«Die Gefängnisse drohen zu gefährlichen Krisenherden für Covid-19 zu werden.»
Sauro Scarpelli, stellvertretender Direktor für Kampagnen bei Amnesty International.
«Angesichts der weltweiten Ausbreitung dieses verheerenden Virus drohen die Gefängnisse zu gefährlichen Krisenherden für Covid-19 zu werden. Es ist dringender denn je, dass die Staatengemeinschaft Massnahmen zum Schutz derer ergreift, die hinter Gittern sind. Alle Gefangenen, die allein wegen der friedlichen Ausübung ihrer Rechte inhaftiert sind, müssen freigelassen werden», sagt Sauro Scarpelli, stellvertretender Direktor für Kampagnen bei Amnesty International.
Der Krankheit ausgeliefert
«Gewaltlose politische Gefangene haben keine Verbrechen begangen. Und trotzdem sind sie unter Bedingungen inhaftiert, die immer gefährlicher werden. Viele Gefängnisse auf der ganzen Welt sind überbelegt und verfügen über keine adäquaten sanitären Einrichtungen. Deswegen ist es für die Gefangenen unmöglich, sich vor der Krankheit zu schützen. Sie können keinen Abstand halten oder sich nicht regelmässig die Hände waschen. Durch ihre willkürliche Inhaftierung sind sie einem hohen Risiko ausgesetzt.»
Amnesty International setzt sich aktiv für die Freilassung von rund 150 gewaltlosen politischen Gefangenen ein: Menschen, die in verschiedenen Weltregionen allein wegen der friedlichen Ausübung ihrer Menschenrechte inhaftiert wurden. Die genaue Anzahl ändert sich immer wieder aufgrund von Freilassungen, Todesfällen oder deswegen, weil einige Einzelpersonen stellvertretend für eine ganze Gruppe stehen. Insgesamt muss vermutlich von Tausenden von politischen Gefangenen ausgegangen werden.
Prominente Gefangene
Rubén González
Einer der Gefangenen, für den sich Amnesty International einsetzt, ist Rubén González. Am 29. November 2018 wurde der venezolanische Gewerkschafter willkürlich festgenommen, weil er sich für die Rechte der Arbeiterinnen und Arbeiter in einem staatlichen Eisenbergbau-Unternehmen eingesetzt hatte. Er wurde zu fünf Jahren und neun Monaten Haft verurteilt, weil er einen Militärangehörigen angegriffen haben soll.
Obwohl er Zivilist ist, wurde er unter Verletzung des Rechts auf ein faires Gerichtsverfahren vor ein Militärgericht gestellt. Es gab keine belastbaren Beweise gegen ihn und das Verfahren gegen ihn war eindeutig politisch motiviert. Rubén González leidet an Niereninsuffizienz und Bluthochdruck. Angesichts seiner schlechten gesundheitlichen Verfassung wäre eine Erkrankung an Covid-19 fatal.
Mahienour el-Masry
Ein emblematischer Fall ist auch Mahienour el-Masry, Menschenrechtsanwältin aus Alexandria/Ägypten. Sie setzt sich seit Jahren für die Rechte von ArbeiterInnen, Frauen, AktivistInnen und Geflüchteten ein. Deshalb wurde sie mehrfach verhaftet und verurteilt. Sie wurde auf der anderen Seite aber auch für ihr Engagement geehrt: Mahinenour ist Trägerin des renommierten Ludovic-Trarieux-Menschenrechtspreises.
Am 22. September 2019 nahmen Sicherheitskräfte in zivil die bekannte Menschenrechtsanwältin erneut fest. Sie wollte sich bei der Staatsanwaltschaft der Staatssicherheit (SSSP) über den Stand der Ermittlungen gegen AktivistInnen erkundigen, die kurz zuvor bei Protesten gegen die Regierung festgenommen worden waren. Eben diese Anklagebehörde wirft ihr nun vor, im Zusammenhang mit den Protesten falsche Informationen verbreitet und terroristische Gruppen unterstützt zu haben. Seither sitzt sie im Frauengefängnis Al Qanater nördlich von Kairo. In Ägypten befinden sich tausende von Menschen in stickigen, überbelegten Gefängnissen, oft ohne Zugang zu sauberem Wasser und Seife. Sie können sich nicht vor einer Ansteckung mit dem Coronavirus schützen.
