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INKLUSIONS-INITIATIVE / PORTRÄTS Ein Pianist geht seinen Weg

Von Kim Sandy Pittet, 17. Februar 2024
Durch einen Militärunfall und den Verlust des Augenlichts findet Alexander Wyssmann zum Klavier. Im Gespräch erzählt der Berner Jazzpianist, wie er trotz Hindernissen seiner Leidenschaft zur Musik treu blieb.

Das Klavier hat es ihm von allen Instrumenten am meisten angetan. Alexander Wyssmann kann sich kaum kurzhalten, wenn es um seine grösste Leidenschaft geht, die ihn zu einem bekannten Pianisten machte. Doch zunächst schien er ganz andere Wege einzuschlagen. Aufgewachsen ist Wyssmann in einer vierköpfigen Familie. Während sein Bruder immer als der Intellektuelle gilt, packt Alexander in der Baufirma seines Vaters mit an. «Ich habe diesen Job sehr gerne gemacht und für mich war damals klar, dass ich irgendwann die Firma meines Vaters übernehmen werde», erklärt er. Doch ein Unfall im Militärdienst macht diese Pläne zunichte. Bei einer zu früh ausgelösten Sprengung verliert er den rechten Mittelfinger und das Augenlicht. «Die Sehkraft auf dem linken Auge war sofort weg, das andere Auge versuchten die Ärzt*innen mit verschiedenen Operationen zu retten.» Lange Zeit verbringt er im Spital − in der Hoffnung, es werde wieder besser. Bis der 20-Jährige sich eingestehen muss, dass er keine Kraft mehr für all die Untersuchungen und Eingriffe hat: «Ich merkte plötzlich, dass es vielleicht gar keinen Sinn macht, herumzudoktern».

Den Flügel im Visier

So beschäftigt sich Wyssmann lieber mit der Zukunft. Er entscheidet sich für das Lehrerseminar am Campus Muristalden, um anschliessend ein Studium beginnen zu können. Auch die Freizeit muss er neu gestalten und entwickelt sich dabei zum Musikliebhaber.

Im Campus Muristalden gibt es ein Klavier. «Meine Klassenkamerad*innen und ich haben jeweils nach dem Unterricht stundenlang musiziert und improvisiert», sagt er. Nur wenig später fängt der angehende Lehrer an, Klavierunterricht zu nehmen. Damals weiss er noch nicht, dass er einst als Pianist auf den Schweizer Bühnen spielen wird. Eines ist ihm aber schon damals klar: «Ich wollte mich nie durch das fehlende Augenlicht in meiner Selbstbestimmung und Freiheit einschränken lassen.»

So zögert er nicht lange, das Geld, das er eigentlich für ein Auto angespart hatte, in ein Piano zu investieren. «Ich schnappte mir diejenige Schulkollegin, die am besten Klavier spielte und gemeinsam gingen wir nach Ostermundigen in einen Musikladen. Dort habe ich mir einen Bösendorfer Flügel gekauft. Das teuerste Klavier, das es da gab.»

Wyssmann erinnert sich, wie er im ersten Jahr seiner Klavierstunden am Campus Muristalden von einer Lehrperson unterstützt wird. Doch im Folgejahr überfordert der Lehrer seinen Schüler: «Ich sagte, dass ich Jazz spielen will, doch er forderte von mir, dass ich modale Musikstücke improvisiere. Das verlangt aber ein grosses Wissen».

Während der inzwischen 54-jährige Wyssmann seine Geschichte erzählt, spielt er aus Klavierstücken, um zu unterstreichen, wie anspruchsvoll diese sind. Gelernt habe er sie, indem er die Melodien während den Klavierstunden auf Kassette aufnahm und anschliessend zuhause abhörte. Die Blinden-Notenschrift lernte er erst später.

Ein Hürdenlauf für Seele und Geist

Nach Abschluss des Lehrerseminars schreibt sich Wyssmann im Jahr 1997 in die Jazzschule Bern ein. Seine Behinderung wird nie zum Thema gemacht, auch dann nicht, als er später an die Haute École de Musique in Lausanne wechselt. Wo ihm als Musiker die Gleichbehandlung eine Chance für eine fundierte Ausbildung bietet, stellt sie ihm aber auch eine Falle: In einer Prüfung müssen die Student*innen ein Harmoniemuster improvisieren. Da dieses ab Blatt gespielt werden muss, gewährt man Wyssmann 20 Minuten Vorlauf, um drei Stücke auswendig zu lernen. Eine Zeitspanne, die nicht einmal für ein Stück gereicht hätte. So fliegt er durch die Prüfung, ohne sein Talent unter Beweis stellen zu können. «Ich musste ein halbes Jahr später nochmals zur Prüfung antreten, nur weil ich davor nicht die Rahmenbedingungen erhielt, die ich mit meiner Behinderung benötige», erklärt er. Dabei ist ein solcher Nachteilsausgleich an Schulen sogar rechtlich verankert.

Solche Barrieren bewirkten, dass Wyssmann ein Jahr des Studiums aussetzt. «In dieser Auszeit war ich stark mit mir selbst beschäftigt», erinnert er sich. Er habe gemerkt, dass er damals noch dachte, Menschen mit Behinderungen seien nicht gleichwertig wie Menschen ohne Behinderungen. «Das glaubte ich, weil meine Familie es signalisierte – aber ohne es auszusprechen. Sie wiederum haben das auch nur gedacht, weil sie es so in ihrer Familie gelernt haben.»

Nach einem Jahr Pause kehrt Wyssmann nach Lausanne zurück und schliesst sein Studium ab. Während den Studienjahren hätte er sich vor allem eine bessere Begleitung gewünscht – so wie er sie von der Blindenschule Zollikofen während der Zeit am Campus Muristalden erhalten hatte. «Wir mussten zuerst gemeinsam herausfinden, welchen Unterstützungsbedarf ich habe und welche Lösung sich am besten eignet.» So haben teils kleine Veränderungen Hindernisse mindern können. Lehrpersonen mussten beispielsweise lediglich verbalisieren, was sie an die Tafel schrieben – das habe bereits gereicht. «Mit grossen Erwartungen ging ich an die Jazzschule und musste merken, dass dort ein anderer Wind weht», sagt Wyssmann und schmunzelt leicht wehmütig.

Barrieren sind auch heute noch vorhanden

Von der Musik leben kann der Pianist und Komponist jedoch nicht – sie ist und bleibt seine Passion in der Freizeit. Beruflich ist er heute als Heilpädagoge an der Blindenschule Zollikofen tätig, wo er im letzten Jahr die Schulleitung übernommen hat. Die Barrierefreiheit sei auch in der Blindenschule nicht vollständig gewährleistet, sagt er. So seien neu eingeführte Tools oder Webprogramme für ihn teils nur erschwert nutzbar. «Ich glaube, die Programmierer sehen die Barrierefreiheit als lästigen Zusatzaufwand. Dabei müsste man einfach nach Lösungen suchen, diese vereinheitlichen und sie als Standard etablieren.» Dies erhoffe er sich durch die Inklusion-Initiative, denn sobald Regeln gesetzlich vorgeschrieben werden, würde sich auch ein Land wie die Schweiz daran halten. «Wir alle haben das Recht auf Zugang zu Bildung und Arbeit, wir alle können inmitten einer Gesellschaft lernen und arbeiten. Es ist lediglich eine Frage des Rahmens, in den wir eingebettet werden.»