» Sanhita Ambast, Amnesty-Expertin für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte

«Angesichts einer Situation, in der sich die Covid-19-Pandemie auf der ganzen Welt weiterhin rasant ausbreitet, fordern wir von den Regierungen, das Leben und Wohlergehen von Beschäftigten im Gesundheitswesen und anderer systemrelevanter Berufsgruppen endlich ernst zu nehmen. Staaten, denen der schlimmste Teil der Pandemie noch bevorsteht, dürfen nicht die Fehler jener Regierungen wiederholen, deren Versagen beim Schutz der Rechte dieser besonders gefährdeten Berufsgruppen desaströse Folgen nach sich zog», sagte Sanhita Ambast, Amnesty-Expertin für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte.

 «Besonders verstörend sind Fälle, in denen Regierungen diejenigen bestrafen, die lebensbedrohliche Arbeitsbedingungen kritisieren. Gesundheitsmitarbeitende sind an vorderster Front tätig und merken es als erste, wenn Regierungsmassnahmen ins Leere laufen. Wenn die Behörden versuchen, kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen, dann verwandelt sich ihr Anspruch, alles für die öffentliche Gesundheit zu tun, schnell in eine Farce.»

Tausende Todesopfer

Gegenwärtig gibt es keine systematische und global koordinierte Erfassung der nach einer Covid-19-Infektion gestorbenen Beschäftigten aus dem Gesundheitswesen und aus anderen systemrelevanten Berufsgruppen. Amnesty International hat eine grosse Bandbreite verfügbarer Daten zusammengeführt und analysiert. Gemäss dieser Daten sind bisher in insgesamt 79 Ländern mehr als 3000 Gesundheitsangestellte nach einer Covid-19-Infektion gestorben.

Gemäss der von Amnesty International zusammengetragenen Werte haben folgende Länder die bislang höchsten Todeszahlen in der Berufsgruppe der Gesundheitsmitarbeitenden zu verzeichnen: USA (507), Russland (545), Grossbritannien (540, einschliesslich 262 SozialarbeiterInnen), Brasilien (351), Mexiko (248), Italien (188), Ägypten (111), Iran (91), Ecuador (82) und Spanien (63).

Der Gesamtwert liegt wegen nicht gemeldeter Fälle sehr wahrscheinlich noch um einiges höher als angegeben. Zudem sind genaue Vergleiche zwischen den Ländern schwierig, da es unterschiedliche Methoden für die Erfassung gibt. Frankreich beispielsweise hat nur in einigen Spitälern und Gesundheitszentren Daten gesammelt, während in Ägypten und Russland die Regierung die Zahlen der gestorbenen Gesundheitsmitarbeitenden liefert.

Mangel an überlebenswichtiger Schutzausrüstung

In fast allen der 63 von Amnesty International untersuchten Staaten und Territorien berichteten Gesundheitsangestellte vom kritischen Mangel an persönlicher Schutzausrüstung (PSA). Das schliesst auch Länder wie Indien, Brasilien und diverse Staaten in Afrika ein, denen der Höhepunkt der Pandemie noch bevorsteht. Ein Arzt aus Mexiko-Stadt berichtete Amnesty International, dass er und seine KollegInnen rund 12 Prozent ihres Monatseinkommens für die Beschaffung privater Schutzausrüstung ausgeben müssen.

Neben einer weltweiten Knappheit dieser Produkte dürften Handelsbeschränkungen den Mangel zusätzlich verschärft haben. Im Juni 2020 ordneten 56 Staaten und zwei Handelsgemeinschaften (die Europäische Union und die Eurasische Wirtschaftsunion) Massnahmen zum Verbot bzw. zur Beschränkung des Exports einiger oder aller Arten von Schutzausrüstung und deren Einzelbestandteilen an.

«Jede Regierung muss sicherstellen, dass ihre Gesundheitsmitarbeitenden ausreichend mit angemessenen Schutzausrüstungen versorgt sind. Für importabhängige Länder jedoch verstärkten die Handelsbeschränkungen den ohnehin bestehenden Mangel zusätzlich», sagte Sanhita Ambast. «Die Covid-19-Pandemie ist ein globales Problem, das globale Zusammenarbeit erfordert.»

Repressalien und Entlassungen

In mindestens 31 der von Amnesty International untersuchten Länder beobachtete die Organisation, dass Beschäftigte aus dem Gesundheitswesen und anderen systemrelevanten Berufsgruppen wegen unsicherer Arbeitsbedingungen streikten, mit Streik drohten oder protestierten. In vielen Ländern reagierten die Behörden daraufhin mit Repressalien.

In Ägypten beispielsweise dokumentierte Amnesty International die Fälle von neun Gesundheitsmitarbeitenden, die zwischen März und Juni willkürlich inhaftiert und aufgrund der sehr weit gefassten und vagen Straftatbestände «Verbreitung falscher Nachrichten» und «Terrorismus» angeklagt wurden. Die inhaftierten Personen hatten Bedenken in puncto Arbeitssicherheit geäussert oder den Umgang der Regierung mit der Pandemie kritisiert.

