Fragen und Antworten Warum Amnesty die Prostitution entkriminalisieren will

Fragen und Antworten zum Entscheid der Internationalen Ratstagung 2015 von Amnesty International in Dublin betreffend die Menschenrechte von Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern.
Warum kümmert sich Amnesty International um die Menschenrechte von Sexarbeiterinnen und Sexarbeitern?

Frauen, Männer, Transmenschen – wer im Sexgewerbe arbeitet, ist überall auf der Welt besonders häufig Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt, wenngleich unter ganz verschiedenen kulturellen, sozialen und gesetzlichen Rahmenbedingungen. Physische, psychische und sexuelle Gewalt, willkürliche Festnahmen, Erpressung und Schikanen, unfreiwillige HIV-Tests und medizinische Zwangsuntersuchungen sind nur einige davon. Auch grundlegende soziale Rechte wie der Zugang zu Gesundheitsversorgung oder zu Wohnraum werden Prostituierten oft verweigert. All dies stellt Amnesty International seit Jahren fest und hat auch immer wieder Aktionen zu Einzelfällen lanciert, wenn etwa Transgender oder Frauen in der Prostitution brutal angegriffen wurden. Eine spezifische Untersuchung in vier Ländern/Städten und eine breite Konsultation, die Amnesty zwischen 2013 und 2015 mit verschiedensten Akteurinnen und Akteuren durchgeführt hat, bestätigten diese Feststellungen in aller Deutlichkeit.

Mit dem Entscheid für eine klare politische Positionierung zeigt Amnesty International Flagge, was die grundlegenden Rechte von Menschen betrifft, die im Sexgewerbe arbeiten. Ihre Persönlichkeits-, Freiheits- und Selbstbestimmungsrechte, der diskriminierungsfreie Zugang zu Gesundheits- und Sozialdienstleistungen und weitere soziale und wirtschaftliche Rechten, Schutz vor Ausbeutung, Gewalt, Erpressung und anderen Übergriffen – all diese Rechte sollen Prostituierten gleichermassen zustehen wie allen anderen Menschen.

Warum ist die Forderung nach Entkriminalisierung so wichtig?

Die Entkriminalisierung des Sexgewerbes – ausser natürlich wenn Straftaten wie Gewalt, Ausbeutung, Sex mit Minderjährigen oder Menschenhandel im Spiel sind – ist zwar nicht das primäre Ziel der von Amnesty beschlossenen Positionierung, aber eine der ganz wichtigen Voraussetzungen, damit SexarbeiterInnen ihre Rechte wahrnehmen und ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen können. Sie sollen ihre Tätigkeit ausüben dürfen, ohne das Gesetz zu brechen. Wenn nicht nur ihre Tätigkeit, sondern auch ihr Arbeitsumfeld entkriminalisiert ist, gibt das den oft marginalisierten und abhängigen Menschen im Sexgewerbe mehr Möglichkeiten, unabhängig zu arbeiten, sich zu organisieren und sich selber für ihre Rechte zu wehren.

Amnesty fordert aber auch andere, proaktive Massnahmen zum Schutz von Prostituierten: namentlich Massnahmen gegen Ausbeutung, Nötigung, Gewalt, Erpressung und natürlich gegen sexuelle Ausbeutung von Minderjährigen und gegen Menschenhandel.

Im Wissen darum, dass viele Menschen gegen ihren Willen in die Prostitution gedrängt werden und dass viele diese Tätigkeit aus wirtschaftlicher Not betreiben, bekräftigt Amnesty zudem die grosse Bedeutung der sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Rechte aller Menschen. Für diese engagiert sich die Organisation seit langem.

Fordert Amnesty eine Legalisierung von Prostitution?

Nein, Amnesty fordert Entkriminalisierung, nicht aber Legalisierung des Sexgewerbes. Das ist nicht dasselbe. Entkriminalisierung bedeutet, dass einvernehmliche sexuelle Beziehungen unter Erwachsenen, auch wenn diese bezahlt sind, nicht strafrechtlich verfolgt werden. Dies entspricht einer international gültigen Menschenrechtsnorm. Auch mit der Ausübung von Prostitution verbundene Aktivitäten wie Vermittlung/Zuhälterei, Wohnungsvermietung, Unterstützung in sozialen Fragen etc. sollen nicht dem Strafgesetz unterstellt werden, ausser wenn Straftatbestände wie Ausbeutung, Nötigung, Gewalt, Erpressung vorliegen oder Menschenhandel im Spiel ist. Solche Straftaten sollen weiterhin klar verfolgt werden. Dort, wo das Gewerbe aus dem Schatten der Illegalität geholt wird, lassen sie sich auch viel besser verfolgen.

