© Ra Drag / unsplash
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Asylrecht Schweiz Das Diskretionserfordernis für LGBTI* Personen im Asylverfahren

15. Februar 2024
Die sexuelle Orientierung wie auch die Geschlechtsidentität sind fundamentale Aspekte der Identität eines Menschen. Von einer asylsuchenden LGBTI* Person kann nicht verlangt werden, dass sich im Herkunftsland ein Leben lang «diskret verhalten» muss, um eine (Straf-)Verfolgung zu vermeiden. Das sogenannte Diskretionserfordernis für LGBTI* Personen darf kein legitimes Argument mehr sein, um ein Asylgesuch abzuweisen – und doch wird es von den Behörden zum Teil noch angewendet.

In Anwendung des Diskretionsprinzips wird ein Asylantrag mit der Begründung abgewiesen, eine LGBTI* Person solle ihre sexuelle Orientierung bzw. geschlechtliche Identität im Herkunftsland verbergen bzw. geheim halten. Mit diesem «diskreten Verhalten» könne sie eine erneute oder auch erstmalig drohende (Straf-)Verfolgung vermeiden.1

Von den Behörden wird dabei geprüft, ob ein entsprechendes «diskretes Verhalten» im Herkunftsland für eine asylsuchende LGBTI* Person zumutbar ist, oder ob die asylsuchende Person durch ebendieses «diskrete Verhalten» einem unerträglichen psychischen Druck im Sinne von Art. 3 Abs. 2 AsylG ausgesetzt wäre.

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) entschied bereits 2013, dass von geflüchteten LGBTI* Personen nicht erwartet werden kann, dass sie ihre Homosexualität im Herkunftsland geheim halten oder Zurückhaltung üben müsse.

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) entschied bereits 2013, dass von geflüchteten LGBTI* Personen nicht erwartet werden kann, dass sie ihre Homosexualität im Herkunftsland geheim halten oder Zurückhaltung üben müsse, um eine Verfolgung zu vermeiden.2 Das Bundesverfassungsgericht Deutschlands bekräftigte 2020 die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs3 .

Die europäische Rechtsprechung in Bezug auf das Diskretionserfordernis ist klar: Die Geheimhaltung der sexuellen Orientierung zur Vermeidung von Verfolgung darf nicht erwartet werden und zwar auch dann nicht, wenn die asylsuchende Person zuvor in ihrem Herkunftsland ungeoutet gelebt hat. Als Konsequenz davon erliess die Bundesregierung Deutschlands am 01.10.2022 eine entsprechende Dienstanweisung, wonach bei der «Gefahrenprognose» für eine geflüchtete LGBTI* Person immer davon auszugehen ist, dass diese ihre sexuelle Orientierung oder geschlechtliche Identität im Herkunftsland offen ausleben möchte. Es darf im Umkehrschluss von einer asylsuchenden Person also nicht mehr erwartet werden, dass sie sich nach der Rückkehr in ihr Herkunftsland diskret verhalten und bis an ihr Lebensende ein Doppelleben führen würde.4

Der europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) entschied in einem für die Schweiz verbindlichen Entscheid vom 17. November 20205,  dass die schweizerischen Behörden im Falle eines homosexuellen Gambiers die Gefahr, welcher er aufgrund seiner Homosexualität bei einer Wegweisung nach Gambia ausgesetzt wäre, nicht richtig eingeschätzt hätten. Die Parteien seien sich darin einig, dass die sexuelle Orientierung einen fundamentalen Aspekt der Identität darstellt und niemand dazu gezwungen werde könne, die sexuelle Orientierung zu verbergen, um einer Verfolgung zu entgehen.

Nicht zuletzt hält das SEM im eigenen Handbuch Asyl und Rückkehr6 fest, dass die Abweisung eines Asylgesuch, das sich auf Gründe in Zusammenhang mit der sexuellen Orientierung oder der Geschlechtsidentität stützt, nicht mit dem Argument begründet werden dürfe, welches auf die Möglichkeit hinweist, eine LGBTI* Person könne allen drohenden Verfolgungen entkommen bzw. sich diesen entziehen, wenn sie einen weniger auffälligen respektive «diskreten» Lebensstil pflegen würde.

Die Schweizerische Praxis befindet sich in Bezug auf das Diskretionsgebot damit nach wie vor in einem Widerspruch zur europaweiten Rechtsprechung.

Trotzdem finden sich in der aktuellen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts nach wie vor Erwägungen, wonach es einer homosexuellen asylsuchenden Person zumutbar sei, ihre sexuelle Orientierung wie auch ihre Beziehung zu einem Menschen des gleichen Geschlechts im Verborgenen auszuleben, um einer drohenden Verfolgung zu entgehen.7  Mit anderen Worten stelle es für die betroffene Person nicht einen unerträglichen psychischen Druck  dar8, die eigene Homosexualität bis an ihr Lebensende im Verborgenen auszuleben und quasi ein Doppelleben zu führen. Einem trans Mann hingegen, welcher sich in der Schweiz bereits geschlechtsangleichenden Operationen unterzogen hatte, sei es nicht mehr zumutbar, im Herkunftsland wieder in der Rolle einer Frau zu leben und die operativen Eingriffe zu verbergen. Im Umkehrschluss bedeuten die entsprechenden Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts aber auch, dass es für ebendiesen trans Mann zumutbar gewesen wäre, im Herkunftsland wieder in der Rolle einer Frau zu leben und die eigene Geschlechtsidentität zu unterdrücken, wenn die geschlechtsangleichenden Operationen als irreversible Massnahmen im Zeitpunkt des Entscheids noch nicht erfolgt gewesen wären9.

Die Schweizerische Praxis befindet sich in Bezug auf das Diskretionsgebot damit nach wie vor in einem Widerspruch zur europaweiten Rechtsprechung wie auch der eigenen internen Weisung. Die Schweizerischen Behörden sind angehalten, das Diskretionsgebot bei LGBTI* Asylsuchenden künftig nicht mehr anzuwenden. Bei der Prüfung des Asylgesuchs ist vielmehr davon auszugehen, dass eine LGBTI* Person ihre sexuelle Orientierung oder Geschlechtsidentität im Herkunftsland offen ausleben möchte.

 

 

1 EuGH, Urt. v. 7.11.2013, Rs. C‑199/12 bis C‑201/12 - X u.a., Tenor und Rn. 71)

2 EuGH, Urt. v. 7.11.2013, Rs. C‑199/12 bis C‑201/12 - X u.a., Tenor und Rn. 71

3 BVerfG, Beschluss v. 22.01.2020, 2 BvR 1807/19, Rn. 2

4 vgl. auch https://www.lsvd.de/de/ct/9073--6-monate-neue-dienstanweisung-asyl; https://www.lsvd.de/de/ct/6009-Asylrecht-Bei-homo-und-bisexuellen-Gefluechteten-darf-nicht-von-diskretem-Leben-ausgegangen-werden; beides zuletzt besucht am 16.10.2023)

5 B. und C. gegen die Schweiz – 889/19; 43987/16

6 Artikel D2.1 Die geschlechtsspezifische Verfolgung, S. 9 

7 BVGer D-1219/2019 Urteil vom 19. Juli 2022 E. 8.4.2

8 i.S.v. Art. 3. Abs. 2 AsylG

9 BVGer D-1219/2019 Urteil vom 19. Juli 2022 E. 8.5)