Das Übereinkommen wurde 2011 in der Stadt Istanbul vom Europarat unterzeichnet. Daher wird das «Übereinkommen des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt» auch Istanbul-Konvention genannt. Die internationale Menschenrechtsnorm hat zum Ziel, Gewalt an Frauen und häusliche Gewalt auf regionaler Ebene zu bekämpfen und zu beenden. Die Konvention verpflichtet die ratifizierenden Länder konsequent gegen Gewalt an Frauen und Mädchen vorzugehen, geschlechtsspezifische Gewalt zu bekämpfen und die Rechte von Gewaltbetroffenen auf Unterstützung und Schutz durchzusetzen.
Die Istanbul-Konvention verlangt, alle Formen von sexualisierter Gewalt unter Strafe zu stellen und definiert jegliche nicht einverständlichen sexuellen Handlungen als sexualisierte Gewalt. Die Konvention stützt sich auf die Gewaltprävention, Opferschutz und Strafverfolgung und ruft jede einzelne Person in der Gesellschaft dazu auf, die Einstellung zu Gewalt gegen Frauen und häusliche Gewalt zu überdenken und strebt somit einen Bewusstseinswandel der Einwohnenden an. Die Schweiz hat das Abkommen ratifiziert und es ist im April 2018 in Kraft getreten.
Die Istanbul-Konvention enthält rechtliche Verpflichtungen für die Vertragsstaaten, die vier Aspekte betreffen: Die Prävention von Gewalt gegen Frauen, einschliesslich häuslicher Gewalt, den Opferschutz, die Strafverfolgung der Täter*innen sowie die zwischenstaatliche Zusammenarbeit. Wegweisend ist sie unter anderem, weil sie Femizide, sexualisierte und häusliche Gewalt gegen Frauen als strukturelles, gesellschaftliches Problem betrachtet.
Die GREVIO (Group of experts on action against violence against women and domestic violence)
Überwacht wird die Umsetzung der Istanbul-Konvention von der unabhängigen Expert*innengruppe: die GREVIO. Die Gruppe kontrolliert die Länder, welche die Istanbul-Konvention unterzeichnet haben auf ihre Umsetzung und kann besondere Untersuchungsverfahren einleiten. Die Expert*innengruppe besteht aus aktiven 15 Mitgliedern. Innerhalb der Gruppe wird auf ein ausgewogenes Verhältnis der Geschlechter und Fachwissen im Bereich der Menschenrechte, Gleichstellung der Geschlechter, Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt sowie des Opferschutzes geachtet.
Während der länderspezifischen Überprüfung findet eine erste Beurteilung des Vertragsstaates durch die GREVIO statt. Es folgen Evaluationsrunden, welche Rückmeldungen von andern Europaratsgremien, internationalen Institutionen, Nichtregierungsorganisationen und Nationalen Menschenrechtsinstitutionen berücksichtigen. Reichen die gesammelten Informationen nicht aus, kann die Expert*innengruppe Länderbesuche durchführen. Im Februar 2022 hat die GREVIO die Schweiz besucht und im November 2022 den ersten Evaluationsbericht mit Empfehlungen an die Schweiz veröffentlicht. Der Bundesrat soll bis Dezember 2025 den Europarat über die getroffenen Massnahmen zur Umsetzung der GREVIO Empfehlungen informieren.
Revision des Schweizer Sexualstrafrechts
In der Istanbul-Konvention ist festgehalten, dass eine Vergewaltigung und jede sexuelle Handlung mit einer anderen Person ohne gegenseitige Einwilligung als Straftat gilt (Art. 36). Im Schweizer Sexualstrafrecht war dies bis jetzt nicht der Fall: Der Rechtsbegriff der Vergewaltigung basiert bisher auf Nötigung, das heisst es muss Gewalt, Gewaltandrohung oder psychischer Druck angewendet worden sein. Von der betroffenen Person wird indirekt verlangt, dass sie sich aktiv zur Wehr setzt. Die Kriterien der Gewaltanwendung und des Widerstands treffen auf einen grossen Teil der Übergriffe nicht zu und halten viele Betroffene von einer Anzeige ab. «Lähmungen» oder «Schockzustände», auch «Freezing» genannt werden von Expert*innen jedoch als eine sehr häufige psychologische Reaktion auf sexualisierte Gewalt anerkannt.
Nach vier Jahren Kampagne, die Amnesty International mit der Unterstützung von über 80 Organisationen koordiniert hat, hat das Schweizer Parlament im Juni 2023 ein neues Gesetz zur Revision des Sexualstrafrechts verabschiedet. Dieses Gesetz wird am 1. Juli 2024 in Kraft treten. Eine Vergewaltigung (Art. 190 StGB) oder ein sexueller Übergriff und sexuelle Nötigung (Art. 189 StGB) werden neu bereits dann vorliegen, wenn die betroffene Person der Tatperson durch Worte oder Gesten zeigt, dass sie mit der sexuellen Handlung nicht einverstanden ist, und die Tatperson sich vorsätzlich über den geäusserten Willen der betroffenen Person hinwegsetzt. Damit wird die sogenannte Ablehnungslösung («Nein-heisst-Nein»-Lösung) umgesetzt. Als Zeichen der Ablehnung wird neben Worten oder Ges-ten auch der Schockzustand der betroffenen Person , das sogenannte Freezing, gewertet. Erstarrt das Opfer vor Furcht und kann es sich deshalb nicht ablehnend äussern oder zur Wehr setzen, wird die Tatperson in Zukunft ebenfalls wegen Vergewaltigung oder sexuellem Übergriff und sexueller Nötigung bestraft, wenn sie diesen Schockzustand erkannt hat.
Nicht mehr die Anwendung eines Zwangsmittels durch den Täter, sondern die Ablehnung eines Opfers wird in Zukunft definieren, was strafrechtlich relevante Gewalt ist. Noch dazu wird der Tatbestand der Vergewaltigung ab dem 1. Juli 2024 geschlechtsneutral formuliert, so dass künftig Personen jeglichen und nicht nur weiblichen Geschlechts Opfer einer Ver-gewaltigung sein können. Ausserdem werden sämtliche Penetrationsformen statt nur der «Beischlaf» erfasst.
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