1. Schutz der öffentlichen Gesundheit
Die Pandemie betrifft in erster Linie das Recht auf Gesundheit. Viele Menschen sind durch Covid-19 an Leib und Leben bedroht. Staaten sind gemäss internationalem Recht verpflichtet, die Gesundheit und das Leben der Bevölkerung zu schützen. Der Schweiz erwächst daraus die Pflicht, gegen die Pandemie anzugehen und den Zugang zu präventiven Mitteln und medizinischen Dienstleistungen für alle sicherstellen.
Die Corona-Krise zeigt, wie wichtig die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte - zum Beispiel das Recht auf Gesundheit - sind. Im Schweizer Recht sind diese Menschenrechte jedoch grösstenteils nur als Absichtserklärung formuliert. Mittelfristig fordern wir deshalb, dass wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte als durchsetzbare Ansprüche in der Bundesverfassung verankert werden.
2. Umfassende Transparenz und Information
Der Staat hat eine Informationspflicht: Wir alle müssen Zugang zu faktenbasierter Information über Covid-19 haben, um informierte Entscheidungen über unsere Gesundheit treffen zu können. Der Bund und die Behörden müssen den Zugang zu diesen Informationen uneingeschränkt und für alle Menschen in der Schweiz sicherstellen.
Um den Prinzipien des Rechtstaates zu genügen, müssen öffentliche Entscheidungen transparent und verständlich kommuniziert werden. Die Bevölkerung muss sich informieren und die Massnahmen einschätzen können. Einschränkende Massnahmen brauchen eine klare und verständliche Grundlage im Gesetz. (Siehe dazu: Voraussetzung zur Einschränkung von Menschenrechten)
3. Freie Meinungsäusserung und Versammlungsfreiheit, Respekt und Dialog
Es ist wichtig, dass wir die Auswirkungen der Pandemie und die Eingriffe in unsere Menschenrechte kritisch hinterfragen und einschätzen können. Die Meinungs-, Presse-, Informations- und Versammlungsfreiheit ist in dieser Zeit deshalb besonders relevant: Wir brauchen die Möglichkeit, uns zu informieren, eine Meinung zu bilden und diese auch gemeinsam kund zu tun. Amnesty International ruft dazu auf, bei Demonstrationen friedlich zu bleiben und keine Gewalt anzuwenden; die Polizei ihrerseits muss sich bei ihren Einsätzen immer an das Gebot der Verhältnismässigkeit halten.
In einer Zeit, in der wir alle aufeinander angewiesen sind, ist es umso wichtiger, dass wir einander mit Respekt begegnen, Verständnis zeigen, einen Dialog ermöglichen und zusammenhalten. Alle sind gefordert, nicht nur ihre eigenen Interessen, sondern die Rechte aller im Blick zu behalten. Zudem sind wohlüberlegte Massnahmen nötig, um Menschen vor verletzenden, herabwürdigenden, rassistischen, sexistischen und zur Gewalt aufstachelnden Äusserungen zu schützen.
4. Schutz von besonders Betroffenen und gefährdeten Personen oder Berufsgruppen
Unterschiedliche Bedürfnisse und Lebensrealitäten müssen von Anfang an in Entscheidungsprozesse einbezogen werden. Gruppen mit einer erhöhten Schutzbedürftigkeit dürfen nicht vernachlässigt werden. So sind Armutsgefährdete und armutsbetroffene Menschen generell einem erhöhten Gesundheitsrisiko ausgesetzt. Viele dieser Menschen haben aufgrund zahlreicher Barrieren keinen adäquaten Zugang zum Gesundheitssystem oder können es sich nicht leisten, krank zu sein. Das erschwert eine angemessene Gesundheitsvorsorge und -versorgung. Amnesty Schweiz fordert, dass Corona-Unterstützungsinstrumente allen Menschen ohne Diskriminierung und ohne physische, bürokratische oder sprachliche Barrieren zugänglich sind. Diskriminierende Einschränkungen aufgrund bestimmter Identitätsmerkmale müssen dringend vermieden werden.
In systemrelevanten Branchen, wie zum Beispiel im Gesundheitsbereich, ist Homeoffice oft keine Option. In diesen Branchen arbeiten vor allem Frauen und Migrant*innen – oft unter prekären Bedingungen und ohne angemessenen Schutz. Die zuständigen Entscheidungsträger*innen müssen sicherstellen, dass alle Menschen sich an ihrem Arbeitsplatz angemessen vor einer Infizierung mit dem Coronavirus schützen können. Besonderes Augenmerk muss dabei auf den Menschen liegen, die prekär oder atypisch beschäftigt sind.
5. Internationale Zusammenarbeit und Solidarität
In vielen Ländern haben die Menschen kaum oder noch gar keinen Zugang zu Impfungen und sonstigen Schutzmassnahmen. Das Gesundheitssystem ist für sie oft zu teuer, oft ist es in einem schlechten Zustand. Aufgrund der prekären wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sind sie besonders von der Pandemie bedroht. Dies hat nicht nur massive Auswirkungen für die Menschen und ihre Rechte im jeweiligen Land, sondern betrifft uns alle: Covid-19 ist eine globale Krise, und wir können die Verbreitung des Virus nur in globaler Zusammenarbeit bewältigen. Wir fordern deshalb die gerechte Verteilung der Impfdosen weltweit.
Damit genügend Covid-19-Impfstoffe für alle Menschen verfügbar sind, müssen Pharmaunternehmen ihr Wissen und ihre Technologien zu Covid-19-Impfungen und -Medikamenten für die Dauer der Pandemie teilen. So können Impfstoffe schneller produziert und Menschen auf der ganzen Welt rascher geimpft werden. Wir fordern deshalb, dass die Schweiz die vorübergehende Aufhebung der geistigen Eigentumsrechte an den Mitteln zur Bekämpfung von Covid-19 unterstützt.
6. Verhältnismässigkeit der Einschränkungen
Durch die Covid-Massnahmen werden unsere Menschenrechte derzeit in verschiedenen Lebensbereichen eingeschränkt. Regierungen und Behörden müssen die Verhältnismässigkeit der Massnahmen deshalb laufend überprüfen. Massnahmen sind aufzuheben oder zu lockern, wenn sie nicht mehr notwendig sind. Um diese Entscheide zu fällen, müssen Entscheidungsträger*innen rechtzeitig die fachspezifischen Expert*innen einbinden. Keine Regierung darf die Krise nützen, um ihre Macht auszubauen oder zu missbrauchen.
Die Entscheidungen über Covid-19-Massnahmen müssen wirksamkeitsorientiert und nachvollziehbar getroffen werden. Dabei braucht es immer eine Abwägung von Alternativen zu Eingriffen in unsere Menschenrechte. Beispielsweise darf die Versammlungsfreiheit nie weiter eingeschränkt werden, als dies zum Schutz der Gesundheit notwendig ist.
7. Der Zugang zum Recht muss garantiert sein
Auch in Krisensituationen müssen alle Menschen ihre Rechte einfordern können. Die Regierungen und Behörden müssen die Rechtssicherheit und den Zugang zum Rechtsschutz für alle jederzeit sicherstellen. Um angemessen auf die schnell wechselnden Voraussetzungen während einer Pandemie reagieren zu können, ist ein Ermessensspielraum nötig. Es braucht jedoch klare gesetzliche Regeln zur Anwendung dieses Spielraums, ein hohes Mass an Verantwortung der Entscheidungsträger*innen sowie eine effektive parlamentarische und gerichtliche Kontrolle.