Legalisierung hingegen bedeutet, dass Prostitution z.B. über Gewerbegesetze, Arbeitsgesetze oder Gesetze zur öffentlichen Sicherheit und Ordnung geregelt wird. Dazu, ob und wie Staaten dies tun, äussert sich Amnesty bewusst nicht. Staaten müssen jedoch sicherstellen, dass sich solche Gesetze nicht zum Nachteil (eines Teils) der Prostituierten auswirken, diskriminierend sind oder anderweitig zu Menschenrechtsverletzungen an Prostituierten führen. Wenn Prostituierte z.B. derart hohe administrative Hürden überwinden müssen, um legal arbeiten zu dürfen, dass sie wiederum in die Abhängigkeit von grossen BordellbesitzerInnen, in die Fänge des organisierten Verbrechens oder in die Illegalität gedrängt werden, kann dies erneut zu strafrechtlicher Verfolgung führen, aber auch zu höherer Verletzlichkeit. Viele Betroffene, mit denen Amnesty im Rahmen der Untersuchungen gesprochen hat, fordern deshalb Entkriminalisierung des Gewerbes, fürchten aber die Folgen einer Legalisierung, von der sie womöglich erneut an den Rand gedrängt würden.

Unterstützt Amnesty jetzt also Freier, Zuhälter und Bordelle?

Nein. Die Positionierung von Amnesty dreht sich nicht um die Freiheiten oder die Menschenrechte von Freiern und Zuhältern, sondern um diejenigen der SexarbeiterInnen. Tatsächlich gibt es aber in vielen Ländern Gesetze gegen Zuhälterei oder gegen «Förderung der Prostitution», die so breit sind, dass zum Beispiel nur schon zwei Sexarbeiterinnen, die zusammen eine Wohnung mieten, als Bordellbesitzerinnen betrachtet und darum strafrechtlich verfolgt werden. Oder die Familienangehörigen einer Prostituierten machen sich strafbar, weil sie als von der Prostitution profitierende Dritte betrachtet werden. Oder eine Transfrau, die anderen Transfrauen Arbeit im Sexgewerbe vermittelt, wird als Zuhälterin kriminalisiert. Solche Gesetze gehen fast immer auf Kosten der betroffenen Prostituierten, während strafbare Handlungen wie Ausbeutung in der Prostitution, Nötigung, Gewalt oder Menschenhandelt zu wenig konsequent strafrechtlich verfolgt und teilweise mit lächerlich geringen Gefängnisstrafen geahndet werden.

Fördert die Entkriminalisierung des Sexgewerbes nicht den Menschenhandel?

Amnesty International spricht sich seit langem ganz klar gegen jede Form von Menschenhandel aus und hat sich sehr für stärkere internationale Normen in diesem Bereich eingesetzt, etwa für die Europaratskonvention zur Bekämpfung von Menschenhandel. Menschenhandel ist ein Verbrechen, das im internationalen Recht heute ganz klar definiert ist. Staaten haben die Pflicht, ihn zu bekämpfen, die Opfer zu schützen und ihnen ihre Rechte wiederzugeben.

Menschenhandel in die Prostitution und Prostitution selbst müssen aber klar unterschieden werden. Eine Entkriminalisierung des Sexgewerbes heisst nicht, dass MenschenhändlerInnen nicht mehr verfolgt werden und Menschenhandel nicht mehr bekämpft werden soll. Es gibt aber keine Beweise dafür, dass eine Entkriminalisierung des Sexgewerbes zu mehr Menschenhandel führt. Im Gegenteil: Wie andere internationale Organisationen, etwa Anti-Slavery International oder die Internationale Arbeitsorganisation ILO ist Amnesty International aufgrund ihrer Analysen zum Schluss gekommen, dass sich Menschenhandel weltweit besser bekämpfen lässt, wenn das Gewerbe entkriminalisiert ist. Wenn Sexarbeit keine Straftat ist, haben SexarbeiterInnen auch bessere Möglichkeiten, sich zusammenzuschliessen, ihre Rechte wahrzunehmen und Übergriffe zu melden. Wer nicht selbst eine Strafverfolgung fürchten muss, ist auch eher bereit, mit Polizei und Strafverfolgungsbehörden zusammen zu arbeiten.

Kehrt Amnesty International den Frauenrechten den Rücken?

Amnesty setzt sich zwar nicht seit immer, aber doch schon seit langem für die Überwindung der Ungleichheit zwischen den Geschlechtern und gegen patriarchale, heterosexuelle Geschlechternormen ein, die sowohl Ursache wie Folge von Menschenrechtsverletzungen sind. Die Tatsache, dass im Sexgewerbe überwiegend Frauen arbeiten, darunter auch oft Transfrauen, während sich prostituierende Männer in der Minderzahl sind, hat viel mit solchen Geschlechterverhältnissen und Normen zu tun. Die Gleichsetzung von Prostitution an sich mit einer geschlechtsspezifischen Menschenrechtsverletzung an Frauen und LGBT greift für Amnesty International aber zu kurz. Eine Kriminalisierung des Gewerbes gibt Frauen nicht mehr, sondern noch weniger Macht und Autonomie in die Hand. Der Kampf für die Rechte von Frauen, Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transmenschen muss bei den alltäglichen Geschlechterverhältnissen, bei diskriminierenden Gesetzen und Normen und bei Gewalt an Frauen und LGBT in allen ihren Formen ansetzen. Dies bleibt deshalb ein zentrales Thema der Amnesty-Arbeit. Das hat auch die Internationale Ratstagung 2015 von Dublin in den Strategischen Zielen für 2016-2019 einmal mehr bestätigt.