Die Covid-19-Pandemie und die Durchsetzung der Lockdowns haben aufgezeigt, wie weit verbreitet institutioneller Rassismus ist. © AI
Die Covid-19-Pandemie und die Durchsetzung der Lockdowns haben aufgezeigt, wie weit verbreitet institutioneller Rassismus ist. © AI

Europa Covid-19-Lockdowns enthüllen rassistische Voreingenommenheit bei der Polizei

24. Juni 2020
Bei der Durchsetzung der Lockdown-Regeln ging die Polizei in vielen europäischen Ländern unverhältnismässig stark gegen Angehörige ethnischer Minderheiten und marginalisierter Gruppen vor, indem sie Gewalt einsetzte, diskriminierende Personenkontrollen durchführte, Geldstrafen verhängte und Zwangsquarantäne anordnete. Dies geht aus einem neuen Bericht von Amnesty International hervor.

Der Amnesty-Bericht mit dem Titel Policing the pandemic untersucht die Lage in zwölf europäischen Ländern und enthüllt ein besorgniserregendes Ausmass an rassistischer Voreingenommenheit basierend auf institutionellem Rassismus innerhalb der Polizei. Dies reflektiert die umfassende Problematik, auf die die Bewegung Black Lives Matter derzeit aufmerksam macht.

«Polizeigewalt und Befürchtungen bezüglich institutionellem Rassismus sind keine neuen Phänomene, doch die Covid-19-Pandemie und die Durchsetzung der Lockdowns haben aufgezeigt, wie weit verbreitet diese Dinge tatsächlich sind», so Marco Perolini, Experte für Westeuropa bei Amnesty International.

«Die dreifache Gefahr von Diskriminierung, rechtswidriger Gewaltanwendung und polizeilicher Straflosigkeit muss in Europa dringend angegangen werden.»Marco Perolini, Experte für Westeuropa bei Amnesty International

«Die dreifache Gefahr von Diskriminierung, rechtswidriger Gewaltanwendung und polizeilicher Straflosigkeit muss in Europa dringend angegangen werden.»

Diskriminierende Polizeieinsätze gegen ethnische Minderheiten

Die polizeiliche Durchsetzung der Lockdowns wirkte sich in ärmeren Gegenden am stärksten aus, wo häufig verhältnismässig viele Angehörige ethnischer Minderheiten leben. Im Département Seine-Saint-Denis, der ärmsten Gegend des französischen Festlands, in der hauptsächlich Schwarze Menschen bzw. Menschen aus Nordafrika leben, wurden dreimal so viele Geldstrafen wegen Lockdown-Verstössen verhängt wie im Rest des Landes, obwohl dort laut Angaben der Kommunalbehörden nicht stärker gegen die Regeln verstossen wurde als anderswo. In Nizza wurden in einem Bezirk, der vornehmlich von Arbeiterinnen und Arbeitern und Angehörigen ethnischer Minderheiten bewohnt wird, längere nächtliche Ausgangssperren verhängt als im Rest der Stadt.

Oft setzte die Polizei rechtswidrige Gewalt ein, wenn sie Strassen- und Personenkontrollen zur Durchsetzung der Lockdown-Regeln durchführte.

Das Vereinigte Königreich ist eines der wenigen europäischen Länder, das nach ethnischen Kriterien aufgeschlüsselte Daten zum Gesetzesvollzug erhebt. Dort registrierte die Londoner Polizei im März und April 2020 einen Anstieg der Polizeikontrollen auf der Strasse (stop and searches) um 22 Prozent. Im gleichen Zeitraum stieg die Anzahl Schwarzer Menschen, die auf der Strasse angehalten und kontrolliert wurden, um beinahe ein Drittel an.

Amnesty International hat die Echtheit von 34 Videoaufnahmen aus verschiedenen europäischen Ländern verifiziert, in denen zu sehen ist, wie die Polizei rechtswidrige Gewalt einsetzt.

Amnesty International hat die Echtheit von 34 Videoaufnahmen aus verschiedenen europäischen Ländern verifiziert, in denen zu sehen ist, wie die Polizei rechtswidrige Gewalt einsetzt – oft, wenn Gewaltanwendung überhaupt nicht notwendig war.

In einem Video, das am 29. März ins Internet gestellt wurde, ist zu sehen, wie zwei Ordnungskräfte im spanischen Bilbao einen jungen Mann auf der Strasse anhalten, der Berichten zufolge aus Nordafrika stammt. Obwohl der Mann augenscheinlich keine Bedrohung für die Polizeikräfte darstellte, schubsten sie ihn und schlugen ihn mit einem Schlagstock. Während die Polizisten den Mann mit auf dem Rücken gefesselten Händen gegen eine Wand drückten, erschien seine Mutter und informierte die Beamten, dass ihr Sohn in schlechter psychischer Verfassung sei. Daraufhin wurde sie von einem Polizisten mit einem Schlagstock attackiert und von drei weiteren Beamten zu Boden gestossen.

Laut Analyse von Amnesty International wandten die Ordnungskräfte stärkere Gewalt an als notwendig; es ist in der Tat fraglich, ob der Einsatz von Gewalt in diesem Fall überhaupt nötig war. Einige AnwohnerInnen, die den Vorfall filmten, wurden wegen «unbefugter Verwendung von Aufnahmen von Ordnungskräften» mit Geldstrafen belegt.

