Wer im Sexgewerbe arbeitet, ist überall auf der Welt besonders häufig Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt. Physische, psychische und sexuelle Gewalt, willkürliche Festnahmen, Erpressung und Schikanen, unfreiwillige HIV-Tests und medizinische Zwangsuntersuchungen sind nur einige davon. Auch grundlegende soziale Rechte wie der Zugang zu Gesundheitsversorgung oder zu Wohnraum werden Sexarbeitenden oft verweigert. Marginalisierte Gruppen, wie Migrant*innen oder Transpersonen, spüren Diskriminierungen noch stärker. Amnesty International weist seit Jahren auf diese Diskriminierungen und Gewalterfahrungen hin und setzt sich für die Rechte von Sexarbeiter*innen ein.
Die Rechte von Sexarbeitenden sind Menschenrechte. Ihre Persönlichkeits-, Freiheits- und Selbstbestimmungsrechte, der diskriminierungsfreie Zugang zu Gesundheits- und Sozialdienstleistungen und weitere soziale und wirtschaftliche Rechte, Schutz vor Ausbeutung, Gewalt, Erpressung und anderen Übergriffen – all diese Rechte müssen Sexarbeitenden genauso zustehen wie allen anderen Menschen auch.
Die Entkriminalisierung des Sexgewerbes ist eine der zentralen Voraussetzungen, damit Sexarbeiter*innen ihre Rechte wahrnehmen und ihr Schicksal in die eigenen Hände nehmen können. Sie sollen ihre Tätigkeit ausüben dürfen, ohne das Gesetz zu brechen. Wenn nicht nur ihre Tätigkeit, sondern auch ihr Arbeitsumfeld entkriminalisiert ist, gibt das den oft marginalisierten und abhängigen Menschen im Sexgewerbe mehr Möglichkeiten, unabhängig zu arbeiten, sich zu organisieren und sich selbst für ihre Rechte einzusetzen. Amnesty fordert aber auch proaktive Massnahmen zum Schutz von Sexarbeitenden: namentlich Massnahmen gegen Ausbeutung, Nötigung, Gewalt, Erpressung und natürlich gegen sexuelle Ausbeutung von Minderjährigen und gegen Menschenhandel.
Im Wissen darum, dass viele Menschen gegen ihren Willen in die Sexarbeit gedrängt werden und dass viele diese Tätigkeit aus wirtschaftlicher Not betreiben, bekräftigt Amnesty zudem die grosse Bedeutung der sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Rechte aller Menschen.
Nein, Amnesty fordert Entkriminalisierung, nicht aber unbedingt Legalisierung des Sexgewerbes.
Entkriminalisierung bedeutet, dass einvernehmliche sexuelle Beziehungen unter Erwachsenen, auch wenn diese bezahlt sind, nicht strafrechtlich verfolgt werden. Dies entspricht einer international gültigen Menschenrechtsnorm. Auch mit der Ausübung von Sexarbeit verbundene Aktivitäten wie Vermittlung/Zuhälterei, Wohnungsvermietung, Unterstützung in sozialen Fragen etc. sollen nicht dem Strafgesetz unterstellt werden, ausser wenn Straftatbestände wie Ausbeutung, Nötigung, Gewalt, Erpressung vorliegen oder Menschenhandel im Spiel ist. Solche Straftaten sollen weiterhin klar verfolgt werden. Dort, wo das Gewerbe aus dem Schatten der Illegalität geholt wird, lassen sie sich auch viel besser verfolgen.
Legalisierung hingegen bedeutet, dass Sexarbeit z.B. über Gewerbegesetze, Arbeitsgesetze oder Gesetze zur öffentlichen Sicherheit und Ordnung geregelt wird. Dazu, ob und wie Staaten dies tun, äussert sich Amnesty bewusst nicht. Staaten müssen jedoch sicherstellen, dass sich solche Gesetze nicht zum Nachteil (eines Teils) der Sexarbeitenden auswirken, diskriminierend sind oder anderweitig zu Menschenrechtsverletzungen führen. Wenn Sexarbeiter*innen z.B. hohe administrative Hürden überwinden müssen, um legal arbeiten zu dürfen, dass sie wiederum in die Abhängigkeit von grossen Bordellbesitzer*innen, in die Fänge des organisierten Verbrechens oder in die Illegalität gedrängt werden, kann dies erneut zu strafrechtlicher Verfolgung führen, aber auch zu höherer Verletzlichkeit. Viele Betroffene, mit denen Amnesty im Rahmen der Untersuchungen gesprochen hat, fordern deshalb Entkriminalisierung des Gewerbes, fürchten aber die Folgen einer Legalisierung, von der sie womöglich erneut an den Rand gedrängt würden.
