Das Leben in einer begleiteten Wohngemeinschaft hat Suad Dahir im November 2021 gegen ein kleine Wohnung eingetauscht. Auch nach rund zwei Jahren ist die Freude darüber spürbar. «Hier darf ich mich sein, hier ist mein Rückzugsort», erklärt die 30-jährige Zürcherin und nennt dabei einige Beispiele, die anderen banal erscheinen mögen. So kann sie Musik hören, wann immer sie möchte, oder auch selbst entscheiden, was sie liegen lässt und später verräumt. «Ich kann sogar um drei Uhr morgens nach Hause kommen», sagt sie schmunzelnd.
Allein in einer Wohnung zu leben, das hatte sich Suad schon lange gewünscht. Doch aufgrund ihrer psychischen Beeinträchtigung sowie der Lernschwäche lebte sie zunächst in einer begleiteten Wohngruppe. Diese bietet Menschen mit Behinderungen unterschiedliche Wohnformen, Arbeitsplätze und Tagesstättenplätze an. Richtig glücklich war Suad in der Wohngemeinschaft aber nicht. Es gab viele Regeln zu beachten und das Zusammenleben mit ihren Wohnpartnerin fühlte sich für Suad nicht stimmig an.
Plötzlich ergab sich die ersehnte Chance: Eine Einzelwohnung, die ebenfalls Teil des Angebots der Wohnstätte ist, wurde frei. Die Reaktionen auf Suads Entscheidung, diese Gelegenheit am Schopf zu packen, fielen mehrheitlich positiv aus: «Einige hatten Angst, dass ich vereinsamen werde. Aber sie fanden dennoch, ich solle es einfach mal ausprobieren.» Einsamkeit spüre sie heute nur in bestimmten Momenten, sagt Suad. So wenn sie krank sei und jemanden benötige, der für sie einkauft.
Begleitete Selbstständigkeit
Suad schätzt die Ruhe in ihrer Wohnung. Hat sie das Bedürfnis nach sozialem Kontakt, ruft sie Freund*innen an oder lädt diese auf einen Besuch ein. Die Wohnstätte bietet zudem eine Begegnungswohnung in der gleichen Siedlung an, in der sich die rund 20 Menschen treffen können, die genau wie Suad die Wohnbegleitung in Anspruch nehmen. Auch für administrative Tätigkeiten geht Suad in diese Begegnungswohnung, denn dort befindet sich zugleich das Büro der Betreuungspersonen, die Suad einmal wöchentlich unterstützen. «Die Unterstützung ist sehr individuell», erklärt die junge Frau. «Ich benötige vor allem Hilfe im administrativen Bereich, also wenn ich eine Rechnung bezahlen muss oder einen Brief nicht verstehe.» Den Haushalt organisiert sie selbstständig. So entscheidet sie allein, wann sie ihre Wäsche erledigt, wann sie einkaufen geht und wie sie ihr Budget einteilt.
«Im Vergleich zu früher bin ich jetzt viel selbstständiger und darf viel mehr selbst entscheiden. Dafür bin ich dankbar, denn das ist Selbstbestimmung.» Suad, nachdem sie nun in einer Wohnung leben darf.
Einmal im Monat besucht sie jemand von der Wohnstätte in ihrem Zuhause und prüft die Wohnung auf Sauberkeit und Sicherheit. So wird geschaut, dass sich keine Berge an Wäsche türmen oder dass nicht irgendwo Kabel am Boden liegen, die eine Sturzgefahr darstellen. Diese Kontrolle ist für Suad kein Problem. «Das ist einfach Vorschrift», meint sie und ergänzt: «Im Vergleich zu früher bin ich jetzt viel selbstständiger und darf vielmehr selbst entscheiden. Dafür bin ich dankbar, denn das ist Selbstbestimmung.»
Über die Lebensbereiche hinweg bestärkt
Das selbstständige Wohnen habe sie in vielerlei Hinsicht weitergebracht, sagt Suad. Zum Beispiel befinden sich seit kurzem ihre Notfallmedikamente bei ihr zu Hause und sie kann diese allein einnehmen. In der Wohngemeinschaft war das nicht möglich, denn Medikamente wurden von einer Betreuungsperson verwaltet. «So kann ich Verantwortung für mich selbst übernehmen. Ich fühle mich dadurch wie ein selbstständiger Mensch, frei von Behinderungen», sagt sie. Dass das selbständige Wohnen Suad über den Alltag hinweg bestärkt, wird auch deutlich, wenn sie von ihren unzähligen Hobbys erzählt: Sie geht schwimmen, macht Zumba und Fitness, besucht das Kino oder trifft sich mit Freund*innen. Ausserdem hat sie im vergangenen September eine einjährige Ausbildung zur Peer-Beraterin beim Verein Mensch Zuerst begonnen. «Ich hatte zwar schon davor Menschen begleitet, habe dann aber beschlossen, die Ausbildung noch zu machen», sagt sie. So lerne sie viel über die verschiedenen Bedürfnisse von Menschen mit Behinderungen oder über Beratung und Gewaltfreie Kommunikation.
Gestärkter Blick nach vorne
Besonders stolz ist Suad auf ihr ehrenamtliches politisches Engagement. Sei dies durch die Unterstützung des Wahlkampfs des Behindertenrechtsaktivisten Islam Alijaj, der im Oktober ins eidgenössische Parlament gewählt wurde. Sie ist auch Mitglied des Initiativkomitees der Inklusions-Initiative. «Letzten Sommer konnte ich am Frauenstreik in Bern sogar eine Rede zur Initiative halten», sagt sie stolz.
«Menschen mit Behinderungen sollen begleitet und nicht bevormundet werden.»
Dieses Engagement sei ihr sehr wichtig, denn so könne sie ihre Stimme für Menschen mit Behinderungen einsetzen. Insbesondere ihre eigene Erfahrung mit dem selbstständigen Wohnen zeige auf, wieso die Inklusions-Initiative so wichtig ist: «Menschen mit Behinderungen sollen begleitet und nicht bevormundet werden. Wir sollten unsere eigenen Chef*innen sein können», sagt sie. Nur so werde jede Person dort abgeholt, wo sie es benötige. Ansonsten werde man oft überbehütet und lerne nie, das Leben selbst zu organisieren. «Ich habe beispielsweise gelernt, dass es spät werden kann, wenn ich an ein Konzert gehen möchte. Ich muss also abwägen, ob es mir der Konzertbesuch wert ist, wenig Schlaf zu erhalten.»
Durch ihr vielseitiges Engagement geniesst Suad die Ruhe in der Wohnung und die kuschelige Ecke mit dem Sofa umso mehr. Für immer allein wohnen möchte sie aber doch nicht: «Ich habe jetzt einen neuen Partner und möchte vielleicht in drei bis vier Jahren mit ihm zusammenziehen», sagt sie. «Wenn ich irgendwann einen Kinderwunsch haben werde, hoffe ich, dass dieser akzeptiert und nicht belächelt wird. Und ich die ideale Unterstützung erhalte.»