Islam im Gespräch mit Kim Sandy Pittet.
Islam im Gespräch mit Kim Sandy Pittet.

Inklusions-Initiative / Porträts Mama im Spektrum: Eine Kollision von Grundrechten und Realität

Von Kim Pittet, 1. März 2024
Islam wollte eigentlich Familie und Karriere verbinden, wie viele junge Frauen. Doch sie erhält als Autistin kaum Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Die junge Frau gibt Einblick in den Alltag einer Mutter im autistischen Spektrum.

«Schon als Kind wusste ich, dass ich einmal Mutter werden will» sagt Islam. Damals habe sie jedoch kein klassisches Rollenbild angestrebt, sie habe Karriere und Familie miteinander vereinbaren wollen. Je älter Islam , desto mehr wird ihr klar, dass sie diesen Traum nicht verwirklichen kann.

Als sie in einer Kita arbeitet, eckt sie immer wieder bei den Eltern und den Vorgesetzten an. «Wäre unsere Gesellschaft damals schon aufgeklärter gewesen, hätte mein Chef vielleicht bemerkt, dass ich eine Behinderung habe», erklärt Islam. Erst Jahre später wird bei ihr Autismus diagnostiziert. Diese späte Diagnose bedeutet in ihrem Fall, dass der Abschluss einer Lehre im ersten Arbeitsmarkt nicht möglich ist, da ihr die Arbeit auf körperlicher und sozialer Ebene zu anstrengend ist.

«Im zweiten Arbeitsmarkt bin ich aber kognitiv unterfordert», sagt sie. Nach den Abklärungen der Invalidenversicherung (IV) erhält Islam eine vollständige Rente. Der Traum einer Karriere fällt ins Wasser, weil Islam dem Leistungsanspruch des ersten Arbeitsmarktes nicht gerecht werden kann.

Ein Ausnahmefall der Mutterschaft

Als Islam ihren heutigen Partner findet, kommt der Wunsch nach einem Kind auf. Während der Schwangerschaft will sie sich informieren und auch den Austausch zu anderen Müttern im Autismus-Spektrum suchen, doch sie findet weder Erfahrungsberichte zum Thema Mutterschaft mit Autismus noch Studien im Internet. Selbst bei Organisationen für Menschen im autistischen Spektrum ist die Mutterschaft kein Thema. Das hat sie aber nicht daran zweifeln lassen, dass sie die Aufgaben einer Mutter erfüllen kann, erklärt die 34-Jährige.
Im dritten Trimester der Schwangerschaft hat Islam eine Schwangerschaftsvergiftung und muss stationär ins Spital. «Da habe ich gemerkt, dass das Personal für Vieles noch nicht geschult ist. Ich musste den Pflegefachleuten im Spital erklären, wie sie mit mir als Autistin umgehen sollen», erzählt sie. Da sie in der Mitte des Autismus-Spektrums sei, könne sie durchaus rasch die richtigen Worte finden und sich gut erklären. Für Autistinnen mit einem höheren oder niedrigen Spektrum sei dies hingegen ein Problem. Im Spital wünscht sich Islam, dass das Personal mehr Verständnis aufbringt, ihr zuhört und auf sie eingeht.

Aufgrund der Vergiftung wird der Gesundheitszustand von Islam und ihrem Baby täglich neu beurteilt. Schliesslich kommt ihre Tochter eineinhalb Monate vor dem Termin per Kaiserschnitt zur Welt. Islam fehlte der nötige Raum, um sich mental auf die Geburt vorzubereiten. Dieser Umstand sowie die während des Kaiserschnitts aufgetretenen Komplikationen zehren an ihren Kräften. Sie fällt in eine postnatale Depression.

«Ich suchte mit dem Personal nach Lösungen, damit ich dennoch täglich meine Tochter sehen konnte», erzählt Islam. Sie unterstreicht die herausfordernde Situation mit einem Beispiel: «Ich erklärte, dass ich aufgrund meiner Behinderung und körperlichen Verfassung nicht im Spital übernachten kann, da ich einen Rückzugsort benötige. Eine Fachperson meinte dann, ich müsse halt schon bereit sein, Opfer zu bringen.» So fühlte sie sich unverstanden, «wie eine Erbsenzählerin». Dabei sei eine Übernachtung in der Klinik für sie schlichtweg nicht möglich gewesen.

