Es war im Jahr 2011 als Marius Schudel frühmorgens mit starken Kopfschmerzen erwachte. Nachdem er das Bewusstsein verlor, rief seine Freundin den Rettungsdienst. Marius wurde von Biel ins Inselspital nach Bern geflogen und drei Stunden später notoperiert. Aus dem Koma erwacht, stellte Marius fest, dass seine linke Körperhälfte gelähmt war. Die Hirnblutung war aus dem Nichts gekommen. Sie hat sein Leben auf den Kopf gestellt.
Marius’ Tochter war damals neun Monate alt. Marius und seine Freundin standen beide kurz vor Abschluss des Studiums. Sie hatte Pläne: Nach Beendigung der Ausbildung wollten Marius ein Landschaftsarchitektur-Büro eröffnen. Und das Paar wünschten sich ein zweites Kind. Doch diese Pläne mussten erst einmal begraben werden.
Das Leben vorher und nachher zu vergleichen, mache die Situation nicht einfacher, sagt Marius. «Ich musste mein altes Ich wegschieben und ein neues aufbauen.» Anfangs habe er sich kaputt und wertlos gefühlt: «Man kann nicht arbeiten und langweilt sich.» Und dann muss man sich auch stets noch erklären: Bei einem jungem Mann wie ihm hätten die Leute oft ein waghalsiges Verhalten und einen selbstverschuldeten Unfall als Ursache der Behinderung vermutet. Zu betonen, dass ihn kein Verschulden trifft, ist Marius wichtig.
Sein soziales Umfeld habe sich damals stark verändert und sei grösstenteils weggebrochen. «Die Leute wissen nicht, wie sie reagieren sollen und haben Angst, etwas falsch zu machen», sagt Marius. «Die alten Freunde sehe ich viel seltener. Ihr eigenes Leben beansprucht sie, sie haben eine Arbeit und Kinder.» Neue Kontakte zu finden, sei schwer. Marius gehe immer wieder in die gleichen Restaurants und Kaffees. «Da kennt man sich mit der Zeit», sagt er und schmunzelt, «meine Hauptkontakte sind jedoch die Assistenz-Leute und die Spitex.»
Langes Warten auf Unterstützung
Es vergingen ganze drei Jahre, bis er den ersten finanziellen Beitrag von der IV erhielt.
Ich kannte Marius bereits als Jugendfreund meines Bruders. Dass eine Hirnblutung sein Leben so unerwartet veränderte, machte ihm und den Menschen in seinem Umfeld auf harte Weise deutlich, wie unzureichend die staatliche Vorsorge organisiert ist: Marius war eindeutig unterstützungsberechtigt, dennoch vergingen ganze drei Jahre, bis er den ersten finanziellen Beitrag von der IV erhielt. Die Mittel der jungen Familie waren durch die finanzielle Belastung längst erschöpft, so dass er gezwungen war, auf das Erbe seines Vaters und die finanzielle Unterstützung seiner Mutter zurückzugreifen. «Dieses Geld werde ich nie zurückbezahlen können», sagt Marius und fügt kopfschüttelnd hinzu: «Dass wir uns verschulden oder unser Erspartes aufbrauchen müssen, das wir im Alter sehr gut gebrauchen könnten, ist unfair. Doch wie wäre die Situation erst für Menschen, die nicht auf ein finanzielles Polster in der Familie zurückgreifen können?»
Als die IV erfuhr, dass die Spitex Marius morgens beim Anziehen hilft, wurden seine Assistenzleistungen von 14 auf 9 Stunden pro Woche gekürzt – zuvor bezahlte Stunden, die Marius die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglicht hatten. «Die IV macht Abzüge, wo es nur geht. Doch umgekehrt informiert sie dich nicht darüber, auf was du Anspruch hättest. Du musst dich selbst durch alle Paragrafen arbeiten.» Dass er gewisse Assistenzleistungen hätte beziehen können, erfuhr er zu spät. Sie nachträglich zu beantragen, war nicht möglich. Marius fürchtet sich mittlerweile vor diesen Formalitäten und vor möglichen Fehlern, die ihn schliesslich um seine Rechte bringen könnten. Wenn er auf ein Amt gehe, nehme er daher seine Ex-Freundin mit. So werde er ernster genommen. «Es wäre nötig, dass die Ämter viel besser darüber informieren, was einem zusteht. Die Organisation Pro-Infirmis bietet zwar Beratungen an. Doch eigentlich ist das nicht die Aufgabe einer spendenfinanzierten Organisation.»
