Am 8. März findet wiederum der Frauenrechtstag statt. Nehmen Sie daran teil?
Ja. Das Netzwerk avanti hat von alliance F eine Einladung für die Tagung im Bundeshaus erhalten. Auch eine Delegation der Inklusions-Initiative nimmt teil und ich wurde auch von dieser Seite angefragt. Ich werde mich im Plenum zwar kaum äussern können, aber die Sichtbarkeit von Frauen mit Behinderungen1 an diesem Anlass ist wichtig. Es sind mit mir drei Frauen mit Behinderungen als reguläre Teilnehmerinnen mit dabei.
Inwiefern erleben Frauen mit Behinderungen heutzutage eine doppelte Diskriminierung?
Es sind sehr verschiedene Lebensbereiche, in welchen diese doppelte Diskriminierung eine Rolle spielt. Nehmen wir das Beispiel des Zugangs zu Bildung und zum Arbeitsmarkt. Dort werden Mädchen mit Behinderungen immer noch in stereotype Berufe gedrängt – noch mehr als Mädchen ohne Behinderungen. Dies hat eine qualitative Studie belegt, die unser Verein mitgetragen hat. In Interviews mit Betroffenen wurde sichtbar, wie ihnen die freie Berufswahl erschwert wurde.
Beim Zugang zum Arbeitsmarkt sind Menschen mit Behinderungen generell eingeschränkt. Frauen mit Behinderungen sind im Vergleich zu Männern mit Behinderungen allerdings noch weniger erwerbstätig.
Woran liegt das? An den Arbeitsgeber*innen oder auch an den Institutionen, indem diese die Frauen mit Behinderungen nicht ausreichend fördern und begleiten?
Es ist beides. Die Unterstützung durch Schulen und Ausbildungsstätten ist extrem wichtig, das separative Schulsystem ist der verkehrte Ansatz, um Inklusion zu erreichen – gerade auch für die spätere Berufsstätigkeit. Das Selbstbewusstsein von Mädchen mit Behinderungen muss schon in der Ausbildung gestärkt werden, damit sie überhaupt selbstbestimmter und autonomer werden können. Hier muss ein Wertewandel bei den Institutionen und bei den Arbeitgeber*innen stattfinden.
Ist die Ursache, dass Frauen mit Behinderungen stärker von Diskriminierungen betroffen sind, in einem veralteten Frauenbild zu suchen?
Ich denke schon, dass stereotype Geschlechtervorstellungen sich verstärkt zeigen, wenn noch eine Behinderung dazukommt. Dem Paternalismus, der generell gegenüber Menschen mit Behinderungen besteht, sind Frauen mit Behinderungen doppelt ausgesetzt.
Frauen mit Behinderungen sind auch von sexualisierter Gewalt noch stärker betroffen als Frauen ohne Behinderungen.
Das Netzwerk avanti wie auch Amnesty International haben sich in den letzten Jahren in einer breiten Koalition für das neue Sexualstrafrecht eingesetzt. Wir haben zwar nicht die Nur-Ja-heisst-Ja-Lösung durchgebracht, aber immerhin die Nein-heisst-Nein-Variante. Wie wichtig ist dieser Erfolg für Frauen mit Behinderungen?
Es ist wichtig, dass wir nun eine klarere Regelung haben, weil die Gefahr von Übergriffen bei Frauen mit Behinderung gross ist. Auf der anderen Seite ist es aber auch problematisch, wenn Frauen mit Behinderungen als besonders schutzbedürftig definiert werden. Das kann nämlich dazu führen, dass ihre Selbstbestimmung wiederum beschränkt wird: Man glaubt, sie beschützen zu müssen, was dazu führt, dass andere über ihre Sexualität bestimmen. Vor lauter Schutzgedanken darf die Selbstbestimmung nicht verloren gehen.
Ausserdem besteht das Problem, dass Schutzangebote wie beispielsweise Frauenhäuser oft nicht barrierefrei zugänglich sind.
Im Bereich der sexuellen Selbstbestimmung muss ich auf die reproduktiven Rechte der Frauen mit Behinderungen zu sprechen kommen. Die Schweiz kennt nämlich noch immer einen Artikel im Sterilisationsgesetz, der eine Zwangssterilisation von sogenannt Urteilunfähigen weiterhin erlaubt, auch ohne ihre Einwilligung!
Woran liegt es Ihrer Meinung nach, dass wir da gesellschaftlich nicht weiter sind? Die rechtlichen und gesetzlichen Vorgaben für die Gleichberechtigung und Gleichstellung wären ja vorhanden.
Dieses Zusammenspiel von Mehrfachdiskriminierung aufgrund des Geschlechts ist erkannt; die Uno- Behindertenrechtskonvention hebt klar hervor, dass die Staaten Sorge tragen müssen, dass der besonderen Situation von Frauen mit Behinderungen Rechnung getragen wird. In der Schweiz wäre mit dem Behinderten-Gleichstellungsgesetz die gesetzliche Grundlage also da. Aber es fehlt an der Umsetzung durch griffige Gesetze, die verbindlich sind und aus denen sich konkrete Rechte und Ansprüche ableiten lassen.
Generell ist die Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen in der Schweiz noch immer massiv im Rückstand, wie ja auch die immer noch nicht erreichte Barrierefreiheit im öffentlichen Verkehr gerade wieder gezeigt hat.
Es fehlt also der Druck auf die zuständigen Behörden, Gemeinden und Institutionen?
Es gibt eben keine vom Bund vorgegebene Strategie oder verbindliche Vorgaben für die Kantone und Gemeinde. Es liegt in deren Verantwortung, die Behindertenrechtskonvention umzusetzen – daher ist die Situation von Kanton zu Kanton verschieden, und bei den Gemeinden erst recht.