Nein. Die Positionierung von Amnesty dreht sich nicht um die Freiheiten oder die Menschenrechte von Freier*innen und Zuhälter*innen, sondern der Sexarbeiter*innen. Tatsächlich gibt es aber in vielen Ländern Gesetze gegen Zuhälterei oder gegen «Förderung der Sexarbeit», die so breit sind, dass zum Beispiel nur schon zwei Sexarbeiterinnen, die zusammen eine Wohnung mieten, als Bordellbesitzerinnen betrachtet und darum strafrechtlich verfolgt werden. Oder die Familienangehörigen eines Sexarbeiters machen sich strafbar, weil sie als von der Sexarbeit profitierende Dritte betrachtet werden. Solche Gesetze gehen fast immer auf Kosten der betroffenen Sexarbeitenden, während strafbare Handlungen wie Ausbeutung in der Sexarbeit, Nötigung, Gewalt oder Menschenhandelt zu wenig konsequent strafrechtlich verfolgt und teilweise mit lächerlich geringen Gefängnisstrafen geahndet werden.
Amnesty International spricht sich seit langem klar gegen jede Form von Menschenhandel aus und hat sich stark für stärkere internationale Normen in diesem Bereich eingesetzt, etwa für die Europaratskonvention zur Bekämpfung von Menschenhandel. Menschenhandel ist ein Verbrechen, das im internationalen Recht heute ganz klar definiert ist. Staaten haben die Pflicht, Menschenhandel zu bekämpfen, die Opfer zu schützen und ihnen ihre Rechte wiederzugeben.
Menschenhandel in die Sexarbeit und Sexarbeit selbst müssen aber klar unterschieden werden. Eine Entkriminalisierung des Sexgewerbes heisst nicht, dass Menschenhändler*innen nicht mehr verfolgt werden und Menschenhandel nicht mehr bekämpft werden soll. Es gibt aber keine Beweise dafür, dass eine Entkriminalisierung des Sexgewerbes zu mehr Menschenhandel führt. Im Gegenteil: Wie andere internationale Organisationen, etwa Anti-Slavery International oder die Internationale Arbeitsorganisation ILO ist Amnesty International aufgrund ihrer Analysen zum Schluss gekommen, dass sich Menschenhandel weltweit besser bekämpfen lässt, wenn das Gewerbe entkriminalisiert ist. Wenn Sexarbeit keine Straftat ist, haben Sexarbeiter*innen auch bessere Möglichkeiten, sich zusammenzuschliessen, ihre Rechte wahrzunehmen und Übergriffe zu melden. Wer nicht selbst eine Strafverfolgung fürchten muss, ist auch eher bereit, mit Polizei und Strafverfolgungsbehörden zusammen zu arbeiten.
Amnesty setzt sich für die Überwindung der Ungleichheit zwischen den Geschlechtern und gegen patriarchale, heterosexuelle Geschlechternormen ein, die sowohl Ursache wie Folge von Menschenrechtsverletzungen sind. Die Tatsache, dass im Sexgewerbe überwiegend Frauen arbeiten, darunter auch oft Transfrauen, während Männer in der Minderzahl sind, hat viel mit solchen Geschlechterverhältnissen und Normen zu tun. Die Gleichsetzung von Sexarbeit an sich mit einer geschlechtsspezifischen Menschenrechtsverletzung an Frauen und LGBTI* greift für Amnesty International aber zu kurz. Eine Kriminalisierung des Gewerbes gibt Frauen nicht mehr, sondern noch weniger Macht und Autonomie in die Hand. Der Kampf für die Rechte von Frauen, Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transmenschen muss bei den alltäglichen Geschlechterverhältnissen, bei diskriminierenden Gesetzen und Normen und bei Gewalt an Frauen und LGBTI*in allen ihren Formen ansetzen. Dies bleibt deshalb ein zentrales Thema der Amnesty-Arbeit.
Amnesty macht mithilfe von Advocacy-Arbeit und Aktionen auf die Situation von Sexarbeitenden aufmerksam und sensibilisiert die Öffentlichkeit für die Diskriminierungen und Gewalterfahrungen, die Sexarbeitende machen müssen. Die Stigmatisierung, die Sexarbeiter*innen erfahren, kann nur behoben werden, indem gesamtgesellschaftlich Vorurteile aufgehoben und widerlegt werden. Amnesty ist Teil der Schweizer Koalition für die Rechte von Sexarbeitenden und setzt sich hier gemeinsam mit anderen Organisationen für die Entkriminalisierung und den Schutz von Sexarbeitenden ein. Im Rahmen dieser Organisation entstand beispielsweise auch dieser Bericht, der aufzeigt, wie oft Sexarbeiter*innen Gewalt ausgesetzt sind.