Sexuelle Gewalt Strafrechtsprofessoren stellen sich hinter Amnesty-Forderung

Die Mehrheit der Schweizer Strafrechtsprofessorinnen und -professoren unterstützt eine grundlegende Reform des schweizerischen Sexualstrafrechts. In einem öffentlichen Appell schlossen sich 22 Strafrechtlerinnen und Strafrechtler aus der ganzen Schweiz der Petition von Amnesty International an.

«Wir, 22 Strafrechtsprofessorinnen und -professoren aus der ganzen Schweiz, unterstützen die politischen Bestrebungen für eine grundlegende Reform des schweizerischen Sexualstrafrechts. Wir schliessen uns der Petition von Amnesty International an, in der Bundesrätin Karin Keller-Sutter aufgerufen wird, Massnahmen zu ergreifen, damit Betroffene besser vor sexuellen Übergriffen geschützt werden können.»

 «Insbesondere unterstützen wir eine Revision des Strafgesetzbuches: Nicht konsensuale sexuelle Handlungen sollen unabhängig vom Geschlecht des Opfers angemessen bestraft werden können, namentlich soll Geschlechtsverkehr ohne Einwilligung als Vergewaltigung zu bestrafen sein», schreiben die Strafrechtsprofessorinnen und -professoren in einem gemeinsamen Gastbeitrag, der am 3. und 4. Juni in den Zeitungen «Der Bund» und «Tages-Anzeiger» publiziert wurde.

 «Schockierendes Ausmass an Gewalt»

 «Sexuelle Übergriffe finden in der Schweiz in einem schockierenden Ausmass statt. Zur Rechenschaft gezogen werden Täter jedoch nur selten. Ein wichtiger Grund für die geringe Strafverfolgung liegt im veralteten schweizerischen Sexualstrafrecht, das dem hohen Wert der sexuellen Selbstbestimmung und dem entsprechenden Schutzbedürfnis nicht gerecht wird», heisst es in dem Beitrag weiter.

Geschlechtsverkehr, den nicht beide Sexualpartner wollen, werde bislang nur dann als schweres Unrecht qualifiziert, wenn das Opfer dazu genötigt wurde. Der Täter müsse also Gewalt anwenden, das Opfer bedrohen, unter psychischen Druck setzen oder zum Widerstand unfähig machen. Habe der Täter ohne Einwilligung gehandelt und sich über ein ausdrückliches «Nein» des Opfers hinweggesetzt, aber kein Nötigungsmittel wie Gewalt oder Drohung angewendet, könne die Tat nicht als Vergewaltigung oder sexuelle Nötigung bestraft werden.

 «Das heutige Gesetz verlangt vom Opfer also indirekt, dass es sich zur Wehr setzt und damit weitere Verletzungen in Kauf nimmt. Hat das Opfer zwar deutlich ‘Nein’ gesagt, sich aber nicht zusätzlich physisch zur Wehr gesetzt, bleibt dieser massive Eingriff in die sexuelle Selbstbestimmung des Opfers regelmässig straflos. Dieses veraltete Sexualstrafrecht erfüllt die menschenrechtlichen Vorgaben nicht, die die Schweiz im Jahr 2018 mit der Ratifizierung des Übereinkommens des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt freiwillig übernommen hat.»

Das heutige Gesetz sende zudem eine verheerende Botschaft nicht nur an die Opfer von sexuellen Übergriffen, sondern auch an die potenziellen Täter: «Sofern ihr das Opfer nicht durch die Anwendung von Gewalt oder Drohungen nötigt, werdet ihr nicht bestraft, egal ob das Opfer den Geschlechtsverkehr will oder nicht.» Damit würden unweigerlich auch gut gemeinte Versuche unterminiert, die Menschen im Hinblick auf einen respektvolleren Umgang miteinander zu sensibilisieren. «Ein entsprechendes Umdenken in der Gesellschaft wird deutlich erschwert, und die Opfer werden im Stich gelassen.»

Keine Beweislastumkehr

 «Nachdrücklich halten wir fest: Die von uns unterstützte Reform lässt das Prinzip der Unschuldsvermutung völlig unangetastet. Sie führt nicht zu einer Umkehr der Beweislast. Nicht der mutmassliche Täter muss sich entlasten. Es wird nach wie vor die Aufgabe der Anklage sein, zu beweisen, dass der mutmassliche Täter gegen den Willen des Opfers gehandelt hat.»

Die Strafrechtsprofessorinnen und -professoren weisen darauf hin, dass bereits mehrere Staaten des Europarates das Sexualstrafrecht wie vorgeschlagen revidiert haben. Der deutsche Bundestag etwa habe 2016 eine vergleichbare Reform des Sexualstrafrechts einstimmig beschlossen.

 «Wir werden uns auf jeden Fall einsetzen für eine konstruktive Debatte, in der mit vereinten Kräften eine angemessene und praktikable Ausgestaltung eines modernen und zukunftsweisenden Sexualstrafrechts verwirklicht werden kann», schliessen die 22 Strafrechtlerinnen und -strafrechtler ihren Appell.

Unterzeichnet haben den Aufruf 22 Strafrechtsprofessorinnen und -professoren der Universitäten Basel, Bern, Fribourg, Genf, Luzern, Neuenburg und Zürich.