Seit Monaten und zum Teil seit Jahren warten etwa 50 Männer im Gefangenenlager von Guantanamo Bay auf ihre Ausreise. Sie stammen aus Ländern wie Algerien, China, Irak, Libyen, Russland, Somalia, Syrien, Tunesien und Usbekistan. Die USA lasten diesen Gefangenen keine Vergehen an. Sie erheben also keine Anklage gegen die ehemaligen «Terrorismusverdächtigen» und möchten sie rückführen und frei lassen, so wie Hunderte andere Häftlinge, die inzwischen heimgekehrt sind. Allerdings können diese Männer nicht in ihre Herkunftsländer heimkehren, weil sie dort mit grosser Wahrscheinlichkeit von Folter und anderen Misshandlungen bedroht werden.
Ein Beispiel für dieses Schicksal Abdellah al-Hajji und Lofti Lagha. Sie wurden im Juni 2007 nach der Haftentlassung aus Guantánamo bei der Heimkehr nach Tunesien verhaftet und angeblich misshandelt. Beide Männer wurden anschliessend wegen Verbindung oder Zugehörigkeit zu Terrororganisationen verurteilt.
Zwei weitere Ex-Gefangene von Guantanamo werden seit ihrer Rückkehr nach Libyen im Dezember 2006 und im September 2007 trotz der von den USA eingeholten diplomatischen Zusicherungen, wonach ihnen nichts passieren würde, ohne Kontakte zur Aussenwelt und Anklage in Haft gehalten.
USA suchen nach sicheren Drittstaaten
Die USA suchen aktiv, aber bisher vergeblich, nach Drittstaaten, die zur Aufnahme von solchen Ex-Gefangenen bereit sind. Am 31. Juli 2008 sagte der Sprecher des US-Aussenministeriums, Sean McCormack: «Wir haben mehr als 50 Länder angefragt, um die Möglichkeit von Übersiedlungen zu klären. (...) Wir stiessen aber auf sehr wenig Unterstützung. (...) Wir fordern die internationale Gemeinschaft weiterhin auf, unsere Bemühungen mitzutragen, um geeignete Möglichkeiten zur Wiedereingliederung zu finden.»
Worte statt Taten
Die lautstarke Kritik, die Regierungen rund um den Globus gegenüber dem Menschenrechtsskandal von Guantanamo Bay äusserten, ist bemerkens- und begrüssenswert. Bisher folgten dieser Rhetorik aber noch keine Taten. Amnesty International ruft die Regierungen weltweit, insbesondere aber in Europa und damit der Schweiz, auf, zur raschen Beendigung dieser menschlichen Tragödie beizutragen und humanitäre Lösungen für die von den USA zur Freilassung oder zum Transfer freigegebenen Gefangenen zu finden. Es geht darum, ihnen internationalen Schutz zu gewähren.
Ball liegt bei den USA
Es liegt primär in der Verantwortung der US-Regierung, die in Guantanamo geschaffenen Probleme einer gerechten und rechtmässigen Lösung zuzuführen. Als Alternative zur fortgesetzten widerrechtlichen Haft in Guantánamo könnte die US-amerikanische Regierung denjenigen Inhaftierten, die nicht in ihre Herkunftsländer heimkehren können, die Übersiedlung in die USA anbieten. Allerdings stellt diese Möglichkeit für die meisten der betroffenen Männer keine annehmbare Lösung dar, nachdem sie jahrelang von den US-Behörden grundlos als «rechtswidrige feindliche Kämpfer» und «Terroristen» gebrandmarkt worden sind. Sie sollen sich für einen Neubeginn in einem Drittstaat niederlassen dürfen.
Am 12. Dezember 2007 forderte das Europaparlament die Kommission und den Rat dazu auf, «eine Initiative auf europäischem und internationalem Niveau zu lancieren, um Gefangene von Guantanamo in Drittländern aufzunehmen.» Seither verlangten parlamentarische Ausschüsse in einigen Staaten von ihren Regierungen, den Druck auf die USA zu erhöhen, damit diese den zur Freilassung bestimmten Gefangenen umgehend Asyl anbieten, oder eine Aufnahme im eigenen Land vorzunehmen. Die Schweiz könnte in dieser Angelegenheit einen Meilenstein für eine internationale Lösung dieses Menschenrechtsskandals setzen.
Auch kollektive Aufnahme möglich
Seit Jahren setzt sich Amnesty International dafür ein, dass das Gefangenenlager in Guantanamo Bay geschlossen wird, um der langen Reihe von unsäglichen Menschenrechtsverletzungen und Ungesetzlichkeiten ein Ende zu setzen. Ein Schritt in diese Richtung ist die Suche nach dauerhaften humanitären Lösungen für jene Gefangene, die nicht heimkehren können. Sie sollen in ein Land gebracht werden, wo sie nach Jahren des schutzlosen Leidens endlich wieder in Sicherheit leben können. Die individuelle Gewährung von Asyl ist eine, aber nicht die einzige Lösungsvariante – denkbar ist auch die kollektive Aufnahme einer Gruppe von Flüchtlingen.
Oktober 2008