Drei Fragen an Dick Marty «Schweiz hat eigene Interesse vor Grundwerte gestellt»

Der Tessiner Ständerat und Sonderberichterstatter des Europarats kritisiert die Zusammenarbeit Europäischer Staaten und der Schweiz mit dem US-Geheimdienst CIA im «Krieg gegen den Terrorismus».
Dick Marty © Parlamentsdienste

Amnesty International: Die Bundesanwaltschaft hat die Befragung von Häftlingen in Guantánamo und im Jemen angeordnet. Ist ein solches Vorgehen akzeptabel?

Dick Marty: Ich bin der erste, der versteht, dass Behörden und Polizei versuchen, die Wahrheit über Personen herauszufinden, die beschuldigt werden, schwere Verbrechen begangen zu haben. Aber es wäre mir niemals in den Sinn gekommen, dafür in Guantánamo oder im Jemen Informationen einzuholen: Geständnisse, die unter Folter und ausserhalb jedes rechtlichen Rahmens zustande kommen, entsprechen fast nie der Wahrheit und dürfen auf keinen Fall für irgendein Gerichtsverfahren verwendet werden. Das Vorgehen ist vor allem auch deshalb inakzeptabel, weil es einem System Legitimation verleiht, das die Menschenrechte mit Füssen tritt. Ich bin schockiert und empört darüber, dass der Bundesrat dieses Vorgehen gutgeheissen hat.

Sie haben aufgezeigt, dass europäische Staaten internationales Recht verletzt haben, indem sie Geheimgefängnisse akzeptiert und Geheimdienstler nach Guantánamo geschickt haben. Ist zu befürchten, dass die Schweiz auch so weit gegangen ist?


Ich bin mir nach über 30 Jahren im Staatsdienst – in allen drei Staatsgewalten – bewusst, wie schwer es der «Staatsmacht» fällt, die Wahrheit zu sagen. All zu oft begnügen sich die Verantwortlichen mit Halbwahrheiten, die eigentlich die schlimmsten Lügen sind. Ich glaube nicht, dass die Schweiz in dieser Angelegenheit eine Hauptrolle gespielt hat. Aber sie hat weggeschaut und offensichtlich Eigeninteressen vor Grundwerte gestellt. Und dies trotz all der schönen Reden zur Bedeutung der Menschenrechte.

Die USA verweigern Ihnen den Zugang zu Guantánamo und verschiedene europäische Staaten verhalten sich gar nicht kooperativ. Wie gehen Sie weiter vor?


Vielleicht bin ich ein bisschen naiv, aber ich bin davon überzeugt, dass der Druck zahlreicher NGOs – mit Amnesty International an der Spitze –, der Presse, des Europarats und nicht zuletzt eines Grossteils der US-amerikanischen Zivilgesellschaft (sogar bis ins Innere der CIA) eine Dynamik der Wahrheitsfindung ausgelöst hat. Dieser Prozess ist immer noch im Gang und wird uns weitere Erkenntnisse bringen.

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