Mutter und Tochter haben einen langen Weg hinter sich. © zVg
Mutter und Tochter haben einen langen Weg hinter sich. © zVg

Inklusions-Initiative / Porträts Erika: 14 Jahre Kampf für die Gesundheit ihrer Tochter

17. Januar 2024
Von der Schweiz nach Mexiko und zurück – eine Reise, die von Hoffnung, Enttäuschungen und einer lebensverändernden Entscheidung geprägt ist. Erika Bernasconi erzählt, wie sie den Mut fand, für die Gesundheit ihrer Tochter eigenständig gegen die Hürden im schweizerischen Gesundheitssystem anzukämpfen.

«Ich bin stolz darauf, dass ich eine Entscheidung getroffen habe, die dem Wohl meiner geliebten Tochter diente», sagt Erika Bernasconi, während sie ein Fazit über die letzten 14 Jahre zieht. Diese waren geprägt von einer steten Ungewissheit, vom Ringen um Anerkennung im schweizerischen Gesundheitssystem und ihrem unermüdlichen Einsatz für die Gesundheit und die Rechte ihrer Tochter.

Sie erinnert sich an das Jahr 2008 zurück, als sie und ihr Mann ihr erstes Kind erwarteten. Es ist, als wäre es erst gestern gewesen: Kaum auf der Welt, stellen sie fest, dass ihre Tochter Anna ungewöhnlich klein war und aufgrund der geringen Saugkraft nicht von der Brust trinken konnte. «Die Ärzte sagten mir, dass unser Kind aufgrund meiner mexikanischen Herkunft kleiner sei und dass es Babys gebe, die in ihrer Entwicklung länger brauchen», sagt Erika. Als frischgebackene Mutter vertraut sie den Ärzt*innen - auch, als diese den ungelenken Gang ihrer Tochter den Windeln zuschreiben. Oder als sie die Schwierigkeiten der Kleinen, den Kopf zu drehen, nur «weiterhin beobachten» wollten.

Erkenntnisse mit Nachgeschmack

Als gebürtige Mexikanerin zieht es Erika zurück in ihre Heimat, die Familie migriert im Jahr 2010 nach Mexiko. Ein Besuch des lokalen Kinderarztes erweist sich als plötzliche Kehrtwende: «Nach Abklärungen haben wir festgestellt, dass Anna ein kleines Loch im Gaumen, eine Submükose-Gaumenspalte, hat.» Endlich werden auch Wachstum und Beweglichkeit genauer untersucht. So erfährt Erika, dass Annas Symptome häufig gemeinsam auftreten und als Syndrom bekannt sind. Die Ursache bleibt jedoch noch unklar. Dieser Moment hat sich in Erikas Erinnerungen eingebrannt: «Die Schweiz gilt im medizinischen Bereich als sehr fortschrittliches Land. Trotzdem wurde das Syndrom erst in Mexiko festgestellt. Das war katastrophal, weil die Konsequenzen dieser Verspätung so schlimm sind. Für mich als Mutter war das furchtbar», erklärt sie. Deshalb sei sie aber auch froh, dass die Familie nach Mexiko ausgewandert ist. Ständig fragt sie sich, nach wie vielen Jahren das Syndrom in der Schweiz erkannt worden wäre.

Kaum zurück in der Schweiz, müssen sich die Eltern durch eine Flut von Formularen kämpfen.

Aufgrund der etablierten Gesundheitsversorgung in der Schweiz entscheidet sich die junge Familie dennoch, nach rund zwei Jahren in Mexiko ihre Koffer zu packen − in der Hoffnung, Anna werde in der Schweiz besser untersucht und behandelt. Doch kaum zurück, müssen sie sich durch eine Flut von Formularen kämpfen. Die Zusatzversicherung der Krankenkasse nimmt Menschen mit Behinderungen wie Anna nachträglich nicht mehr auf, obwohl sie vor dem Aufenthalt in Mexiko und somit vor der Bestätigung des Syndroms bereits versichert war. Für die Anmeldung bei der Invalidenversicherung (IV) benötigt die Familie zuerst eine genaue Diagnose, um die Geburtsgebrechen-Ziffer angeben zu können. «Mein Mann recherchierte stundenlag im Internet, um eine mögliche Diagnose zu finden». Mit unermüdlicher Ausdauer, aber auch mit (Teil-)Erfolg.

