Der Bericht mit dem Titel: «I Still Can't Sleep at Night – The Global Abuse of Electric Shock Equipment» (Ich kann Nachts nicht mehr schlafen – Der weltweite Missbrauch von Elektroschockgeräten) dokumentiert, wie Strafverfolgungsbehörden verbreitet Kontaktgeräte wie Elektroschocker oder elektrische Schlagstöcke einsetzen und damit schwere Menschenrechtsverletzungen begehen. Amnesty hat den Einsatz dieser an sich missbräuchlichen Waffen bei Demonstrationen, bei der Grenzsicherung, in Auffanglagern für Migrant*innen und Geflüchtete, in psychiatrischen Kliniken, auf Polizeistationen und in Gefängnissen dokumentiert.
«Elektroschockwaffen können schweres Leid, langanhaltende körperliche Behinderungen und psychische Belastungen verursachen.»
Patrick Wilcken, Forscher bei Amnesty International für Militär-, Sicherheits- und Polizeifragen
Kontaktgeräte, die auf Knopfdruck schmerzhafte Stromschläge abgeben, wurden gegen Demonstrant*innen, Student*innen, politische Gegner*innen, Frauen und Mädchen (darunter auch Schwangere), Kinder und Menschenrechtsverteidiger*innen eingesetzt. Betroffene erlitten Verbrennungen, Taubheitsgefühle, Fehlgeburten, Harnstörungen, Schlaflosigkeit, Erschöpfung und schwere psychische Traumata. «Elektroschockwaffen können schweres Leid, langanhaltende körperliche Behinderungen und psychische Belastungen verursachen. Ein längerer Einsatz kann sogar zum Tod führen», sagte Patrick Wilcken, Forscher bei Amnesty International für Militär-, Sicherheits- und Polizeifragen.
Der Bericht befasst sich auch mit dem wachsenden Einsatz von sogenannten Distanz-Elektroimpulsgeräten (DEIG) (besser bekannt als Taser). Diese können zwar eine legitime Rolle bei der Strafverfolgung spielen, sie werden nach Recherchen von Amnesty aber oft missbräuchlich und zu Unrecht eingesetzt. Dazu gehören Fälle von unnötigem und diskriminierendem Einsatz gegen besonders verletzliche Personen, die zu schweren Verletzungen und in einigen Fällen sogar zum Tod führten.
Patrick Wilcken sagt dazu: «DEIG werden gegen Personen eingesetzt, die kein Gewaltrisiko darstellen, einfach um sie zu bestrafen oder um die Befolgung von Anweisungen zu erzwingen. Sie werden auch im Kontaktmodus (‚Drive Stun‘) eingesetzt, der verboten werden sollte. Trotz der eindeutigen Menschenrechtsrisiken gibt es keine globalen Vorschriften zur Kontrolle der Herstellung und des Handels von Elektroschockgeräten. Elektroschockwaffen im Kontaktmodus müssen sofort verboten und DEIG strengen Handelskontrollen unterstellt werden.»
Besorgniserregender Anstieg der Verwendung von Tasern in der Schweiz
Seit 2016 werden DEIG in der Schweiz immer häufiger eingesetzt. Nach den neuesten Statistiken haben kantonale Polizeikorps den Taser im Jahr 2022 in 69 Fällen und im Jahr 2023 in 86 Fällen angewandt. Auch in einigen Strafanstalten ist der Einsatz von DEIG vorgesehen.
«Diese Waffen werden immer mehr zur ersten Wahl bei der Konfliktbewältigung, was zu ihrem unnötigen oder unverhältnismässigen Einsatz führt», beobachtet Alicia Giraudel, Juristin bei Amnesty International Schweiz. «DEIG können zu schweren Verletzungen oder zum Tod führen. Ihr Einsatz muss auf extreme Situationen beschränkt bleiben, in denen das Leben bedroht ist oder die Gefahr schwerer Verletzungen besteht. Polizeibeamt*innen dürfen diese Waffen nur als letztes Mittel einsetzen - als letzte Alternative zum Einsatz von Schusswaffen».
«Die Schweiz muss den Verkauf an Strafverfolgungsbehörden streng kontrollieren, um sicherzustellen, dass diese Waffen nicht für Folter oder andere Misshandlungen verwendet werden. Sie sollte auch strenge Regeln für deren Einsatz einführen, sicherstellen, dass Polizeibeamt*innen angemessen ausgebildet werden, und unabhängige Kontrollmechanismen einrichten, um Vorfälle von Missbrauch zu untersuchen und zu verfolgen», empfiehlt Alicia Giraudel.
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Gefährdete Gruppen, die von Elektroschockwaffen betroffen sind
Der ausführliche Bericht basiert auf Untersuchungen, die Amnesty International zwischen 2014 und 2024 in mehr als 40 Ländern in allen Regionen der Welt durchgeführt hat, in denen Fälle von Folter und anderen Misshandlungen mit Elektroschockgeräten dokumentiert wurden.
Die von Amnesty International gesammelten Zeugenaussagen sind erschütternd. Während des Aufstands im Iran im Jahr 2022 zwangen Angehörige der Basisch-Miliz (IRGC Basij Bataillon) mehrere Jungen, mit gespreizten Beinen in einer Reihe neben erwachsenen Gefangenen zu stehen, und verabreichte ihnen mit Elektroschockern Stromschläge in die Genitalien. In einem anderen Fall wurden mehrere Schüler entführt, weil sie den Protest-Slogan «Frau, Leben, Freiheit» an eine Wand geschrieben hatten. Einer der Jungen sagte gegenüber Amnesty International: «Sie schlugen mir mit dem Kolben einer Waffe ins Gesicht, gaben mir Elektroschocks in den Rücken und schlugen mich mit Schlagstöcken auf die Unterseite meiner Füsse und Hände ...»
