Zahlreiche Aktivistinnen, Aktivisten und Unterstützende riefen in Bern Bundesrätin Karin Keller-Sutter und das neu gewählte Parlament dazu auf, die Definition der Vergewaltigung und der sexuellen Nötigung im Strafgesetzbuch zu ändern. «Sex braucht die Zustimmung aller Beteiligten. Alle sexuellen Handlungen ohne Einwilligung müssen endlich angemessen bestraft werden können», sagte Manon Schick, Geschäftsleiterin von Amnesty Schweiz bei der Petitionsübergabe.
Schwarzgekleidete Aktivistinnen mit einem roten Handabdruck auf dem Mund machten darauf aufmerksam, dass viele Opfer sexueller Gewalt heute wegen einer veralteten und zu eng gefassten Definition von Vergewaltigung vor Gericht keine Chance haben und Täter straffrei ausgehen. Mit Bannern und Plakaten forderten sie «NUR JA HEISST JA» und «SEX OHNE ZUSTIMMUNG IST VERGEWALTIGUNG. DAS MUSS INS GESETZ».
Der Petition von Amnesty International angeschlossen haben sich zahlreiche Verbände und Frauenrechtsorganisationen, darunter Alliance F, SEXUELLE GESUNDHEIT Schweiz, TERRE DES FEMMES Schweiz und Juristinnen Schweiz. Eine Reform des Sexualstrafrechts, die das Prinzip der Einwilligung ins Zentrum stellt, wird auch von diversen Opferhilfestellen sowie von 22 Schweizer Strafrechtsprofessorinnen und -professoren gefordert.
Opfer werden im Stich gelassen
«Das geltende Sexualstrafrecht fokussiert viel zu stark auf Gewalt und das Verhalten des Opfers, anstatt sich darauf zu konzentrieren, ob eine beidseitige Einwilligung vorgelegen hat. Heute muss ein Täter das Opfer nötigen, damit ein sexueller Übergriff rechtlich als Vergewaltigung gilt. Doch ein grosser Teil der Frauen, die wir beraten, haben sexuelle Übergriffe erlebt, bei denen der Täter keine physische Gewalt anwandte. Ihre Fälle sind vor Gericht häufig chancenlos», sagte Agota Lavoyer von der Opferhilfestelle LANTANA.
«Der gesellschaftliche Umgang mit sexueller Gewalt ist in hohem Masse widersprüchlich.»Agota Lavoyer von der Opferhilfestelle LANTANA
«Der gesellschaftliche Umgang mit sexueller Gewalt ist in hohem Masse widersprüchlich. Einerseits scheint ein öffentlicher Konsens darüber zu bestehen, dass sexuelle Handlungen gegen den Willen einer Person nicht tolerierbar sind und angemessen bestraft werden sollten. Andererseits wird gestützt auf das aktuelle Sexualstrafrecht immer wieder zwischen ‘echter’ und ‘unechter’ Vergewaltigung unterschieden. Für Betroffene hat das verheerende Folgen. Sie werden abgewertet und mitverantwortlich gemacht, weil sie sich nicht genügend gegen den Übergriff gewehrt haben», sagte Agota Lavoyer.
Bundesrat und Parlament in der Pflicht
«Die Definition der Vergewaltigung und sexuellen Nötigung im Schweizer Strafrecht ist veraltet und muss dringend revidiert werden. Die Definition widerspricht internationalen Normen und steht im Widerspruch zur Istanbul-Konvention des Europarats, zu der sich auch die Schweiz verpflichtet hat», sagte Barbara Berger, Geschäftsleiterin der Organisation SEXUELLE GESUNDHEIT Schweiz.
«Es ist nicht die Aufgabe der Frauen, sich vor sexueller Gewalt zu schützen.»
Barbara Berger, Geschäftsleiterin der Organisation SEXUELLE GESUNDHEIT Schweiz.
«Es ist nicht die Aufgabe der Frauen, sich vor sexueller Gewalt zu schützen. Es ist die Aufgabe von Parlament und Behörden, Gesetze zu schaffen, die dazu führen, dass Opfer sexueller Gewalt Gerechtigkeit erfahren und respektvoll behandelt werden. Eine Reform würde auch ein wichtiges präventives Signal an junge Menschen senden: Dass es für sexuelle Handlungen in jedem Fall die gegenseitige Zustimmung braucht!», sagte Barbara Berger.
«Wir Frauen müssen endlich Klartext sprechen und öffentlich unser Recht einfordern: Sexuelle Gewalt kann jede von uns, jederzeit betreffen. Wir sind nicht länger bereit, das hinzunehmen! Jetzt ist Zeit für einen Wandel!», sagte Karen Fleischmann, Model, Aktivistin und prominentes Gesicht der «Erst Ja, dann ahh…»-Kampagne von Amnesty International.