Wer sucht, der findet

Rund zehn Jahre später stösst Erika in einem Elternforum auf einen US-amerikanischen Arzt, der Kinder mit ähnlichen Symptomen behandelt. Als die Schweizer Ärzt*innen eine Kooperation mit Dr. Feldmann belächeln und schliesslich ablehnen, beschliesst Erika kurzerhand, Anna per Videotermin untersuchen zu lassen. «Bei ihm fühlten wir uns endlich verstanden, denn er konnte uns die Krankheit erklären. Dr. Feldmann hat uns einen spezifischen Gentest empfohlen», erzählt Erika. Im Januar wird der Test gemacht und im Juni 2022 erhält die Familie dadurch endlich Gewissheit: Anna hat eine besondere Variante der Arthogryposis multiplex congenita. Dabei kommt es im Mutterleib zu einer Mutation der Aminosäure, die unter anderem dazu führt, dass die Gelenke steif werden.

Weder die IV, noch die Krankenkasse übernehmen die Kosten für eine Operation im Ausland.

Nun kann eine ganzheitliche Behandlung stattfinden. Doch die behandelnden Ärzt*innen in Basel betonen in einer Stellungnahme an die IV, dass vorerst weitere Tests gemacht werden müssten, bevor eine Operation in der Schweiz durchgeführt werden kann. Dr. Feldmann hingegen rät der Familie dringend zu einer Operation der Wirbelsäule, da Annas Rückenmark von Verwachsungen umgeben sei, ein sogenannter Tethered Cord. «Anna hatte so viele Schmerzen, dass sie nicht mehr schlafen oder zur Schule gehen konnte. Sie hatte kein Leben mehr, und auch wir als Familie nicht», sagt Erika. Auch wollte sie keine Zeit mehr versäumen. «Noch länger warten? Ich habe schon 13 Jahre gewartet.» Also habe sie ihrem Instinkt vertraut. «Ich habe einen weiteren spezialisierten Arzt in Mexiko angerufen und ihm die Unterlagen von Anna zugesendet. Auch er hat mir die Operation empfohlen.» Weder die IV, noch die Krankenkasse übernehmen die Kosten für eine Operation im Ausland, da die Operation nach diversen Tests auch in der Schweiz hätte durchgeführt werden können. Aber dank einer Spende der reformierten Kirche und den Sparnissen der Eltern kann die damals vierzehnjährige Anna bereits im August 2022 in Mexiko operiert werden, denn die Zeit drängte.

Bis ans Limit für die Lebensqualität

Für Annas Behandlung reisen Mutter und Tochter für ein Jahr ins Ausland, Ehemann und Sohn muss Erika zurücklassen. So auch ihren Job. «Ich musste meine Teilzeitstelle kündigen, obwohl ich stolz auf meine Arbeit war. Denn es ist schwierig, als Migrantin  eine Stelle zu finden.» Vor allem für Anna sei es ein Einschnitt gewesen. Sie konnte die Schule nicht mehr besuchen und ihre Kolleginnen nicht mehr sehen. «Ihr ganzes Leben stand auf dem Kopf!»

Wenige Monate später folgt eine weitere Operation an den Kniekehlen in Warschau in einer angegliederten Filiale des US-Instituts, an der Dr. Feldmann ebenfalls behandelt. Die Kosten der Operation: Rund 150 000 Schweizer Franken. Dass Erika ihrer Tochter die Operation ermöglichen will, ist ihr von Beginn an klar: «Wir haben alles, was wir hatten, herausgeholt. Alle Sparkonti und Ersparnisse sowie ein Darlehen von der Bank. Obwohl wir noch nicht das ganze Geld zusammen hatten, haben wir den Termin gebucht.» Dank eines Crowdfundings können die restlichen Kosten für die Operation und anschliessende Rehabilitation schliesslich gedeckt werden.

Gleichstellung als oberstes Gebot

Gelohnt hat sich das Prozedere allemal: «Anna kann wieder in die Schule. Sie kann kurze Strecken laufen. Sie kann Velo fahren und Freundschaften schliessen. Wir sehen, dass Anna glücklicher ist als vorher. Und das ist das, was bleibt.» Gemischte Gefühle habe sie aber trotzdem, wenn sie zurückblicke. Denn diese Geschichte zeigt deutlich: Der Staat hat hier seine Aufgabe, den Zugang zu Gesundheit zu gewährleisten, nicht wahrgenommen. Die Verletzung dieses Grundrechts hat zur Folge, dass Erika und ihre Familie ihr privates Vermögen investieren müssen. Nur so erhält Anna die Behandlung, die ihr zusteht.

«Niemand sollten um seine Rechte betteln müssen.» Erika Bernasconi

Ein System, dass für alle gleichermassen sorgt, fordert auch die Inklusions-Initiative, für die sich Erika engagiert. «Ich wünsche mir Gleichstellung für alle Personen; niemand sollten um seine Rechte betteln müssen. Menschen mit Behinderungen sollten unterstützt werden, ohne dass man ihnen Steine in den Weg legt.» Letztlich musste sie damals auf sich selbst vertrauen und mutig sein, meint Erika. «Ich glaube, dieser Mut ist einfach nur Liebe für mein Kind.»