Grossbritannien, Irland, Belgien, Luxemburg, Deutschland, Zypern, Island, Schweden und Griechenland: Dies sind die neun europäischen Länder, die derzeit nicht-einvernehmlichen Geschlechtsverkehr als Vergewaltigung einstufen. Belgien hat bereits 1989, vor dreissig Jahren, eine Definition von Vergewaltigung auf Basis mangelnder Zustimmung eingeführt. Das vorerst letzte Land, das den Schritt getan hat, war Griechenland im Juni 2019.
Während die anderen europäischen Staaten Vergewaltigung immer noch über die Anwendung eines Zwangsmittels durch den Täter und nicht basierend auf mangelnder Zustimmung des Opfers definieren, vervielfältigen sich die Reformvorschläge auf dem gesamten Kontinent. Vergangenen Juni gab die dänische Regierung ihre Absicht bekannt, die Definition von Vergewaltigung so anzupassen, dass nicht-einvernehmlicher Geschlechtsverkehr als Vergewaltigung eingestuft wird. Eine entsprechende Reform wird voraussichtlich im Oktober in die Vernehmlassung geschickt. In Spanien hat die Regierung in Folge einer Gruppenvergewaltigung, die in der Bevölkerung grosse Empörung ausgelöste, ihre Absicht bekräftigt, das Strafgesetzbuch zu revidieren und eine Definition von Vergewaltigung nach dem Prinzip «Ja heisst Ja» einzuführen. Auch das portugiesische und das slowenische Parlament prüfen derzeit entsprechende Reformen. Im vergangenen Mai bekundete der niederländische Minister für Justiz und Sicherheit seine Absicht, «Sex ohne Zustimmung» unter Strafe zu stellen, indem ein neuer Tatbestand in das Strafgesetzbuch aufgenommen wird. Zudem setzte der finnische Justizminister kürzlich eine Arbeitsgruppe zur Reform des Sexualstrafrechts ein.
Europa-Rat ExpertInnen kritisieren Ansatz der Gewaltorientierung
Am 2. September veröffentlichte die GREVIO-ExpertInnengruppe, welche die Umsetzung des Übereinkommens des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention) durch die Vertragsstaaten überwacht, einen Bericht zu Finnland. Darin wird unmissverständlich die problematische Definition von Vergewaltigung im dortigen Strafrecht kritisiert. «Die Straftat der Vergewaltigung basiert nicht ausschliesslich auf dem Fehlen von Zustimmung, dem zentralen Element der Definition sexueller Gewalt durch die Istanbul-Konvention. Vergewaltigungen werden weiterhin kategorisiert nach dem Grad der vom Täter ausgeübten körperlichen Gewalt, der Androhung von Gewalt oder nach der Verpflichtung, nachzuweisen, dass sich das Opfer in einem Zustand der Angst oder Hilflosigkeit befand und nicht in der Lage war, sich zu verteidigen, seinen Willen zu formulieren oder auszudrücken. Das Problem bei diesem Ansatz ist, dass die unterschiedlichen Realitäten von Frauen, die sexuelle Gewalt erleben, sowie die unterschiedlichen Reaktionen darauf (z.B. Einfrieren) nicht berücksichtigt werden. Die Folge ist, dass nicht alle Formen von Gewalt in Finnland kriminalisiert werden, wie es die Konvention verlangt», heisst es im Bericht.
Es ist sehr wahrscheinlich, dass GREVIO im Bericht zur Schweiz ähnliche Schlussfolgerungen ziehen wird. Dieser erscheint voraussichtlich 2022. Die Istanbul-Konvention ist in der Schweiz im April 2018 in Kraft getreten. Als Vertragsstaat ist die Schweiz gemäss Artikel 36 verpflichtet, jegliche sexuellen Handlungen mit einer anderen Person ohne deren Zustimmung unter Strafe zu stellen. Dies stellt eine Erweiterung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte dar, der bereits 2003 festgehalten hatte, dass alle Mitgliedstaaten verpflichtet seien, nicht-konsensuelle sexuelle Handlungen zu ahnden. Eine aktuelle rechtliche Analyse von Amnesty International zeigt deutlich, dass die Schweizer Gesetzgebung den Anforderungen der Istanbul-Konvention und des internationalen Rechts nicht genügt und in mehrfacher Hinsicht überarbeitet werden muss.
Veraltete Schweizer Gesetzgebung
Tatsächlich gilt im geltenden Schweizer Strafgesetzbuch anale, orale oder vaginale Penetration ohne Zustimmung immer noch nicht als Vergewaltigung (Art. 190 StGB). Darüber hinaus braucht es für die Kategorisierung als sexuelle Nötigung oder Vergewaltigung immer ein Nötigungsmittel: Der Täter muss «bedrohen», «Gewalt anwenden», «unter psychischen Druck setzen» oder «zum Widerstand unfähig machen». Wenn kein Nötigungsmittel verwendet wird, gilt die Tat in der Schweiz nicht als sexuelle Nötigung oder Vergewaltigung – selbst wenn das Opfer klar «Nein» gesagt hat.
Unbefriedigende Antwort des Bundesrats
Parlamentarierinnen diverser Parteien haben den Bundesrat in den letzten Monaten gebeten, Stellung zu nehmen zu den in der Schweiz im Hinblick auf die Ratifizierung der Istanbul-Konvention notwendigen Reformen. Doch die Antworten des Bundesrates sind unbefriedigend. Wie ist es möglich, dass die Schweizerische Gesetzgebung mit der Istanbul-Konvention konform ist, wenn andere europäische Länder mit ähnlichen Definitionen von Vergewaltigung bereits von der ExpertInnengruppe, die die Umsetzung der Konvention überwacht, ermahnt wurden? Und wie kommt es, dass der Bundesrat bewusst entscheidet, die Stimmen verschiedener AkteurInnen zu ignorieren, die eine Revision der Definition von Vergewaltigung fordern, darunter insbesondere die Mehrheit der Schweizer StrafrechtsprofessorInnen und Opferhilfestellen? Wir hoffen, dass Bundesrat und Parlament die jüngsten Diskussionen in anderen europäischen Ländern nicht nur mit Interesse verfolgen, sondern sich auch von ihnen inspirieren lassen, um endlich einen Vorschlag zur Reform des Strafgesetzes zu konkretisieren, das Gerechtigkeit für Betroffene sexueller Gewalt schafft und die sexuelle Selbstbestimmung besser schützt.
Zu den Antworten des Bundesrats auf die Interpellationen der Parlamentarierinnen.