Amnesty hat auch dokumentiert, wie DEIG direkt am Körper zur Disziplinierung und Bestrafung eingesetzt werden: Ein Häftling aus Subsahara-Afrika berichtete Amnesty von einer Razzia der Grenzschutzbeamten im Medininkai-Gefängnis in Litauen am 2. März 2022: «Ich lag auf dem Boden und trotzdem haben sie dreimal den Taser an mir angewandt und mich gleichzeitig mit Schlagstöcken geschlagen.» Ein anderer Gefangener berichtete, dass Polizeibeamte ihm einen «Taser» auf die Stirn legten und ihm sagten: «Halt den Mund, oder ich schiesse!»
«Selbst bei der Verwendung als Distanzwaffe werden DEIG mit schweren Verletzungen und Todesfällen in Verbindung gebracht», sagte Patrick Wilcken. «Dazu gehören durch Pfeile verursachte Schnittwunden und Durchdringungen von Schädel, Augen, inneren Organen, Rachen, Fingern und Hoden; durch elektrische Entladungen verursachte Verbrennungen, Krampfanfälle und Herzrhythmusstörungen sowie eine Vielzahl von Verletzungen und Todesfällen durch Stürze.»
Der Bericht von Amnesty deckt Muster des diskriminierenden Einsatzes von DEIG gegen rassistisch diskriminierte und marginalisierte Gruppen, wie z. B. junge Schwarze Männer, auf. Im April 2024 wurden Polizeibeamte in Atlanta, im US-Bundesstaat Georgia, gefilmt, wie sie gegen einen Schwarzen Demonstranten bei einer Solidaritätskundgebung für Palästina direkt am Bein einen Taser einsetzten. Der Mann war dabei gefesselt und wurde von drei Polizisten am Boden fixiert.
«Die Schwelle für den Einsatz von Elektroimpulswaffen muss angesichts des hohen Risikos von Primär- und Sekundärverletzungen sehr hoch angesetzt werden. Sie sollten nur dann eingesetzt werden, wenn Lebensgefahr besteht oder schwere Verletzungen drohen, die nicht durch weniger drastische Massnahmen abgewehrt werden können», sagt Patrick Wilcken.
Dringende Verbote und Handelsbeschränkungen
Zwischen Januar 2018 und Juni 2023 stellten mindestens 197 Unternehmen aus aller Welt Elektroschockgeräte für Strafverfolgungsbehörden her oder bewarben diese – die meisten davon in Ländern wie China, Indien und den USA.
Laut dem US-Unternehmen Axon Enterprise, Inc. werden die Modelle der Marke TASER derzeit von über 18‘000 Strafverfolgungsbehörden in mehr als 80 Ländern eingesetzt.
«Wir brauchen dringend ein rechtsverbindliches Abkommen, das Direktkontakt-Elektroschockgeräte verbietet und den Handel mit Distanz-Elektroimpulsgeräten streng kontrolliert», sagt Patrick Wilcken. «Unternehmen sollten strikte Massnahmen zur Einhaltung der Menschenrechte und zur Schadensbegrenzung ergreifen. Sie müssen sicherstellen, dass ihre Produkte und Dienstleistungen nicht systematisch für Folter und andere Misshandlungen missbraucht werden. Dazu gehört die Einstellung der Produktion von Elektroschock-Kontaktgeräten und die Entfernung des Kontaktmodus (‚Drive-Stun‘-Funktion).»
Amnesty International setzt sich gemeinsam mit einem globalen zivilgesellschaftlichen Netzwerk von über 80 Organisationen weltweit für die Aushandlung eines Abkommens für einen Handel ohne Folter ein, das weltweite Verbote und Kontrollen für eine Vielzahl von Polizeiausrüstungen, darunter Elektroschockwaffen, einführen würde.
Hintergrund
Im September 2017 gründeten die EU, Argentinien und die Mongolei am Rande der Uno-Generalversammlung in New York die «Alliance for Torture-Free Trade» (Allianz für einen Handel ohne Folter). Die Allianz umfasst derzeit 62 Staaten aus allen Regionen der Welt, die sich verpflichtet haben, «gemeinsam zu handeln, um den Handel mit Gütern, die insbesondere für Folter oder andere Misshandlungen verwendet werden, zu verhindern, einzuschränken und zu beenden». Im Oktober 2023 legte die Uno-Sonderberichterstatterin über Folter einen Bericht über den Handel mit Folterausrüstungen vor, in dem er sich für ein rechtsverbindliches Instrument zur Regulierung der Herstellung und des Handels mit Polizeiausrüstungen aussprach und Listen verbotener und zu kontrollierender Güter präsentierte.
Dies ist einer von mehreren ausführlichen Rechercheberichten, die die verheerenden Auswirkungen von Polizeiausrüstung auf die Menschenrechte aufzeigen. Zu den früheren Amnesty-Berichten gehören Veröffentlichungen zu Tränengas, Schlagstöcken, Gummigeschossen und «weniger tödlichen Waffen», die zur Kontrolle von Demonstrationen eingesetzt werden.