Der jüngste Anspruch von Twitter «an der Seite der Frauen weltweit zu stehen», klingt hohl angesichts des langjährigen Versagens des Multimilliarden-Dollar-Konzerns, weibliche Nutzer zu schützen. Der neue Bericht #ToxicTwitter: Gewalt gegen und Belästigung von Frauen im Internet zeigt, dass der Konzern die Rechte von Frauen auf der Plattform ineffizient und unzureichend schützt und sich weigert, aussagekräftige Informationen darüber preiszugeben, wie er mit Berichten über Online-Gewalt und -Belästigung umgeht.
Die Untersuchung von Amnesty International enthält eine Reihe konkreter Empfehlungen, wie Twitter zu einem sichereren Ort für Frauen werden kann.
Opfer werden im Stich gelassen
«Frauen haben das Recht, frei von Diskriminierung und Gewalt zu leben, sowohl online als auch offline. Trotz wiederholter Versprechungen, die Plattform zu säubern, sehen sich viele Frauen auf ihrem Twitter-Feed Todesdrohungen, Vergewaltigungsdrohungen und rassistischen oder homophoben Verleumdungen ausgesetzt», sagte Azmina Dhrodia, Researcherin für Technologie- und Menschenrechte bei Amnesty International. «Unsere Untersuchung zeigt, dass Twitter nicht in der Lage ist, für diejenigen, die Gewalt und Belästigung auf der Plattform erleben, angemessene Hilfe anzubieten».
Twitter-CEO Jack Dorsey hatte erst diesen Monat öffentlich um Lösungsvorschläge gebeten, um die «Gesundheit» der Unterhaltungen auf seiner Plattform zu verbessern. Trotz mehrerer Anfragen von Amnesty International weigerte sich Twitter jedoch, aussagekräftige Daten darüber zu veröffentlichen, wie das Unternehmen auf Beschwerden reagiert.
Twitters eigene Richtlinien gegen Hass im Netz verbieten Gewalt und Belästigung gegen Frauen, und Twitter verfügt über ein Meldesystem, mit dem Nutzer Konten oder Tweets kennzeichnen können, die gegen diese Richtlinien verstossen. Der Amnesty-Bericht zeigt jedoch auf, dass Twitter den Nutzern nicht mitteilt, wie es diese Richtlinien interpretiert und durchsetzt oder wie Content-Moderatoren ausbildet werden, die auf Beschwerden reagieren müssten.
Der Bericht kommt zum Schluss, dass Beschwerden nur inkonsequent nachgegangen oder manchmal gar nicht erst beantwortet werden – was bedeutet, dass missbräuchliche Inhalte trotz Regelverstössen auf der Plattform verbleiben.
Tausende sind betroffen
Für den Amnesty-Bericht wurden Interviews mit 86 betroffenen Frauen und nicht-binären Menschen, mit Politikerinnen, Journalistinnen und weiteren Twitter-Nutzerinnen in Grossbritannien und den USA über ihre Erfahrungen auf der Plattform durchgeführt.
Bereits 2017 hatte Amnesty in einer Umfrage 4000 Frauen in acht Ländern nach ihren Online-Erfahrungen befragt. Fast ein Viertel (23 Prozent) der Frauen gab an, schon mehr als einmal Online-Gewalt oder -Belästigung erfahren zu haben. 76 Prozent der betroffenen Frauen änderten danach ihr Online-Verhalten, viele zogen sich zurück oder äusserten sich nicht mehr zu umstrittenen Themen.
Twitter sagte, dass es mit den Ergebnissen von Amnesty International nicht einverstanden sei. In einer Erklärung liess das Unternehmen verlauten, dass es «Hass und Vorurteile aus der Gesellschaft nicht beseitigen kann». In den letzten 16 Monaten seien mehr als 30 Änderungen an der Plattform vorgenommen worden, um die Sicherheit zu verbessern. Zudem seien zusätzliche Massnahmen gegen missbräuchliche Tweets umgesetzt worden.
«Twitter hat wiederholt versucht, die Aufmerksamkeit von seiner eigenen Verantwortung abzulenken.»
Azmina Dhrodia, Amnesty International
«Twitter hat wiederholt versucht, die Aufmerksamkeit von seiner eigenen Verantwortung abzulenken, indem es das Problem auf die Gesellschaft schiebt. Wir fordern sie nicht auf, die Probleme der Welt zu lösen. Wir bitten sie, konkrete Änderungen vorzunehmen, die klar machen, dass Gewalt gegen Frauen auf Twitter nicht geduldet wird», sagte Azmina Dhrodia.
Internetplattformen in die Pflicht nehmen
Auch in der Schweiz wächst der Druck auf Internetplattformen, verstärkt gegen Hass im Netz vorzugehen. Eine Motion von Nationalrat Balthasar Glättli (Grüne/ZH) verlangt etwa, dass grosse kommerzielle Internetplattformen über ein obligatorisches Zustellungsdomizil in der Schweiz verfügen müssen. Dies soll Klagen von Betroffenen von Hass und Verleumdungen im Netz erleichtern und beschleunigen.