© REUTERS/Yves Herman
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Gefährlicher Sicherheitswahn Antiterrorgesetze untergraben die Grundrechte in Europa

Medienmitteilung 17. Januar 2017, London/Davos Medienkontakt
Neue weitreichende Gesetze, die an Orwells Roman «1984» erinnern, versetzen Europa in einen gefährlichen und permanenten Sicherheitswahn. Zu dieser Einschätzung gelangt Amnesty International nach einer umfassenden Analyse von Antiterrormassnahmen in 14 EU-Staaten.

Der jüngste Amnesty-Bericht mit dem Titel «Dangerously disproportionate: The ever-expanding national security state in Europe» legt dar, wie eine Flut von Gesetzen und Gesetzesänderungen, die im Eiltempo verabschiedet wurden, Grundrechte untergraben und mühsam errungene Massnahmen zum Schutz der Menschenrechte aushebeln.

«Nach einer Serie schrecklicher Anschläge von Paris bis Berlin haben Regierungen eine Reihe von unverhältnismässigen und diskriminierenden Gesetzen durchgepeitscht», sagt John Dalhuisen, Europa-Direktor von Amnesty International. «Schon einzeln betrachtet sind die Antiterrormassnahmen besorgniserregend, aber wenn man sie zusammen nimmt, ergibt sich ein verstörendes Bild, weil lange nicht in Frage gestellte Freiheiten nun unkontrolliert niedergetrampelt werden.»

Der Bericht basiert auf über zweijährigen Recherchen in 14 EU-Mitgliedstaaten und auf der Analyse von Initiativen auf internationaler und europäischer Ebene. Er beleuchtet, in welchem Ausmass die neuen Gesetze und Massnahmen, die der Terrorgefahr entgegenwirken sollen, den Schutz von Rechten beiseiteschieben.

In vielen Ländern sind Antiterrormassnahmen vorgeschlagen oder bereits umgesetzt worden, die rechtsstaatliche Prinzipien aushöhlen, die Macht der Regierenden erweitern, die Kontrollen der Gerichte aushebeln, das Recht auf freie Meinungsäusserung einschränken und die Bürgerinnen und Bürger unkontrollierter Überwachung durch Regierungsbehörden aussetzen. Die Auswirkungen dieses Vorgehens spüren ausländische Staatsangehörige sowie ethnische und religiöse Minderheiten besonders deutlich.

Die neue Normalität: Notstandsgesetze und notstandsähnliche Massnahmen

In einigen Ländern sind Verfassungsänderungen oder Gesetze beschlossen worden, die es zukünftig einfacher machen, den Ausnahmezustand zu erklären. Oder es werden den Sicherheitskräften und Geheimdiensten Sonderbefugnisse erteilt, ohne dass ausreichende Kontrollen durch die Justizbehörden vorgesehen sind.

So sehen die neuen Gesetze in Ungarn umfassende Regierungsbefugnisse vor, wenn der Notstand ausgerufen wird. Unter anderem können öffentliche Versammlungen verboten, die Bewegungsfreiheit erheblich eingeschränkt und Finanzmittel eingefroren werden. Vage formulierte Bestimmungen ermöglichen die Aussetzung von Gesetzen und die Verabschiedung von neuen Bestimmungen im Schnellverfahren. Zudem kann bei Unruhen die Armee mit scharfer Munition eingesetzt werden.

In Frankreich ist der Ausnahmezustand inzwischen fünf Mal verlängert worden, wodurch eine Reihe einschränkender Massnahmen zum normalen Standard werden, darunter das Verbot von Demonstrationen und Durchsuchungen ohne gerichtliche Genehmigung.

Temporäre Notstandsmassnahmen, wie Verwaltungsanordnungen, die die Freizügigkeit in Grossbritannien und Frankreich einschränken, werden zunehmend in die normale Gesetzgebung aufgenommen. Polens neues Antiterrorgesetz zementiert umfassende Machtbefugnisse, darunter ein diskriminierendes Vorgehen gegen ausländische Staatsangehörige.

In einigen Staaten werden Antiterrorgesetze missbraucht, um gegen Menschenrechtsverteidigerinnen und politische Aktivisten vorzugehen. So hat die französische Polizei die Notstandsgesetze als Begründung genutzt, um im Vorfeld der Uno-Klimakonferenz UmweltschützerInnen unter Hausarrest zu setzen.

Überwachungsstaaten

Viele EU-Länder unterscheiden sich kaum noch von «Überwachungsstaaten», nachdem neue Gesetze erlassen wurden, die willkürliche Massenüberwachung erlauben und Sicherheitsbehörden und Geheimdiensten umfassende Befugnisse erteilen.

So sind beispielsweise in Grossbritannien, Frankreich, Deutschland, Polen, Ungarn, Österreich, Belgien und den Niederlanden Befugnisse zur Massenüberwachung erteilt bzw. erweitert worden, die den möglichen Zugang zu den Daten von Millionen von Menschen und somit eine Massenüberwachung erlauben.

