«Ich bin auf dem Weg nach Hause und gehe auf dem Trottoir. Von hinten nähern sich Schritte. Mein Körper spannt sich an. Sie kommen näher. Ein Impuls möchte dass ich losrenne. Jemand ist jetzt direkt hinter mir. Es ist eine junge Frau... Sie überholt mich. Mein Körper entspannt sich wieder... Vor 19 Jahren allerdings, waren es nicht die Schritte einer Jungen Frau.
Ich bin Stephanie Beutler. Ich bin 39 Jahre alt und Mutter von zwei Söhnen. Auch ich habe, wie so viele von uns, sexuelle Gewalt erlebt.
Die vorherige Anekdote ist keine Geschichte. Sie ist eine Tatsache, eine Normalität mit der ich jeden Tag seit dem 12.11.2003 leben muss. Eine Tat dauert nicht nur 5, 10 oder 30 Minuten.
Wir Opfer tragen diese Folgen ein Leben lang. Sei dies in der eigenen Sexualität beim Vertrauen in andere Menschen, bei der Entscheidung wo und um welche Uhrzeit ich irgendwo entlang gehe... Eine solche Tat hinterlässt Narben in der Psyche, die nie ganz verschwinden. Die Folgen tragen auch nicht nur die Opfer selber, es sind auch die Partner und Partnerinnen die Kinder, die Freunde, die Arbeitskollegen und Kolleginnen es ist das ganze Umfeld, dass spürt, wenn ein Mensch traumatisiert wurde. Wir als Opfer erwarten, dass eine Straftat die ein derart grosses Ausmass an Folgen haben kann, an einem vernünftigen Masstab bemessen wird. Und auch strukturelle Abläufe sollen die Opfer nicht noch zusätzlich belasten oder despektierlich behandeln.
Nach der Gesetzeslage ist das Verhalten des Opfers immer noch zentral. Doch in unseren Augen sollte das Verhalten der angeklagten Person das sein, was im Zentrum steht. Und das kann sich nur ändern, wenn auch unser Strafrecht nicht mehr so formuliert ist.
Die Frage was ein Opfer bei einer Tat getragen hat, ist immer noch eine der am häufigsten gestellten Fragen bei den Einvernahmen. Aber spielt es denn eine Rolle ob ich lange oder kurze Ärmel hatte, während dem ein anderer Mensch meine Grenzen überschreitet? Spielt es eine Rolle wo und wie viel ich gepierct und tätowiert bin?
Denn ab wann darf ein Mensch sich von einem anderen Menschen einfach nehmen was er will? Bei einem Diebstahl ist es ganz klar. NIE! Warum ist dies bei meinem Körper anders? Wann ist der Zeitpunkt gekommen, an welchem ein Mensch zum Selfservice-Buffet wird? Bis dato scheint dies der Fall zu sein, wenn man nicht verständlich genug NEIN gesagt hat oder ich zu sexy gekleidet war. Ich verliere also in genau diesem Moment mein Grundrecht? Meine sexuelle Selbstbestimmung.
Was wir brauchen, ist einen Rechtstext, welcher diese Selbstbestimmung schützt und nicht noch mit all diesen Fragen das Victimblaming und die Vergewaltigungsmythen schürt. Ein Opfer kann und darf nicht mehr zum Mittäter oder zur Mittäterin gemacht werden.
Stellen Sie sich vor, sie geraten in einen Autounfall und die Person vor Ihnen bremst abrupt. Sie wissen nicht ob sie im Affekt nach links rüber ziehen oder nach rechts oder ob sie selbst voll auf die Bremse gehen. Das Verhalten, welches man in einer solchen potenziell lebensbedrohlichen Situation an den Tag legt, ist absolut unberechenbar. Und ausgerechnet dieses Verhalten ist aktuell der Masstab dafür, wie schlimm eine Tat eingestuft wird? Es ist Absurd. Deshalb kann und darf der Fokus nicht mehr auf dem Opferverhalten liegen.
Viele Frauen vermeiden es von Anfang an eine Anzeige zu machen, weil sie wissen, wie schnell Opfer mitbeschuldigt werden und wie schlecht oft die Chancen stehen. Vielen wird sogar von einer Anzeige abgeraten um sie vor der hohen Belastung eines Verfahrens zu schützen. Diese Umstände müssen sich einfach ändern.
Es sollen hierbei nicht nur Hürden für die Opfer abgebaut werden. Unsere Rechtsprechung soll die Botschaft und das Signal enthalten, dass eine Vergewaltigung kein Bagatelldelikt ist, sondern eine Straftat, die hier in der Schweiz klar geahndet wird.
Wir wissen, dass die Vielfalt der sexualisierten Gewalt riesen gross ist. Es kann der Arbeitskollege oder – Kollegin sein, es kann ein Familienmitglied sein, es kann ein Fremder oder eine Fremde sein, es kann ein Partner oder eine Partnerin sein, es kann im stillen, im Privaten geschehen oder draussen am helllichten Tag. Es kann gewaltvoll geschehen oder ganz subtil, schleichend, bis man psychisch überwältigt ist. Es gibt so viele verschiedene Szenarien von sexueller Gewalt, wie es verschiedene Opfer und Tatpersonen gibt. Keine Tat gleicht der andern. Deshalb brauchen wir ein Sexualstrafrecht dass zum einen, dieser riesigen Vielfalt an Taten und zum andern genau so der riesigen Vielfalt an Reaktionen der Opfer gerecht werden kann. Für uns Opfer ist es ganz klar. Nur die Zustimmungslösung hat das Potenzial dieser Vielfalt gerecht zu werden. Wieder ist ein Land uns einen Schritt voraus gegangen. Doch auch wir haben jetzt die riesige Chance etwas daran zu ändern. Deshalb appelliere auch ich an ein: Nur JA heisst JA.»