Dass er sein Studium nicht würde abschliessen können, habe er eher schnell akzeptiert; anderes sei schwieriger gewesen: «Ich wollte nie ein Vater im Rollstuhl sein», sagt er. Deshalb habe er lange versucht, mit Krücken zu gehen. Als sich die Stürze jedoch häuften, legten die Ärzt*innen und sein Umfeld Marius nahe, in eine rollstuhlgängige Wohnung zu ziehen. «Für mich war das ein Rückschritt. Ich bin träge geworden. Doch die Grundangst, dass etwas passieren könnte, wurde einfach zu gross.»
Eine entsprechende Wohnung zu finden, war sehr herausfordernd. Zahlreiche Vermieter*innen priesen Wohnungen als rollstuhlgängig an, obwohl sie unüberwindbare Hindernisse aufwiesen. Schliesslich zog Marius in eine barrierefreie Siedlung. Seine Wohnung ist mit Zeichnungen, Fotos und Geschenken seiner Tochter geschmückt. Von den CHF 2700.–, die ihm monatlich zur Verfügung stehen, gehen seit dem Umzug jedoch 1700.– für die Miete der barrierefreien Wohnung drauf.
20 Zentimeter verhindern die Teilhabe
«Mit dem Elektrorollstuhl bin ich sehr frei. Ich kann in die Natur gehen und Ausflüge mit meiner Tochter machen.» Sehr viel Zeit und Planung ist jedoch nötig, wenn Marius auf den öffentlichen Verkehr angewiesen ist. Fahrten mit dem Elektrorollstuhl müssen bei den Betreiber*innen des ÖV rechtzeitig angemeldet und der Zugang im Detail abgeklärt werden. Und selbst dann bleibt vieles unvorhersehbar, sehr umständlich oder gar unmöglich.
Am Hochzeitsfest meines Bruders traf ich Marius nach langer Zeit wieder. Für die Anreise zum Fest hatte er sich bei den SBB mehrmals telefonisch und online versichern lassen, dass der Bahnhof in Frinvilier rollstuhlgängig sei. Als er den Zug mit dem Rollstuhl verlassen wollte, trennte ihn jedoch ein 20cm hoher Absatz vom Bahnsteig. Erst bei der übernächsten Haltestelle konnte er aussteigen. Marius rief das nächste Rollstuhltaxi in Biel an, wurde jedoch abgewiesen. Schliesslich holte ihn die Mutter eines Hochzeitsgastes ab und fuhr ihn zum Fest. Den teuren Elektrorollstuhl musste Marius am Bahnhof zurücklassen und den Abend auf einem unbequemen Stuhl verbringen. Was ihn aber viel mehr traf, ist die Tatsache, dass er wegen der Verspätung das Ja-Wort seines Freundes verpasst hatte.
«Neben mir wohnen vier weitere Personen hier, die im Rollstuhl unterwegs sind. Doch die neue Bushaltestelle direkt vor dem Haus ist nicht barrierefrei!»
Im Jahr 2004 ist das Behindertengleichstellungsgesetz in Kraft getreten. Es forderte von den Betreiber*innen des Öffentlichen Verkehrs, die Fahrzeuge und Haltestellen bis zum Jahr 2024 barrierefrei zu gestalten. Doch dies wurde ungenügend umgesetzt: Nur 60 Prozent der Bahnhöfe in der Schweiz sind heute Rollstuhlgängig. Dass die Frist von 20 Jahren nicht genutzt wurde, empört Marius: «Diese Siedlung wurde 2017 gebaut. Neben mir wohnen vier weitere Personen hier, die im Rollstuhl unterwegs sind. Doch die neue Bushaltestelle direkt vor dem Haus ist nicht barrierefrei!» Marius kommt mit dem Elektrorollstuhl zwar problemlos die Rampe rauf und runter, «doch sie dürfen uns aus Versicherungsgründen weder ein noch aussteigen lassen» erklärt er. Marius ist auf den Goodwill der Chauffeur*innen angewiesen: «Die meisten sind nett und nehmen uns auf eigenes Risiko dennoch mit. Doch es gibt Fahrer, die uns bei Schnee und Regen stehen lassen.» Diese Vorfälle, die zum Teil in Diskussionen und Streit enden, beschäftigen ihn sehr. Seine Bewegungsfreiheit wird eingeschränkt, doch weder die Stadt noch die Verkehrsvertriebe fühlen sich verantwortlich.