Auch die unkontrollierte, gezielte Überwachung ist in grossem Ausmass ausgedehnt worden. Polens neues Antiterrorgesetz, das 2016 verabschiedet wurde, erlaubt verdeckte Überwachungsmassnahmen von ausländischen Staatsangehörigen über einen Zeitraum von drei Monaten, ohne dass eine gerichtliche Kontrolle erfolgt – einschliesslich des Abhörens von Gesprächen, der Kontrolle elektronischer Kommunikation und der Überwachung der Telekommunikationsnetze.

David Miranda, ein brasilianischer Staatsbürger, der Edward Snowden bei journalistischen Recherchen zu seinen Enthüllungen unterstützt hat, wurde 2013 bei einer Reise auf einem Zwischenstopp in Grossbritannien auf der Grundlage von Antiterrorbestimmungen festgenommen. Er kam in Haft, wurde durchsucht und unter dem Verdacht der Beteiligung an «Spionage» und «Terrorismus» neun Stunden lang verhört. Sein Mobiltelefon und sein Laptop, eine externe Festplatte und andere Gegenstände wurden konfisziert.

«Gedankenverbrechen»

Die Art und Weise, wie heutzutage Handlungen strafrechtlich verfolgt werden, die mit kriminellem Verhalten nur sehr wenig zu tun haben, erinnert an das von George Orwell begründete Konzept des «Gedankenverbrechens». Antiterrormassnahmen konzentrieren sich immer stärker auf Prävention: Staaten investieren in Initiativen zur Identifizierung mutmasslicher künftiger StraftäterInnen und greifen zunehmend auf verwaltungsrechtliche Kontrollverfügungen zurück, um die Bewegungsfreiheit und andere Rechte einzuschränken. In vielen Fällen werden Menschen mit Ausgangssperren oder Reiseverboten belegt oder müssen eine elektronische Fussfessel tragen, ohne dass sie jemals wegen einer Straftat angeklagt oder verurteilt wurden. Die Beweise werden oft geheim gehalten, was bedeutet, dass sich Personen, denen die Intention einer Straftat vorgeworfen wird, nicht einmal angemessen verteidigen können.

Flüchtlinge und Minderheiten im Visier

MigrantInnen und Flüchtlinge, Menschenrechtsverteidiger, Aktivistinnen und Angehörige von Minderheiten geraten besonders häufig ins Visier dieser neuen gesetzlichen Befugnisse. Die Erstellung von Persönlichkeitsprofilen basierend auf Stereotypisierung führt in vielen Fällen zur missbräuchlichen Anwendung von Gesetzen, in denen der Begriff «Terrorismus» zu vage definiert ist.

Viele EU-Mitgliedstaaten versuchen derzeit, eine Verbindung zwischen der Flüchtlingskrise und der Bedrohung durch Terrorismus herzustellen. Im November 2016 verurteilte ein ungarisches Gericht den Syrer Ahmed H., der in Zypern lebt, wegen eines «Terroraktes» zu zehn Jahren Haft. Der «Terrorakt» bestand darin, dass Ahmed H. bei Zusammenstössen mit der Grenzpolizei Steine geworfen und sich mit einem Megafon an eine Menschenmenge gerichtet hatte. Tatsächlich war er unterwegs gewesen, um seinen alternden Eltern bei ihrer Flucht von Syrien nach Europa zu helfen. Er leugnet nicht, Steine geworfen zu haben, auf Videoaufzeichnungen ist jedoch auch zu sehen, wie er versucht, die Menschenmenge zu beruhigen. Seine Frau Nadia sagte gegenüber Amnesty International: «Unser Leben wurde komplett auf den Kopf gestellt. Ich versuche, für meine Töchter die Mutter- und Vaterrolle einzunehmen, aber es ist sehr schwer. Wir vermissen Ahmed und haben Angst um ihn.»

Keine Luft zum Atmen

Die Furcht davor, als ein Sicherheitsrisiko oder als «extremistisch» eingestuft zu werden, hat in der Zivilgesellschaft zu einer Einschränkung der freien Meinungsäusserung geführt. In Spanien wurden zwei Puppenspieler wegen «Terrorismus-Verherrlichung» festgenommen und angeklagt, nachdem sie ein satirisches Theaterstück aufgeführt hatten, in dem eine Puppe ein Banner mit einem Spruch hochhielt, der vermeintlich Unterstützung für eine bewaffnete Gruppe ausdrückte.

In Frankreich wurde vor kurzem ein ähnlicher Vorwurf – «Rechtfertigung des Terrorismus» – dazu verwendet, Hunderte Personen anzuklagen, weil sie die «Straftat» begangen hatten, Beiträge auf Facebook zu posten. In den Beiträgen wurde nicht zur Gewalt aufgerufen, und unter den Betroffenen befanden sich auch Minderjährige. Im Jahr 2015 verhängten französische Gerichte 385 Urteile wegen «Rechtfertigung des Terrorismus», ein Drittel davon gegen Minderjährige. Die Definition von «Rechtfertigung» ist aussergewöhnlich weit gefasst.