Unterstützungsangebote bringen die erhoffte Entlastung

Islam ist dankbar für die Unterstützung, die sie während dieser Zeit von ihrem Mann und ihrer Freundin Caroline bekommen hat. Denn aufgrund ihres Migrationshintergrundes sind weder Islams Familie noch die ihres Partners in der Nähe. Sobald Islam ihre Tochter nach Hause nehmen darf, beantragt sie den IV-Assistenzbeitrag. Dieser ermöglicht es Bezüger*innen einer Hilflosenentschädigung, die zuhause auf regelmässige Hilfe angewiesen sind, eine Person einzustellen, welche die erforderlichen Hilfeleistungen erbringt. Islams Antrag wird umgehend abgelehnt. Die Begründung: Islam sei zwar im Autismus-Spektrum, aber grundsätzlich sei sie selbstständig. Eine Einsprache ist innerhalb einer Frist zwar möglich, aufgrund der postnatalen Depression hat Islam jedoch nicht die Kraft dazu.
Die Kinderbetreuung allein zu bewältigen, ist für die junge Frau aber nicht möglich. Als Autistin nimmt Islam Dinge anders wahr und verarbeitet diese auch anders. Es ist für sie sehr herausfordernd, ihre Wahrnehmungen zu filtern. Gedankengänge, die bei neurotypischen Menschen automatisch ablaufen, muss sie gezielt anstossen. Das merke sie beispielsweise dann, wenn ihre Tochter einen Schreianfall hat, sagt Islam: «Ich bin so reizempfindlich, dass mein Unterbewusstsein diese lauten Geräusche automatisch ausblendet.» Dies habe eine längere Reaktionszeit zur Konsequenz und erschwere es ihr, die Bedürfnisse ihrer Tochter einzuordnen.
«Meine Hebamme hat mich dann mit der Elternberatung in Verbindung gesetzt, die als Unterstützung die Kita vorgeschlagen hat, damit ich mehr Rückzugszeiten habe» sagt Islam. Aufgrund der IV-Rente leistet die Stadt Bern einen finanziellen Beitrag, damit das Kleinkind fünfmal wöchentlich die Kita besuchen kann. «Die Hebamme hat mich lange begleitet und mich sorgfältig der Elternberatung übergeben. Da fühlte ich mich sehr gut aufgehoben.» Das sei ein positives Beispiel von Unterstützung, von dem sie sich wünsche, dass es häufiger vorkomme.

Mehr Bewusstsein in der Zukunft

In der gemeinsamen Zeit mit ihrer Tochter versucht Islam, eine gute Beziehung aufzubauen. Ihr nun sechsmonatiges Kind lerne, dass seine Mutter Rückzug brauche und dass es Dinge gibt, die nicht möglich sind. «Wenn sie später einmal in ein Konzert für Kinder oder zum Quartierfest möchte, wird sie mit jemand anderem hingehen müssen. Denn wenn zu viele Menschen anwesend sind, führt das bei mir zu einer Reizüberflutung», erklärt Islam. Doch das sei nicht das Einzige, was sie momentan beschäftige. Der Invaliditätsgrad für die Rente wird bei Islam aufgrund der Mutterschaft neu eingeschätzt. So reduziert sich nach der Geburt ihrer Tochter der potenzielle Arbeitsgrad und damit die Rente. «Aber bin ich jetzt weniger Autistin und benötige weniger Hilfe, als wenn ich kein Kind hätte?», fragt Islam.

Blickt Islam auf das letzte Jahr zurück, wird sie nachdenklich. «Als neurodiverse Person fühle ich mich immer so, als würde ich ungerechtfertigt eine Extrabehandlung verlangen: Ich muss mich überall erklären. Dabei handelt es sich um meine Grundrechte.» Sie wünscht sich deshalb, dass die Inklusions-Initiative mehr Bewusstsein für die Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen schaffe. «Ich wünsche mir für die Generation meiner Tochter und alle Generationen danach, dass Menschen mit Autismus dieses Gefühl nicht mehr haben müssen.»