Das Behindertengleichstellungsgesetz bietet ausserdem wenig Schutz vor Diskriminierung gegenüber Privaten. Es ist sehr schwierig bis unmöglich, eine Klage einzureichen, denn es müsste eine sehr starke Diskriminierung aufgezeigt werden können. Und wegen der Prozesskosten können praktisch nur die grossen Verbände vor Gericht gehen.
Im Bereich des Zugangs zum Arbeitsmarkt ist der Bund der einzige Arbeitgeber, der verpflichtet ist, Massnahmen zu treffen, damit Menschen mit Behinderungen in der Bundesverwaltung arbeiten können. Für private Arbeitgeber*innen ist dies nicht zwingend vorgesehen.
Das führt insgesamt dazu, dass es sich bei den Rechten von Menschen mit Behinderungen somit fast nur um «Empfehlungen» oder «wünschenswerte Zustände» handelt..
Sie haben gesagt, das Bewusstsein für die Anliegen von Frauen mit Behinderungen sei gewachsen. Wo sehen Sie Fortschritte?
In Bezug auf die besondere Situation der Frauen mit Behinderungen sind die besonderen Bedürfnisse zwar bekannt. In Kantonen, die sich mit der Umsetzung der Istanbul-Konvention befassen, werden die Anliegen von Frauen mit Behinderungen offenbar einbezogen. So erhalten wir vom Netzwerk avanti auch Anfragen für Zusammenarbeit bei der Umsetzung gewisser Massnahmen.
Die Sichtbarkeit von Menschen mit Behinderungen nimmt zu; wir haben jetzt drei Nationalräte mit Behinderungen – allerdings sind alles Männer.
Sie selbst leben mit einer Sehbehinderung. Welchen Hürden begegnen Sie im Alltag?
Im Alltag fällt mir besonders auf, dass die digitale Barrierefreiheit leider nicht besteht. So können Webseiten oder Programme oft nicht oder nur teilweise benutzt werden. Auch die kulturellen Angebote sind nur beschränkt barrierefrei, so werden nur wenige Hörfilme und Theaterstücke mit Audiodeskription angeboten.
Und nicht zuletzt erlebe ich es als Mutter, dass Elternschaft mit Behinderung immer noch eine Ausnahmesituation ist – so zum Beispiel, weil ich an Elternabenden oft die einzige Person mit Behinderung bin. Da gibt es Berührungsängste und es wird mir oft mit Unsicherheit begegnet. Menschen mit Behinderungen sind statistisch gesehen häufiger kinderlos. Elternschaft mit Behinderung ist immer noch ein Bereich, in dem Handlungsbedarf besteht.
Haben Sie persönlich unangenehme Situationen als Frau erlebt aufgrund ihrer Behinderung? Situationen, die ein Mann mit Behinderung so nicht erlebt hätte?
Seit ich mit einem Blindenstock oder mit dem Hund unterwegs bin und somit als Mensch mit Behinderung erkennbar bin, fällt mir auf, dass ich öfter unerwünscht angesprochen werde. Oder dass Personen Kommentare abgeben. Es ist vor allem ein Mangel an Distanz und Respekt, der eventuell Männern gegenüber eher gewahrt wird.
Wie gehen Sie damit um?
Man – oder eben frau – legt sich dann gewisse Strategien zu. Eventuell auch eine gewisse Unnahbarkeit.
Sie sind auch im Komitee der Inklusions-Initiative aktiv. Wo sehen Sie Chancen für Frauen mit Behinderungen durch die politische Debatte, die diese Initiative auslöst?
Wenn die Initiative hoffentlich angenommen wird, dann sollte die tatsächliche Gleichstellung von Menschen mit Behinderungen einen Schub erhalten. Im Bereich Ausbildung würden Frauen von einer Abschaffung des separativen Schulsystems bestimmt profitieren. Mehr Chancengleichheit müsste es auch im Zugang zum Arbeitsmarkt geben, wenn es verbindliche Vorgaben für die Arbeitgeber*innen gäbe.
Davon würden alle Menschen mit Behinderungen profitieren, aber da Frauen wie gesagt noch weniger Zugang haben als Männer, wäre die Annahme der Inklusions-Initiative für Frauen mit Behinderungen eine besondere Chance.
Wird im Falle einer Annahme der Initiative das Netzwerk avanti bei der Ausgestaltung der Umsetzungsgesetze dabei sein und die besonderen Anliegen der Frauen mit Behinderungen einbringen können?
Unser Verein ist sehr klein, da fehlen uns die Ressourcen. Aber es wäre generell sehr wichtig, dass Menschen mit Behinderungen in der Ausarbeitung von Gesetzen und Verordnungen dabei sind. Da sehe ich ein gewisses Risiko, denn in den grossen Verbänden sind oft nicht-Betroffene in den Führungspositionen tätig. Es wird eine Herausforderung werden, dass Betroffene angemessen einbezogen werden. Gerade auch Frauen.
Wie können nicht-Betroffene und Organisationen wie Amnesty Sie dabei unterstützen?
Wenn Organisationen sich für Themen wie Inklusion, sich generell für Menschen mit Behinderung und speziell für Frauen mit Behinderung engagieren, dann freut mich das immer sehr. Ich hatte auch schon Kontakt mit einer Aktivist*innengruppe, die sich dafür interessierte, wie sie mehr barrierefreie Veranstaltungen organisieren könnte.
Das ist die wichtigste Voraussetzung: Bewusstsein für die Teilhabe von Menschen mit Behinderungen und für die Umsetzung – denn das ist gar nicht so schwer.
[1] Wenn wir in diesem Interview wir von Frauen sprechen, betrifft dies alle Personen, die sich als Frau definieren.