Ich habe nie Anzeige erstattet. Ich habe mir deswegen viele Vorwürfe gemacht, mir immer wieder den Kopf zerbrochen, ob ich Mitschuld hätte, würde einer der Täter es bei jemand anderem machen. Die Sache ist die: Ich habe mich nicht gewehrt. Obwohl ich Kampfsport machte und Techniken gewusst hätte, die ich hätte einsetzen können. Doch ich war wie erstarrt, fühlte mich, als hätte ich meinen Körper verlassen. Ich war damals 14 Jahre alt. Ich hatte Angst, mit der Geschichte an die Öffentlichkeit zu gehen. Zumal ich alle Beweise vernichtet hatte, die je hätten verwendet werden können. Beweise verschwinden zu lassen heisst nicht immer, eine Tatwaffe zu verstecken. In meinem Fall etwa bedeutete es bloss den Gang unter die Dusche.
Beweise verschwinden zu lassen heisst nicht immer, eine Tatwaffe zu verstecken. In meinem Fall etwa bedeutete es bloss den Gang unter die Dusche. Cathe, von sexualisierter Gewalt Betroffene
Viele denken sich, eine Vergewaltigung, die ist zeitlich begrenzt – danach ist alles wieder gut. Aber die Schäden, die eine Vergewaltigung oder ein Missbrauch mit sich ziehen, sind langjährig. Mich beschäftigt die Tat noch heute. Einige Monate nach der Tat erfuhr mein Vater durch Zufall, was passiert war. Er wollte mir zwar bei einer Anzeige beistehen, doch er sagte mir auch, dass es kein einfacher Gang sei. Ich empfand das damals so, als würde er mir von einer Anzeige abraten. Ich wurde oft konfrontiert mit Sätzen wie: «So schlimm kann es ja nicht sein, sonst hättest du ja Anzeige erstattet.»
Ein paar Tage vor meinem 25. Geburtstag habe ich mit meiner Therapeutin darüber gesprochen, doch noch Anzeige zu erstatten. In der Schweiz ist dies bis zu 20 Jahre nach der Tat möglich, wenn der Vorfall vor dem 16. Lebensjahr stattgefunden hat. Doch auch wenn die Option besteht, später Anzeige zu erstatten: Je mehr Zeit vergeht, desto schwieriger wird es. Zum Übergriff selbst hatte ich Gedächtnislücken: Ich kann mich an den Anfang erinnern und an gewisse Momente dazwischen – Bruchteile, mehr nicht. Das ist ein Schutzmechanismus. Das Hirn blendet gewisse Sachen aus oder vergisst. Aber die Lücken machen eine Geschichte unglaubwürdig. Ich studiere Jura und wir haben schon am Anfang vom Studium gelernt: Es geht nicht um die Wahrheit, sondern um die bessere Geschichte. Wenn meine Geschichte Lücken aufweist, wird sie unglaubwürdig – auch wenn sie der Realität entspricht.
Ich würde meinem jüngeren Ich gern Mut machen: Du wirst nie allein sein, du wirst immer jemanden haben, der dich an die Hand nimmt. Und wenn es keine aussenstehende Person ist, dann bin ich es selbst, die mich an die Hand nimmt und mit mir den Weg geht.