Asyl und Migration Zwischen Schutz und Abschottung

Amnesty-Beitrag aus «Menschenrechte. Weiterschreiben. Texte zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte» Von Beat Gerber, Pressesprecher Amnesty Schweiz
Für Flüchtlinge und Asylsuchende herrscht in der Schweiz ein zunehmend kalter Wind. Wie Europa setzt das Land auf die Abschottung seiner Grenzen. In Frage gestellt sind die Grundpfeiler des internationalen Flüchtlingsschutzes.

Über 68,5 Millionen Männer, Frauen und Kinder: Seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren noch nie so viele Menschen auf der Flucht wie heute. Während die überwiegende Mehrheit von ihnen in Entwicklungsländern Aufnahme gefunden hat, setzen Europa und die Schweiz zunehmend auf Abschottung.

Mit der Flucht von Millionen von Menschen vor den Gräueln des syrischen Bürgerkriegs und weiterer Konflikte infolge des Arabischen Frühlings wurde 2015 eine politische Wende in der europäischen Flüchtlingspolitik ausgelöst, die mittlerweile die Grundpfeiler des internationalen Flüchtlingsschutzes infrage stellt – mit schweren und langfristigen Konsequenzen für die Menschenrechte.

Zunehmende Härte

Ziel der europäischen Staaten ist immer unverblümter die Schliessung der Fluchtrouten und die Kriminalisierung der irregulären Migration. Gleichzeitig fehlen sichere und legale Fluchtwege nach Norden. Jedes Jahr sterben Hunderte von Menschen beim Versuch, über die zentrale Mittelmeerroute Europas Küsten zu erreichen. Schiffsbrüchige werden der libyschen Küstenwache überlassen und landen in Lagern, wo sie Folter und Erpressung ausgesetzt sind. Gleichzeitig werden Flüchtlingshelfer strafrechtlich verfolgt und Rettungsschiffe mit Schiffbrüchigen unter Missachtung des Seerechts an der Einfahrt in Häfen gehindert.

Die Schweiz finanziert die europäische Grenzschutzagentur Frontex mit und ist als Schengen-Dublin-Vertragsstaat mitverantwortlich für die europäische Abriegelungspolitik. Die europäischen Staaten scheuen sich nicht, selbst bei menschenrechtsverachtenden Regierungen in den Ursprungs- und Transitländern der Fluchtbewegungen anzuklopfen, damit diese gewissermassen als «Türsteher» fungieren: Sie sollen ihnen die Flüchtlinge, die Migrantinnen und Migranten «vom Hals halten». Hinzu kommen die Bestrebungen nach pauschalen «Grenzschliessungen», «Obergrenzen» oder «Auffanglagern» ausserhalb Europas, die allesamt gegen internationales Recht verstossen.

Auch für Schutzsuchende, die es bis in die Schweiz geschafft haben, weht nach mehreren Asylgesetzrevisionen ein harter Wind. Unter anderem wurde in den letzten Jahren der Familiennachzug erschwert. Wehrdienstverweigerung und Desertion werden nicht mehr als Asylgrund anerkannt. Die Liste sogenannter Safe Countries – also von Ländern, in die eine Rückschaffung zumutbar sei – wurde erweitert. Auch wurde die Möglichkeit, in einer Schweizer Botschaft ein Asylgesuch zu stellen, abgeschafft.

Tausende von Abgewiesenen, die nicht in ihre Heimatländer zurückkehren können, landen in der Nothilfe. Zudem ist die Schweiz Spitzenreiterin bei sogenannten Dublin-Rückführungen in andere Schengen-Staaten: Die Dublin-Verordnung sieht vor, dass in den meisten Fällen dasjenige Land in Europa das Asylgesuch bearbeiten muss, in welches die antragstellende Person als Erstes einreiste. Die Schweiz wendet diese Verordnung äusserst strikt an, selbst wenn dabei Menschenrechte verletzt werden. Ihre harte Praxis macht auch vor verletzlichen Flüchtlingen nicht halt. Dabei hätten die Schweizer Behörden durchaus die Möglichkeit, menschlicher zu handeln: Sie könnten nämlich in Härtefällen selber auf die Gesuche eintreten, z. B. bei Familien mit kleinen oder bereits eingeschulten Kindern oder bei behinderten oder erkrankten Menschen.

Schutz durch Gerichte

Doch die Schweiz entschied oft anders: So im Falle einer achtköpfigen afghanischen Familie, die man nach Italien auswies, ohne dass eine Zusicherung für eine menschenwürdige Unterbringung der Familie vorlag. Hier brauchte es das Korrektiv des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, der die Schweiz schon mehrfach wegen Verletzungen der Europäischen Menschenrechtskonvention rügen musste.

Im Falle einer anderen afghanischen Familie war es das Bundesgericht, das im Mai 2015 ein wegweisendes Urteil fällte: Um das Ehepaar zur Ausreise zu zwingen, hatten die Behörden Vater und Mutter kurzerhand in Haft gesetzt und die minderjährigen Kinder in ein Heim eingewiesen. Damit wurde klar gegen das Recht auf Familienleben verstossen, entschied das Bundesgericht. Ausserdem war der übergeordnete Schutz des Kindeswohls verletzt worden. Das Verdikt dürfte künftig die Inhaftierung von Familien in Zusammenhang mit der Dublin-Verordnung weitgehend verunmöglichen.

Solidarische Schweiz?

Die Schweiz hat sich seit dem Zweiten Weltkrieg in internationalen Notsituationen wiederholt solidarisch gezeigt und war namentlich während der Kriege in Sri Lanka und im ehemaligen Jugoslawien ein wichtiges Aufnahmeland. Die Schweiz und mit ihr Genf als «Welthauptstadt der Menschenrechte» hat sich immer wieder auch als Garantin des Völkerrechts verstanden. Als solche hat sie eine besondere humanitäre Verantwortung, auch gegenüber Flüchtlingen. Denn nichts Geringeres als die Uno-Flüchtlingskonvention und mit ihr das Recht, in einem anderen Land Asyl zu suchen, steht heute in Europa auf dem Spiel.