Am Black Friday, einem der umsatzstärksten Tage des Unternehmens, hat Amnesty International den Bericht «Amazon, let Workers Unionize» veröffentlicht. Darin dokumentiert die Menschenrechtsorganisation, wie das Unternehmen Arbeitnehmende in Frankreich, Polen, Grossbritannien und den USA behandelt.
Die Recherchen von Amnesty International ergaben, dass Amazon Angestellte daran gehindert hat, sich gewerkschaftlich zu organisieren und Tarifverhandlungen zu führen. Das geschah unter anderem in den USA durch Überwachung und in Grossbritannien durch die Androhung rechtlicher Schritte. Zudem hat sich der Online-Gigant in Polen und Frankreich nicht um Gesundheits- und Sicherheitsanliegen der Belegschaft gekümmert.
«Während der gesamten Pandemie haben Angestellte von Amazon ihre Gesundheit und ihr Leben riskiert, damit uns wichtige Güter bis zur Haustür geliefert wurden. So haben sie dazu beigetragen, dass das Unternehmen Rekordgewinne erzielen konnte. Vor diesem Hintergrund ist es erschreckend, dass Amazon den Versuchen, sich gewerkschaftlich zu engagieren, mit einer solchen Feindseligkeit begegnet – als eines der mächtigsten Unternehmen weltweit sollte Amazon sich anders verhalten», sagt Barbora Černušáková, Expertin und Beraterin zu wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten bei Amnesty International.
«Mit dem Black Friday und Weihnachten kommt jetzt die arbeitsreichste und umsatzstärkste Zeit für den Onlinehändler. Deshalb fordern wir Amazon auf, die Menschenrechte der Mitarbeitenden zu respektieren und internationale Arbeitsrechte einzuhalten, die eindeutig festlegen, dass Angestellte das Recht haben, sich gewerkschaftlich zu engagieren. Amazon muss aufhören, die Rechte seiner Belegschaft auf Privatsphäre zu verletzen und Gewerkschaftsaktivitäten als Bedrohung zu betrachten.»
Gewerkschaften gemassregelt und bedroht
Obwohl Amazon behauptet, die Rechte der Beschäftigten zur Gründung beziehungsweise zum Beitritt zu einer Gewerkschaft zu respektieren, hat das Unternehmen die Handlungsfähigkeit der Gewerkschaften immer wieder eingeschränkt. So hat Amazon in den Jahresberichten 2018 und 2019 die Existenz von Gewerkschaften als «Risikofaktor» bezeichnet. Ausserdem riet das Unternehmen 2018 in einem Schulungsvideo für Manager, nach «Warnzeichen» für Gewerkschaftsaktivitäten Ausschau zu halten.
Im März und April sorgten die Entlassungen von Amazon-Angestellten, die die Gesundheits- und Sicherheitsbedingungen während der Pandemie kritisiert hatten, für einen Aufschrei in den USA.
In Grossbritannien wurden Mitglieder der Gewerkschaft GMB wiederholt mit einstweiligen Verfügungen wegen «unbefugten Betretens» bedroht, als sie versuchten, bei Amazon neue Mitglieder anzuwerben. 2018 und 2019 versandte der Online-Riese rechtliche Hinweise an Gewerkschaftsmitglieder. Diese belegen die Überwachung von Social Media-Tätigkeiten durch Amazon, da den Schreiben entsprechende Screenshots als Beweis für «geplante» Demonstrationen beigefügt wurden.
In Polen berichtete die Organisation Workers’ Initiative von Disziplinarmassnahmen gegen ihre Mitglieder. So erhielt eine Frau für die Anwerbung von Gewerkschaftsmitgliedern während der Arbeitszeit eine Abmahnung.
Überwachung der Belegschaft
Ein weiterer Grund zur Besorgnis ist die Überwachung der Amazon-Belegschaft. Im September berichtete Vice News über Stellenausschreibungen, in denen der Onlinehändler nach Fachkräften für die Auswertung von Überwachungsdaten sucht. So will das Unternehmen Risiken verfolgen, wozu es auch «arbeitsorganisatorische Bedrohungen für das Unternehmen» zählt. Amazon hat die Stellenanzeigen inzwischen zurückgezogen und erklärt, dass es sich bei der Veröffentlichung um einen Fehler handelte.
Im selben Monat veröffentlichte Vice News Einzelheiten zu internen Amazon-Dokumenten, aus denen hervorgeht, dass das Unternehmen die privaten Facebook-Gruppen von Amazon-Flex-FahrerInnen heimlich überwacht und ausgewertet hat, auch um eventuelle Pläne für Streiks oder Proteste zu verfolgen.
Am 21. September 2020 bat Amnesty International Amazon in einem Schreiben um eine Stellungnahme zu den Vorwürfen der unangemessenen Überwachung seiner Angestellten und einer entsprechenden Datenerfassung. In seiner Antwort vom 12. Oktober 2020 beantwortete das Unternehmen keine Fragen zu diesen Praktiken. Stattdessen hiess es, Amazon lege «enormen Wert darauf, täglich mit allen Mitarbeitenden zu sprechen. Der direkte Austausch mit unseren Mitarbeitenden ist eine Stärke unserer Arbeitskultur.»
Aus internen Unterlagen, die im Oktober 2020 an die Öffentlichkeit durchgedrungen sind, geht hervor, dass Amazon seine Belegschaft in den USA anscheinend mit entsprechender Technologie überwacht. So sollen Social-Media-Konten heimlich auf Anzeichen von Plänen zur Organisierung von Protesten oder Streiks durchsucht worden sein.
Im Oktober berichtete das Technologieblog Recode von einem durchgesickerten internen Protokoll, demzufolge Amazon plant, Hunderttausende Dollar in ein neues Technologiesystem namens geoSPatial Operating Console zu investieren und mit dessen Hilfe gewerkschaftliche «Bedrohungen» zu überwachen.
«So ein Big Brother-Verhalten ist völlig inakzeptabel und beeinträchtigt die Meinungs- und Vereinigungsfreiheit der Angestellten», meint Barbora Černušáková.
Kritik am Umgang mit der Covid-19-Pandemie
Da sich täglich Hunderttausende mit COVID-19 infizieren, sind Gesundheit und Sicherheit der Amazon-Angestellten von entscheidender Bedeutung.
Die polnische Organisation Workers’ Initiative teilte Amnesty International mit, dass Amazon sich im März 2020 geweigert habe, Gesundheits- und Sicherheitsaspekte mit ihr zu diskutieren. In Frankreich gelang es der Gewerkschaft Solidaires auf dem Rechtsweg einen vorübergehenden Betriebsstillstand zu erwirken, um striktere Gesundheits- und Sicherheitsmassnahmen einzuführen.
Einige Gewerkschaften haben sich ausserdem angesichts des Umgangs mit Gefahrenzulagen besorgt gezeigt. Während in Europa und Nordamerika eine leicht erhöhte Gefahrenzulage gezahlt wurde, stellte das Unternehmen diese in den meisten Ländern Ende Mai 2020 trotz der anhaltenden Pandemie wieder ein.
«Die Feiertage folgen auf ein langes und schwieriges Jahr für die Mitarbeitenden von Amazon, die mitten in einer Pandemie für ihre Arbeitsrechte kämpfen mussten», erläutert Barbora Černušáková. «Amazon wird wegen der Behandlung seiner Mitarbeitenden zunehmend kritisiert, und wir fordern das Unternehmen auf, endlich in vollem Umfang seiner Verpflichtung gerecht zu werden, die Rechte ihrer Angestellten zu respektieren.»