Neuerdings sind die Züge der SBB im Online-Fahrplan mit dem Rollstuhlsymbol versehen und manchmal mit einem Text wie «Einsteigen mit Hilfe» ergänzt. Das sei ein grosser Fortschritt, sagt Marius. Doch die Angaben seien viel zu unspezifisch und treffen zum Teil nur für gewisse Rollstuhl-Typen zu. «Es wäre wichtig, dass Betroffene die Angaben über die Zugänglichkeit für solche Tools erstellen. Denn nur sie wissen, welche spezifischen Informationen relevant wären», sagt Marius und fügt hinzu, dass er eine solche Plattform gerne mit aufbauen würde.
Marius möchte sich einbringen und etwas beitragen; auch auf dem Arbeitsmarkt. «Es fördert mein Selbstvertrauen, mich zu engagieren», sagt er. Einiges kann er nicht mehr allein: «Ich bin weniger belastbar. Ich vergesse schneller und mein Blickfeld ist links unten eingeschränkt», sagt er. «Es bräuchte mehr Angebote sowie mehr Anerkennung und Respekt für die individuellen Fähigkeiten von Menschen mit Behinderungen.» Potenzielle Arbeitgeber*innen müssten deren Grenzen berücksichtigen, vor allem aber auch die Stärken erkennen.
Marius hätte mit seinem Fachwissen, seinem Sinn für Ästhetik, der engagierten und humorvollen Art und mit seinem Durchhaltewillen Vieles beizutragen, das auch auf dem Arbeitsmarkt Anklang finden müsste. «Ich wünschte mir, dass mehr Arbeitgeber*innen es einfach mal ausprobieren und Personen mit Behinderungen mehr Einstiegschancen in den Arbeitsmarkt bieten würden. Wenn es nicht klappt, klappt es halt nicht. Aber versuchen möchte ich es», sagt Marius.
Generell seien die Leute sehr hilfsbereit: «Sie kommen sofort, wenn man ein Problem hat; sei es vor dem Migros-Regal oder beim Einsteigen in den Bus», sagt Marius. Er habe aber zuerst lernen müssen, Hilfe anzunehmen. Wie auch, sie abzulehnen. «Mein Standardsatz ist: Nein, nein, es geht, einfach langsam.» Mittlerweile gesteht er sich die Zeit zu, die er braucht und kann das auch von anderen einfordern. «Mitleid und Bedauern will ich nicht – brauche ich nicht.», sagt Marius. Er fühle sich dadurch herabgesetzt.
Nach der Hirnblutung sei die Frage, warum es genau ihn getroffen habe, nur einmal, während der Reha aufgekommen. Er habe zwei Möglichkeiten gesehen: Depressiv werden oder den Humor behalten. «Ich bin stolz, dass ich den zweiten Weg eingeschlagen habe. Geschafft habe ich es dank meiner Tochter.»
Marius wünscht sich, dass die Schweiz die Gleichstellung und Integration von Menschen mit Behinderungen nicht länger vernachlässigt. Deshalb unterstützt er die Inklusions-Initiative seit Beginn. «Ich bin überglücklich und dankbar dafür, dass es diese Initiative gibt und dass sich Leute dafür einsetzen», sagt er. «Ich wette, dass die Unterschriften zusammen kommen und die Initiative angenommen wird. Und dass wir dadurch den nötigen Druck aufbauen können. Davon würden alle profitieren.» Seine Geschichte zeige auf, dass Behinderungen uns alle jederzeit betreffen können. Doch wenn wir die Würde und die Rechte der Menschen ins Zentrum rücken, kann jede Person einen wertvollen Beitrag zu einer inklusiven Gesellschaft leisten.