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INKLUSIONS-INITIATIVE / PORTRÄTS «Parlamentarier im Rollstuhl – das hat an sich schon eine politische Wirkung»

Von Olalla Piñeiro Trigo, 8. März 2024
Sébastien Kessler ist der einzige rollstuhlfahrende Parlamentarier im Waadtländer Grossen Rat, dessen Räumlichkeiten nicht gerade zugänglich sind. Kesslers Engagement für Barrierefreiheit begann aber nicht erst mit seiner Wahl.

«In die Politik zu gehen war nur logisch» sagt Sébastien Kessler, während wir im Bistro des Grossen Rats mitten in der Altstadt von Lausanne einen Kaffee trinken. Am 5. Dezember letzten Jahres hat der Sozialdemokrat im Waadtländer Parlament seinen Eid abgelegt, zuvor sass er einige Jahre im Gemeinderat der Stadt Lausanne. Seine Ernennung in die Kantonslegislative hat Folgen fürs Staatsbudget: Denn damit Sébastian Kessler sein Amt ausüben kann, müssen bauliche Arbeiten umgesetzt werden, die auf Zehntausende von Franken beziffert werden: Von der Anpassung seines Büros und des Aufzugs bis hin zur Installation von Rampen für den Zugang zum Plenarsaal. «Die Frage nach der Inklusion beginnt bereits hier, an diesem Zentrum der Macht meines Kantons», scherzt der 50-Jährige halbherzig. 

Als Politiker setzt sich Sébastien Kessler für sämtliche klassische linke Themen ein. Doch es ist vor allem der Kampf für die Inklusion, die ihn antreibt. Wenn er darüber spricht, nimmt er kein Blatt vor den Mund: Die Schweiz sei im Vergleich  zu anderen europäischen Ländern bei der Barrierefreiheit im Rückstand, sagt er. «Die Schweiz ist ein reiches Land mit einem hohen Bildungsniveau. Sie hat die Mittel, um Massnahmen zugunsten von Menschen mit Behinderungen umzusetzen. Es gibt keine Entschuldigung dafür, dass dieses Land nicht schneller vorankommt». Der Uno-Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen habe wiederholt auf die Versäumnisse der Schweiz im Bereich der Gleichstellung hingewiesen, obwohl das Land 2014 die Behindertenkonvention ratifiziert hat. Seit 2004 sei ausserdem das Behindertengleichstellungsgesetz BehiG auf nationaler Ebene in Kraft. 

Unzureichende Verbesserungen 

Sébastien Kessler ist der Ansicht, dass die Fortschritte bei den Eingliederungsmassnahmen für Menschen mit Behinderungen der vergangenen zehn Jahre sehr mager ausfielen. Schwieriger Zugang zu Arbeitsplätzen, Barrieren bei der Nutzung von Infrastrukturen und öffentlichen Verkehrsmitteln, schwierige Ausbildungsbedingungen, mangelnde Freiheit bei der Wahl der Wohnung, Diskriminierungen im Alltag... die Liste der Hindernisse ist noch lang.  

Der Parlamentarier räumt zwar ein, dass einige Kantone Fortschritte gemacht haben, bedauert aber, dass auf nationaler Ebene keine politischen Massnahmen für die Umsetzung implementiert wurden. Obwohl der Bundesrat derzeit an der Revision des BehiG arbeitet, hält er bereits den Vorentwurf für ungenügend, da dieser den Bedürfnissen von Menschen mit Behinderungen nicht gerecht werde. «Es braucht wirksame Gesetze, damit auch dieses Viertel der Schweizer Bevölkerung ein selbstbestimmtes Leben führen kann. Ausserdem würden sowieso alle von Inklusionsmassnahmen profitieren, denn jede Person kann im Alter von einer Behinderung betroffen sein.» 

Inklusion ist mehr als Politik  

Inklusion ist nicht nur eine politische Angelegenheit. Sébastien Kessler setzt sich auf allen gesellschaftlichen Ebenen für dieses Anliegen ein: Angefangen in verschiedenen Vereinen, in denen er aktiv ist, wie zum Beispiel Inclusion Handicap, bis hin zu seinem beruflichen Umfeld. Bereits vor 13 Jahren gründete er eine Beratungsfirma, die sich auf die Thematik der Barrierefreiheit spezialisiert hat, «um die Mentalität zu ändern». Das Ziel: die öffentlichen Einrichtungen für inklusive Räume und Infrastrukturen zu sensibilisieren. In der Schweiz ist dies ein Pionierprojekt. «Wir konzentrieren uns auf alle Arten von Behinderungen, nicht nur auf die sichtbarsten wie motorische Behinderungen. Ältere Menschen, Menschen mit Sehbehinderungen oder Menschen aus dem Autismus-Spektrum haben jeweils spezifische Bedürfnisse», erklärt der Physikingenieur. Sein Unternehmen hat beispielsweise an mehreren Lausanner Grossprojekten mitgearbeitet, wie dem Museumszentrum Plateforme 10 oder bei der Planung der U-Bahnlinien M2 und der künftigen M3. 

Diesen Kampf für die Inklusion will er auch in seinem neuen politischen Amt fortsetzen. «Ein Parlamentarier im Rollstuhl hat bereits eine politische Wirkung. Menschen wie ich bringen Fachwissen zum Thema ein und bringen das Thema auf die Agenda. Und meine öffentliche Sichtbarkeit kann andere Betroffene dazu bringen, sich ebenfalls zu engagieren», sagt Sébastien Kessler. Die Parlamentswahlen im Oktober letzten Jahres haben mit der Wahl von drei Nationalräten mit einer motorischen Behinderung einen Hoffnungsschimmer gebracht. Eine stärkere Vertretung von Menschen mit Behinderungen in der Politik ist seiner Meinung nach jedoch weiterhin notwendig.  

Kessler weist darauf hin, dass es in der Politik viele Hindernisse für Menschen mit Behinderungen gibt, insbesondere wenn sie in die Exekutive gewählt werden wollen. «Der Aufwand für Menschen mit Behinderungen ist im Wahlkampf viel grösser: Man muss auf der Strasse für sich werben, an öffentlichen Veranstaltungen teilnehmen, mit den Wähler*innen diskutieren... Je nachdem, welche Art von Behinderung man hat, ist so ein Wahlkampf eine grosse Herausforderung.» Daher sieht er sich selbst als Mann und mit seiner Art der Behinderung als «privilegiert» an: Rollstuhlfahrende seien eine der sichtbarsten Form von Behinderungen im öffentlichen Raum.  

Als Parlamentarier ist Sébastien Kessler ein Pragmatiker: Die Förderung der Inklusion sei ein Balanceakt, der auf die Bedürfnisse aller Beteiligten Rücksicht nehmen müsse. Doch letztendlich bedeute Inklusion «nicht weniger als jedem Mensch die Möglichkeit zu geben, überhaupt existieren zu dürfen.»