Jede fünfte Frau in der Schweiz hat mindestens einmal in ihrem Leben sexualisierte Gewalt erlebt. Viele der Vorfälle werden nie zur Anzeige gebracht und bleiben strafrechtlich folgenlos. Denn 49 Prozent der Betroffenen behalten ihre Erlebnisse für sich.
Nicht so die sieben Aktivist*innen, welche in der neuen Ausstellung von Amnesty International ihre Geschichten erzählen und mit den gesellschaftlichen Mythen, Tabus und Stigmata brechen, die sich bis heute in der Gesellschaft halten.
«Es gibt starke gesellschaftliche Erwartungen, wie eine betroffene Person reagieren soll – vor, während und nach der Tat.» Cindy Kronenberg, Aktivistin
«Es gibt starke gesellschaftliche Erwartungen, wie eine betroffene Person reagieren soll – vor, während und nach der Tat. In der Realität ist es oft ganz anders. Das muss die Gesellschaft verstehen», sagt die Aktivistin Cindy Kronenberg. Gemeinsam mit anderen von sexualisierter Gewalt Betroffenen engagiert sie sich mit Amnesty International für sexuelle Selbstbestimmung und eine Reform des Sexualstrafrechts: Denn in der Schweiz gilt eine ungewollte Penetration weiterhin nur dann als Vergewaltigung, wenn der Täter das Opfer zusätzlich genötigt hat, etwa durch Gewalt oder Drohungen.
«Wir wollen zeigen, dass Vergewaltigungen in ganz unterschiedlichen Situationen geschehen, die wenig mit vorherrschenden Mythen zu tun haben. Und wir wollen das Verständnis dafür schärfen, dass eine Vergewaltigung vielfältige langfristige und traumatische Auswirkungen auf das Leben von Betroffenen haben kann», sagt Cyrielle Huguenot, Frauenrechtsverantwortliche bei Amnesty Schweiz. «Wir setzen uns ein für eine Gesellschaft, in der sexuelle Selbstbestimmung verwirklicht werden kann und sexualisierte Gewalt nicht länger toleriert wird.»
Indem sie ihre Geschichten erzählen, befreien sich die Aktivist*innen von Scham und Schweigen. Sie wollen mit ihren Geschichten anderen Betroffenen Mut machen und das Thema sexualisierte Gewalt enttabuisieren.
Was passiert nach einer Vergewaltigung?
Im Fokus der Ausstellung stehen nicht die Gewalttaten, sondern das, was danach passiert: Wie finden Betroffene nach einer Vergewaltigung zurück zur eigenen sexuellen Selbstbestimmung und zur eigenen Sexualität? Wie fühlt es sich an, nach der Tat nicht duschen zu können, sondern stundenlang auf einer Polizeiwache befragt zu werden? Warum entscheiden sich Betroffene gegen eine Anzeige?
Diesen Fragen geht Amnesty International auch während einer Podiumsdiskussion nach, welche im Rahmen der Vernissage stattfindet. Jorinde Wiese, eine von sexualisierter Gewalt Betroffene und Aktivist*in, Agota Lavoyer, Expertin für sexualisierte Gewalt und Opferberatung, Christoph Gosteli, Berater des Mannebüro Zürich und Dominice Häni, Forensic Nurse, diskutieren, was nach einer Vergewaltigung passiert und wie die Prozesse weniger traumatisch gestaltet werden können, damit mehr Betroffene das Schweigen brechen – und die Straflosigkeit der Täter ein Ende hat.
Amnesty International setzt sich aktiv für eine zeitgemässe, konsens-basierte Reform des Schweizer Sexualstrafrechts ein, die den Betroffenen von sexualisierter Gewalt gerecht wird. «Wir sind weiterhin der Ansicht, dass nur die Zustimmungslösung «Nur Ja-heisst-Ja» die Anforderungen internationaler Menschenrechtsnormen wie der Istanbul-Konvention vollständig erfüllt», sagt Cyrielle Huguenot von Amnesty Schweiz. «Die Betroffenen dürfen nicht dafür verantwortlich gemacht werden, wenn sie nicht in der Lage sind, sich gegen eine Vergewaltigung zu wehren oder Widerspruch zu äussern.»