In einem weiteren Video vom 26. April ist zu sehen, wie Samir, ein 27-jähriger Ägypter, der seit zehn Jahren in Frankreich lebt, in Île-Saint-Denis von der Polizei verfolgt wird und schliesslich in die Seine springt. Man hört, wie die Polizisten einen abschätzigen Begriff für arabische Menschen verwenden («bicot») und sich über ihn lustig machen. Ein Polizist sagte: «Du hättest ihm ein Gewicht an den Knöchel binden sollen.» Danach wurde Samir von Ordnungskräften in einem Polizeifahrzeug geschlagen und in Gewahrsam gehalten. Obwohl nie Anklage gegen ihn erhoben wurde, erhielt er eine Anordnung, das Land zu verlassen. Zwei Polizisten wurden wegen der rassistischen Beleidigungen vom Dienst suspendiert.

Militärisch durchgesetzte Quarantäne in Roma-Siedlungen

In Bulgarien und der Slowakei wurden Roma-Siedlungen obligatorisch unter Quarantäne gestellt, was von einer diskriminierenden Haltung zeugt. In der Slowakei wurde das Militär abgestellt, um die Quarantäne durchzusetzen. Amnesty International ist der Ansicht, dass die Armee nicht zur Durchsetzung von Massnahmen abgestellt werden sollte, die auf die öffentliche Gesundheit abzielen. Vielmehr sollte das Militär nur in Situationen des Gesetzesvollzugs eingesetzt werden, wenn eindeutig nachgewiesen werden kann, dass der Einsatz von regulären Polizeiangehörigen nicht ausreicht. In den vorliegenden Fällen existieren keine derartigen Nachweise.

Während der obligatorischen Quarantäneverhängung in Bulgarien waren mehr als 50‘000 Roma vom Rest des Landes abgeschnitten und litten unter ernster Lebensmittelknappheit. Einer Umfrage zufolge sank das Medianeinkommen in Roma-Vierteln zwischen März und Mai 2020 um 61 Prozent.

In der bulgarischen Küstenstadt Burgas setzten die Behörden Drohnen mit Wärmesensoren ein, um aus der Ferne die Körpertemperatur von Roma-BewohnerInnen zu messen und ihre Bewegungen zu überwachen. In Jambol im Südosten des Landes setzten die Behörden Flugzeuge ein, um ein Roma-Viertel zu «desinfizieren», in dem Covid-19 ausgebrochen war und in dem selbst nach Beendigung des landesweiten Ausnahmezustands nach wie vor strenge Quarantäneauflagen galten.

Flüchtlinge und Migrantinen im Visier

Asylsuchende, Flüchtlinge und Migrantinnen und Migranten in Lagern und Gemeinschaftsunterkünften wurden in Deutschland, Zypern und Serbien mit selektiven Quarantäneauflagen belegt. In Frankreich und Griechenland fanden rechtswidrige Zwangsräumungen statt.

So führten die Behörden im Rahmen des Ausnahmezustands in Serbien ein spezielles System ein, das von der Regierung betriebene Unterkünfte für Flüchtlinge, Migrantinnen und Migranten und Asylsuchende selektiv ins Visier nahm: Es wurde eine strenge Quarantäneregelung verhängt, die rund um die Uhr galt und durch Angehörige des Militärs überwacht wurde.

«Die Behörden müssen damit aufhören, diskriminierende Quarantänemassnahmen für Roma sowie Flüchtlinge und Migrantinnen und Migranten zu verhängen und diese Menschen rechtswidrig aus Lagern und informellen Siedlungen zu vertreiben. Stattdessen müssen sie die Rechte auf Gesundheit und angemessenes Wohnen für alle sicherstellen», so Barbora Černušáková, Expertin für Osteuropa bei Amnesty International.

Obdachlose Menschen

Auch obdachlose Menschen waren in vielen Ländern unverhältnismässigen Massnahmen ausgesetzt.

Auch obdachlose Menschen waren in vielen Ländern unverhältnismässigen Massnahmen ausgesetzt. In Italien dokumentierte die Nichtregierungsorganisation Avvocato di Strada mindestens 17 Fälle, in denen obdachlose Menschen Geldstrafen erhielten, weil sie die Regeln hinsichtlich Isolation und Einschränkung der Bewegungsfreiheit nicht einhalten konnten. Auch in Frankreich, Spanien und Grossbritannien verhängten die Ordnungskräfte zahlreiche Bussgelder gegen Obdachlose.

«Die Behörden müssen sich mit den Bedenken hinsichtlich institutionellem Rassismus, rassistischer Voreingenommenheit und Diskriminierung innerhalb der Polizei auseinandersetzen, die im Umgang mit der Covid-19-Pandemie deutlich geworden sind. Es wird Zeit, dass Europa diese Praktiken beendet und dem Rassismus vor der eigenen Haustür ins Gesicht sieht», so Barbora Černušáková.

Hintergrund

Die zwölf für den Bericht untersuchten Länder sind Belgien, Bulgarien, Zypern, Frankreich, Griechenland, Ungarn, Italien, Serbien, Slowakei, Rumänien, Spanien und Grossbritannien.