In einigen Fällen gingen die staatlichen Stellen unverhältnismässig hart gegen die Streiks und Proteste vor. In Malaysia zum Beispiel löste die Polizei eine friedliche Kundgebung von Spital-Reinigungskräften auf. Die Beschwerden der Protestierenden richteten sich gegen die ihrer Meinung nach unfaire Behandlung von Gewerkschaftsmitgliedern durch das Reinigungsunternehmen sowie gegen den unzureichenden Schutz der Reinigungsangestellten im Spital.

Die Polizei inhaftierte fünf Protestierende und klagte sie wegen Organisation und Teilnahme an einer «nicht genehmigten Versammlung» an, was klar gegen das Recht dieser Menschen auf Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit verstösst.

 «Die Beschäftigten im Gesundheitswesen und in anderen systemkritischer Berufsgruppen haben das Recht, ihre Stimmen gegen unfaire Behandlung zu erheben», sagte Sanhita Ambast. «Gesundheitsmitarbeitende können ihren Regierungen bei der Feinabstimmung der Pandemiemassnahmen wertvolle Unterstützung bieten und für die Sicherheit und das Wohlergehen aller sorgen. Dazu müssen sie aber frei und nicht im Gefängnis sein, und sie dürfen keine Angst haben, ihre Meinung zu äussern.»

Aus verschiedenen Ländern gab es Berichte über Disziplinarmassnahmen und Entlassungen von Beschäftigten aus dem Gesundheitswesen und anderer systemrelevanter Berufsgruppen, nachdem diese ihre Bedenken kundgetan hatten.

In den Vereinigten Staaten beispielsweise wurde die ausgebildete Pflegehelferin Tainika Somerville entlassen, nachdem sie ein Facebook-Video mit der Forderung nach mehr Schutzausrüstungen veröffentlicht hatte. Tainika Somerville berichtete, dass die Belegschaft ihres Pflegeheims in Illinois nicht über die Covid-19-Fälle unter den Patientinnen und Patienten informiert gewesen war, sondern erst aus den Medien davon erfahren hatte. Das Pflegeheim hatte bis zum 29. Mai insgesamt 34 Infektionen und 15 durch Covid-19 bedingte Todesfälle gemeldet.

In Russland dokumentierte Amnesty International die Fälle der beiden Ärztinnen Yulia Volkova und Tatyana Reva, die seit einer Beschwerde über den Mangel an Schutzausrüstung mit Repressalien zu kämpfen haben. Bei Yulia Volkova geht es um eine Anklage wegen Verbreitung von Falschnachrichten und eine Strafe von bis zu 1250 Euro. Tatyana Reva ist mit einem Disziplinarverfahren konfrontiert, das zu ihrer Entlassung führen könnte.

Ungerechte Bezahlung und fehlende Lohnnebenleistungen

Neben unsicheren Arbeitsbedingungen dokumentierte Amnesty International die ungerechte und in einigen Fällen ausgesetzte Bezahlung von Beschäftigten im Gesundheitswesen und in anderen systemrelevanten Berufsgruppen.

Im Südsudan zum Beispiel erhalten Ärztinnen und Ärzte im Staatsdienst seit Februar kein Gehalt mehr. Überdies sind Sozialleistungen und Krankenversicherung ausgesetzt. In Guatemala erhielten mindestens 46 Instandhaltungs- und Reinigungsangestellte keinen Lohn für ihre zweieinhalbmonatige Arbeit in einem Covid-19-Spital.

In einigen Ländern gibt es keinerlei zusätzliche Leistungen für Beschäftigte des Gesundheitswesens und anderer systemrelevanter Berufe für ihren Einsatz während der Covid-19-Pandemie. In anderen Staaten werden bestimmte Berufsgruppen von diesen Leistungen ausgeschlossen.

Amnesty International fordert die internationale Staatengemeinschaft dazu auf, Covid-19 als Berufskrankheit anzuerkennen. Auf Grundlage einer derartigen Regelung müssten die Behörden künftig sicherstellen, dass Beschäftigte aus dem Gesundheitswesen und aus anderen systemrelevanten Berufsgruppen im Fall einer Infektion eine Entschädigung und weitere Unterstützungsleistungen erhalten. Ausserdem sollten sie Priorität beim Zugang zu Covid-19-Tests erhalten.

Stigmatisierung und Gewalt

Amnesty International berichtete über mehrere Fälle, bei denen Beschäftigte des Gesundheitswesens und anderer systemrelevanter Berufsgruppen wegen ihrer Tätigkeit Stigmatisierung und Gewalt erfuhren. So wurde eine mexikanische Krankenschwester auf offener Strasse mit wasserverdünntem Chlor besprüht. Auf den Philippinen schütteten mehrere Angreifer dem Versorgungsarbeiter eines Spitals Bleichmittel ins Gesicht.

Derartige Angriffe weisen auf ein Klima von Fehlinformationen und Vorurteilen hin und belegen abermals, wie wichtig es ist, dass Regierungen genaue und leicht verfügbare Informationen zur Verbreitung von Covid-19 bereitstellen.