Petition an Bundesrätin Keller-Sutter
«Wir hoffen, dass das neue Parlament mit der höheren Frauenvertretung andere Prioritäten setzt.»
Manon Schick, Geschäftsleiterin von Amnesty Schweiz
«Trotz des Aufschreis in der Öffentlichkeit ist der Bundesrat nicht von seiner bisherigen Linie abgewichen und behauptet weiterhin, dass eine Neu-Definition der Vergewaltigung nicht nötig sei. Wir hoffen, dass das neue Parlament mit der höheren Frauenvertretung andere Prioritäten setzt und eine echte Revision des veralteten Rechts in Angriff nimmt», ergänzte Manon Schick.
Amnesty International ruft mit der Petition an Justizministerin Karin Keller-Sutter und das Eidgenössische Justiz- und Polizeidepartement dazu auf, Vorschläge für eine Reform des Sexualstrafrechts vorzulegen, damit alle sexuellen Handlungen ohne Einwilligung angemessen bestraft werden können. Weiter verlangt die Petition die obligatorische Ausbildung und kontinuierliche Schulung bei Justiz, Polizei sowie für Anwältinnen und Anwälte im Umgang mit Betroffenen von sexueller Gewalt sowie systematische Datenerhebungen und Forschung zur strafrechtlichen Verfolgung von Delikten gegen die sexuelle Integrität in der Schweiz.
Schockierende Dunkelziffer
Eine repräsentative Erhebung von gfs.bern im Auftrag von Amnesty International lieferte Ende Mai 2019 zum ersten Mal genauere Zahlen zur Verbreitung sexueller Belästigung und sexueller Gewalt in der Schweiz. Die Umfrage ergab schockierende Zahlen: 22 Prozent der Befragten haben während ihres Lebens ungewollte sexuelle Handlungen erlebt, 12 Prozent erlitten Geschlechtsverkehr gegen den eigenen Willen. Nur 8 Prozent der Betroffenen erstatteten nach sexueller Gewalt Anzeige bei der Polizei.
Die Istanbul-Konvention, ein Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung sexueller Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt, trat im April 2018 in der Schweiz in Kraft. Laut der Konvention hat eine Vergewaltigung und jede sexuelle Handlung mit einer anderen Person ohne gegenseitiges Einverständnis (Consent) als Straftat zu gelten (Art. 36). Der Ausschuss des Europarats GREVIO, der die Umsetzung der Istanbul-Konvention in den Mitgliedsländern überwacht, wird 2021 die Schweiz besuchen. Bisherige GREVIO-Länderberichte lassen den Schluss zu, dass auch das Schweizer Sexualstrafrecht mit internationalen Menschenrechtsnormen nicht konform ist und deshalb angepasst werden muss. Zu diesem Ergebnis kommt auch eine juristische Analyse von Amnesty International.
Liste der unterzeichnenden Organisationen
Amnesty International
Alliance f
Juristinnen Schweiz
NGO-Koordination post Beijing Schweiz
humanrights.ch
SEXUELLE GESUNDHEIT Schweiz
TERRE DES FEMMES Schweiz
Le deuxième Observatoire
c f d. Christlicher Friedensdienst
DécadréE
FemWiss Verein Feministische Wissenschaft Schweiz
IAMANEH Schweiz
InterAction Suisse - Association suisse pour les intersexes
LOS Lesbenorganisation Schweiz
TGNS Transgender Network Switzerland
FriedensFrauen Weltweit - PeaceWomen Across the Globe (PWAG)
Frauen* für den Frieden Schweiz
SEV Frauenkommission
INSOS Schweiz
CISA Schweiz
Aktivistin.ch
frbb, frauenrechte beider basel
Collectif genevois de la Grève féministe/Grève des femmes*
FVGS Fachverband Gewaltberatung Schweiz
vahs. Fachstelle Prävention von Gewalt und sexueller Ausbeutung
BIF Beratungsstelle für Frauen gegen Gewalt in Ehe und Partnerschaft
frabina
Fachstelle Frauenberatung sexuelle Gewalt
Stiftung gegen Gewalt an Frauen und Kindern
Frauenhaus, Bern
Frauenhaus Thun – Berner Oberland
Lantana - Fachstelle Opferhilfe bei sexueller Gewalt, Bern
Vista - Fachstelle Opferhilfe bei sexueller und häuslicher Gewalt, Thun
Frauenhaus St. Gallen
Verein Frauennottelefon Winterthur
Centre d’accueil MalleyPrairie
Centre Prévention de l’Ale
Opferhilfe beider Basel
Opferhilfe Bern. Beratungsstellen Opferhilfe Bern und Biel
SOLIDARITE FEMMES BIEL/BIENNE & REGION
Frauenhaus freiburg – Opferberatungstelle
Verein Unterschlupf