Nasrin Sotoudeh
Auch die bekannte iranische Menschenrechtsanwältin Nasrin Sotoudeh ist eine gewaltlose politische Gefangene. Sie wurde am 13. Juni 2018 festgenommen und in zwei unfairen Gerichtsverfahren zu insgesamt 38 Jahren und sechs Monaten Gefängnis sowie 148 Peitschenhieben verurteilt.
Die gegen sie erhobenen Vorwürfe beziehen sich auf ihre Kritik am iranischen Verschleierungsgesetz. Sie soll «zu Verdorbenheit und Prostitution angestiftet» und «durch Nicht-Tragen des Hidschab öffentlich eine sündige Handlung begangen» haben. Auch wegen ihres Engagements gegen die Todesstrafe steht sie im Visier der iranischen Behörden.
Emir-Usein Kuku
Der bekannte Krimtatar Emir-Usein Kuku untersuchte und dokumentierte die Menschenrechtsverletzungen, die im Zuge der anhaltenden russischen Besatzung auf der Krim begangen wurden. Im Mittelpunkt seines Engagements standen Fälle des Verschwindenlassens von Angehörigen der krimtatarischen Gemeinschaft.
Emir-Usein Kuku ist seit Februar 2016 von seiner Familie getrennt und im Gefängnis. Am 12. November 2019 erklärte ein russisches Militärgericht den Menschenrechtsverteidiger und seine fünf Mitangeklagten (Muslim Aliev, Vadim Siruk, Enver Bekirov, Arsen Dzhepparov und Refat Alimov) aufgrund konstruierter Anklagen für schuldig. Nach einem in die Länge gezogenen, unfairen Verfahren wurden sie zu Haftstrafen zwischen 7 und 19 Jahren verurteilt. Amnesty International betrachtet alle sechs als gewaltlose politische Gefangene.
Dringende Schutzmassnahmen
«Eine ungerechtfertigte Inhaftierung inmitten einer globalen Pandemie ist grausam und völlig unverantwortlich.»
Sauro Scarpelli, stellvertretender Direktor für Kampagnen bei Amnesty International.
«Eine ungerechtfertigte Inhaftierung inmitten einer globalen Pandemie ist grausam und völlig unverantwortlich», betont Sauro Scarpelli. «Die Menschenrechte stehen für uns auch in Zeiten von Covid-19 im Mittelpunkt. Wir werden weiterhin für eine gerechte und tolerante Zukunft kämpfen, in der alle Menschen ihre Meinung frei und friedlich äussern können.»
Neben dem Appell, gewaltlose politische Gefangene freizulassen, fordert Amnesty International die Regierungen auf, Massnahmen zur Eindämmung des Virus zu ergreifen. Namentlich soll die Zahl der GefängnisinsassInnen reduziert werden, um der Überbelegung von Hafteinrichtungen entgegenzuwirken. Ausserdem sollten die Behörden Fälle von Untersuchungsgefangenen und Kindern überprüfen sowie die frühzeitige, befristete oder bedingte Freilassung von besonders gefährdeten Personen, wie ältere oder gesundheitlich angeschlagene Menschen, in Erwägung ziehen.
Ausserdem fordert die Menschenrechtsorganisation von den Regierungen, den Gefangenen Zugang zu einer Gesundheitsversorgung zu ermöglichen, die sowohl deren individuellen Bedürfnissen als auch den Standards der übrigen Bevölkerung entspricht. Auch Inhaftierte müssen bestmöglich vor Covid-19 geschützt werden.