In Pakistan verzeichnete Amnesty International seit April mehrere Fälle von Gewalt gegen Gesundheitsmitarbeitende. Es kam zur Zerstörung von Spitaleinrichtungen und zu Angriffen gegen ÄrztInnen, ein Arzt wurde sogar von einem Angehörigen der pakistanischen Behörde zur Terrorismusbekämpfung angeschossen.

Pakistanische Kabinettsmitglieder behaupteten mehrfach, dass die Spitäler über die notwendigen Ressourcen verfügten, obwohl Berichten zufolge die Kliniken selbst schwer kranke Personen abweisen mussten, weil es an Betten, Beatmungsgeräten und anderem essenziellen Gerät fehlte. Beschäftigte im Gesundheitswesen werden durch derartige Meldungen schnell zur Zielscheibe, da die Bevölkerung ihnen nicht mehr glaubt, wenn sie angeben, keine Kapazitäten mehr zu haben.

Forderung nach unabhängiger Untersuchung auch in der Schweiz

«Wir rufen alle von Covid-19 betroffenen Staaten auf, ihre Vorsorge- und ihre Gegenmassnahmen gegen die Pandemie von unabhängigen Institutionen in transparenten Verfahren überprüfen zu lassen, um auf diese Weise die Menschenrechte und das Leben ihrer Bevölkerung im Falle einer massenhaften Ausbreitung des Coronavirus besser schützen zu können», sagte Sanhita Ambast. Diese Überprüfung sollte auch ermitteln, ob die Rechte von Beschäftigten im Gesundheitswesen und in anderen systemrelevanten Berufsgruppen in angemessenem Umfang geschützt sind – einschliesslich des Rechts auf faire Arbeitsbedingungen sowie auf freie Meinungsäusserung.

Alle Staaten müssen eine adäquate Entschädigung für jene Beschäftigten im Gesundheitswesen und anderer systemrelevanter Berufsgruppen bereitstellen, die sich im Rahmen ihrer Arbeit mit Covid-19 infiziert haben. Zudem sind die Fälle zu untersuchen, bei denen Beschäftigte nach Kritik an Sicherheits- und Gesundheitsschutzmassnahmen von Repressalien betroffen waren. Wer unfair behandelt wurde, muss Zugang zu wirksamen Rechtsbehelfen erhalten. Wer aufgrund kritischer Äusserungen entlassen wurde, muss wieder eingestellt werden.

In der Schweiz sind die Auswirkungen der Covid-19-Pandemie auf das Gesundheitspersonal und auf Angestellte in weiteren systemrelevanten Berufen aufgrund fehlender Daten kaum bekannt. An seiner Sitzung vom 20. Mai 2020 hat der Bundesrat die Bundeskanzlei beauftragt, ihm bis Ende 2020 einen Bericht zur Auswertung des Krisenmanagements während der Pandemie vorzulegen. Dieser Bericht soll gemeinsam mit den Departementen und Vertretern der Kantone erstellt werden.

In Anbetracht dieser beispiellosen Krise und der offensichtlichen Notwendigkeit zur Transparenz ist Amnesty International der Ansicht, dass eine interne Auswertung nicht ausreicht. Die Organisation fordert den Bundesrat auf, eine unabhängige Evaluation in Auftrag zu geben, die insbesondere die Auswirkungen der Krise und die von den Schweizer Behörden ergriffenen Massnahmen auf das Gesundheitspersonal und weitere Beschäftigte in systemrelevanten und besonders exponierten Berufen untersucht. Eine solche Studie ist notwendig, um beurteilen zu können, ob deren Grundrechte voll und ganz respektiert wurden. Zudem sollte der Bundesrat mit aufgeschlüsselten Daten darlegen, wie hoch die Infektionsraten beim Gesundheitspersonal und bei anderen Bevölkerungsgruppen sind.

Das Covid-19-Gesetz, welches sich aktuell in der Vernehmlassungsphase befindet, ist eine Möglichkeit, eine solche Evaluation gesetzlich aufzugleisen, wie Amnesty Schweiz in ihrer Stellungnahme darlegt.

Hintergrund

Die Ausdrücke «Gesundheitsmitarbeitende» bzw. «Beschäftigte im Gesundheitswesen» beziehen sich auf alle an der Bereitstellung und Erbringung von Gesundheits- und Sozialdienstleistungen beteiligten Personen. Das schliesst Ärztinnen und Ärzte, Pflegepersonal, SozialarbeiterInnen, AmbulanzfahrerInnen oder Reinigungs- und Instandhaltungskräfte mit ein. Obwohl der vorliegende Bericht vorrangig die Situation von Gesundheitsmitarbeitenden thematisiert, treten ähnliche Probleme auch bei vielen anderen «systemrelevanten» Beschäftigten auf, die im Rahmen ihrer Arbeit besonders durch Covid-19 gefährdet sind.

Alle Angaben entsprechen dem Stand vom 6. Juli 2020.