In Spanien wurde ein bekannter Musiker festgenommen und inhaftiert, weil er einige Twitter-Nachrichten geschrieben hatte, in denen er unter anderem witzelte, dass er dem ehemaligen König Juan Carlos zum Geburtstag eine Kuchenbombe schenken wolle.

Besonders stark von diskriminierenden Massnahmen betroffen sind Muslime und Musliminnen, ausländische Staatsangehörige sowie Personen, die dafür gehalten werden. Diskriminierendes Handeln seitens der Staatsgewalt wird vor dem Hintergrund der nationalen Sicherheit zunehmend als «akzeptabel» angesehen.

«Die Bedrohung durch den Terrorismus ist zweifelsohne sehr real und muss entschieden bekämpft werden. Es ist die Aufgabe der Regierung, ein sicheres Umfeld zu schaffen, in dem alle Menschen ihre Rechte wahrnehmen können, anstatt die Menschenrechte im Namen der Sicherheit einzuschränken», stellte John Dalhuisen klar. «Die Regierungen der EU-Mitgliedstaaten bedienen sich verschiedener Antiterrormassnahmen, um weitgehende Befugnisse noch weiter auszubauen und bestimmte Personengruppen auf diskriminierende Weise ins Visier zu nehmen. Sie höhlen damit genau die Menschenrechte aus, die sie zu schützen vorgeben. Wir riskieren eine Gesellschaft, in der Freiheit zur Ausnahme und Furcht zur Regel wird.»

Antiterrormassnahmen in der Schweiz

Der Bericht fokussiert auf EU-Staaten, weshalb die Schweiz darin nicht erwähnt wird. Obwohl die Schweiz bisher von keinen Anschlägen getroffen wurde, geht auch hierzulande der Trend klar in Richtung einer verschärften Sicherheitspolitik und zu mehr Überwachung.

Letztes Jahr wurden zwei Überwachungsgesetze verabschiedet, die einen aus grundrechtlicher Sicht problematischen Ausbau der Überwachung durch Geheimdienst und Polizei ermöglichen: Das Nachrichtendienstgesetz (NDG) und das Bundesgesetz zur Überwachung des Post- und Fernmeldeverkehrs (BÜPF).

Das Bundesgesetz über das Verbot der Gruppierungen «Al-Qaida» und «Islamischer Staat» sowie verwandter Organisationen (kurz IS-Gesetz), das bereits 2015 in Kraft getreten ist, bricht erstmals mit der bewährten Schweizer Tradition, nicht Organisationen zu verbieten, sondern deren Aktivitäten unter Strafe zu stellen. Da das befristete IS-Gesetz Ende 2018 ausläuft, bereitet das Bundesamt für Justiz eine Anpassung des Strafrechts vor. Der Bundesrat will bereits im Sommer 2017 neue Antiterror-Massnahmen präsentieren. In Diskussion sind beispielsweise Einschränkungen der Reisefreiheit von potentiellen JihadistInnen sowie neue Formen der Präventiv- oder Sicherheitshaft.

Die Kantonale Konferenz der Justiz- und Polizeidirektoren (KKJPD) fordert eine Verschärfung des Terror-Strafbestandes und hat entsprechende Vorschläge deponiert. Beispielsweise sollen Haftstrafen von bis zu zwanzig Jahren möglich sein für vage formulierte Delikte wie «bestimmenden Einfluss in einer terroristischen Organisation». Der KKJPD-Präsident Hans-Jürg Käser forderte gegenüber Medien die Anwendung der Präventivhaft für Terror-SympathisantInnen.

In die gleiche Richtung zielt eine Reihe von Vorstössen im Parlament. Gefordert wurde etwa die Aberkennung des Schweizer Bürgerrechts für JihadistInnen mit Doppelbürgerschaft, eine Ausreisesperre für potenzielle Jihad-TouristInnen, das Burkaverbot sowie der Entzug des Aufenthaltsrechts bei mangelnder Integrationsbereitschaft. Ein Ende dieses parlamentarischen Aktivismus ist nicht abzusehen.

Es handelt sich um neue Gesetze und Massnahmen, die im Einzelnen vielleicht nicht dramatisch erscheinen, insgesamt aber in eine klare Richtung weisen: Verschärfung der Repression und Einschränkung von Rechten und Freiheiten.

Informationen zum Bericht

Die in dem Bericht behandelten Länder sind: Österreich, Belgien, Bulgarien, Dänemark, Frankreich, Deutschland, Ungarn, Irland, Luxemburg, Niederlande, Polen, Slowakei, Spanien und Grossbritannien.

Der Amnesty-Bericht wird am Vorabend der Annahme der EU-Richtlinie zur Terrorismusbekämpfung veröffentlicht. Diese Richtlinie ist der jüngste Versuch zur regionalen Standardisierung der Antiterrorgesetze und droht erhebliche Konsequenzen für die Menschenrechte zu haben.