Menschen sind nicht behindert, sondern sie werden durch die Hürden und Einschränkungen in ihrer Umwelt behindert, die den Zugang zu ihren Rechten erschweren oder versperren. In der Schweiz leben 1,7 Mio Menschen mit Behinderungen. Ihr Anteil steigt mit dem Alter stark an: Während nur etwa 10 Prozent der Jugendlichen in der Schweiz mit Behinderungen leben, sind es bei Personen über 85 Jahren rund 47 Prozent. Stärker betroffen sind zudem Frauen und Personen ohne anerkannten Berufsabschluss.
Menschen mit Behinderungen werden in vielen Lebensbereichen ausgeschlossen und in ihrer Selbstbestimmung eingeschränkt. Zudem hält sich die Vorstellung teils hartnäckig, Menschen mit Behinderungen müssten Einschränkungen akzeptieren und den Abbau von Hürden dankbar annehmen.
«Ich war nicht rentenberechtigt, denn nach meinem Studium wurde mir eine Arbeitsfähigkeit von 70 Prozent attestiert. Ich musste lange nach Stellen suchen und schliesslich höchste Dankbarkeit zeigen, wenn ich eingestellt wurde: Ich könne ja froh sein, dass man mir die Möglichkeit gebe. Aus dieser Position heraus habe ich mir vieles gefallen lassen, das heute niemand mehr akzeptieren würde.» Christine Bühler, Präsidentin Behindertenforum Region Basel
Hürden abzubauen und sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderung selbstbestimmt am öffentlichen Leben und der Gesellschaft teilhaben können, ist jedoch kein soziales Entgegenkommen, sondern eine menschenrechtliche Pflicht. Die Schweiz ist national und international verpflichtet, Menschenrechte nicht nur zu schützen, sondern Menschen auch die tatsächliche Möglichkeit zu geben, ihre Rechte zu verwirklichen. Die Inklusion von Menschen mit Behinderung und ihre tatsächliche Gleichstellung sind Staatsaufgaben und Voraussetzung dafür, dass sie in den Genuss ihrer Menschenrechte kommen.
Die Rechtslage in der Schweiz
Seit 2000 verbietet die Schweizerische Bundesverfassung (BV) die Diskriminierung aufgrund von Behinderung. Gestützt darauf trat 2002 das Bundesgesetz über die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen (BehiG) in Kraft. Es beinhaltet ein Benachteiligungsverbot und gewisse Rahmenbedingungen, damit Menschen mit Behinderungen vermehrt am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können. Die beiden Rechtsgrundlagen waren wichtige Schritte. Die Praxis hat jedoch gezeigt, dass diese keine genügende Anspruchsgrundlage bilden, um die tatsächliche Gleichstellung von Menschen mit Behinderung sicherzustellen.
Im Jahr 2014 ist die Schweiz Vertragspartei der UNO-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderung (Behindertenrechtskonvention BRK) geworden. Die Konvention wurde 2006 von der Generalversammlung der UNO verabschiedet und ist 2008 in Kraft getreten. Bis heute wurde sie von 186 Staaten ratifiziert und gilt für diese bindend, inklusive der Schweiz. Die Konvention schafft keine Sonderrechte für Menschen mit Behinderungen. Ihr Ziel ist der volle und gleichberechtigte Genuss der Menschenrechte durch alle Menschen mit Behinderung.
Die Konvention verpflichtet die Vertragsstaaten:
- jede Form von Diskriminierungen zu verhindern und die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen zu gewährleisten,
- Hindernisse zu beheben, mit denen Menschen mit Behinderungen konfrontiert sind, und die nötigen Mittel bereitzustellen, um die Inklusion in die Gesellschaft zu gewährleisten,
- das Bewusstsein der gesamten Gesellschaft für die Situation von Menschen mit Behinderungen, für die Achtung ihrer Würde und Rechte, ihre Fähigkeiten und ihren Beitrag an der Gesellschaft zu schärfen.
Im Frühjahr 2022 hat der Ausschuss der Konvention die Schweiz erstmals geprüft und die ungenügende Umsetzung der Konvention in fast allen Lebensbereichen kritisiert. Insbesondere fehle die Anerkennung des Rechts von Menschen mit Behinderungen auf Gleichheit vor dem Gesetz. Der Ausschuss forderte die Schweiz auf, ihre Rechtsgrundlagen anzupassen sowie die Selbstbestimmung von Menschen mit Behinderungen und ihre unabhängige Teilnahme an der Gesellschaft sicherzustellen. Mehr zur Prüfung der Schweiz durch den BRK-Ausschuss
Die Rechte von Menschen mit Behinderungen sind Menschenrechte
Die Rechte von Menschen mit Behinderungen sind in unserem Land nur ungenügend geschützt. Eine zivilgesellschaftliche Allianz aus Menschenrechts- und Behindertenorganisationen lanciert deshalb die «Inklusions-Initiative» und fordert die rechtlichen Rahmenbedingungen auf Verfassungsebene, um die tatsächliche Gleichstellung und die selbstbestimmte Teilhabe von Menschen mit Behinderung an der Gesellschaft zu ermöglichen. Amnesty Schweiz unterstützt die Initiative, denn es ist für uns eine Selbstverständlichkeit, dass die Menschenrechte für alle gelten: Die Schweiz muss die Rechte von Menschen mit Behinderungen nicht nur garantieren, sondern auch umsetzen. Mehr zur Inklusionsinitiative