Wer Flüchtlingen und Migranten hilft, riskiert angezeigt und bestraft zu werden. Helferin unterstützt eine soeben in Lesbos angelangte junge Migrantin. © Aleksandr Lutcenko / shutterstock.com
Wer Flüchtlingen und Migranten hilft, riskiert angezeigt und bestraft zu werden. Helferin unterstützt eine soeben in Lesbos angelangte junge Migrantin. © Aleksandr Lutcenko / shutterstock.com

Solidarität mit Flüchtlingen Bestraftes Mitgefühl: Solidarität unter Beschuss in der Festung Europa

3. März 2020
In den letzten Jahren waren Menschenrechtsverteidiger und zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich für Flüchtlinge, Migranten und Migrantinnen einsetzen, in mehreren europäischen Ländern unbegründeten Strafverfahren, unangemessenen Einschränkungen ihrer Aktivitäten sowie Einschüchterung, Schikane und Verleumdungskampagnen ausgesetzt. Eine Zusammenfassung des Berichts «Bestraftes Mitgefühl: Solidarität unter Beschuss in der Festung Europa» von Amnesty International.

Zur Medienmitteilung von Amnesty International

Durch ihre Hilfe und Solidarität gerieten MenschenrechtsverteidigerInnen auf Kollisionskurs mit der europäischen Migrationspolitik, die darauf abzielt, Flüchtlinge und MigrantInnen daran zu hindern, die EU zu erreichen, diejenigen, die es nach Europa schaffen, im Erstankunftsland zu halten, und so viele wie möglich in ihre Herkunftsländer abzuschieben.

Durch die Rettung von Flüchtlingen und MigrantInnen, die sich auf See oder in den Bergen in Gefahr befinden, durch die Bereitstellung von Nahrung und Unterkunft, durch die Dokumentation von Misshandlungen durch Polizei und Grenzschutz und durch den Widerstand gegen rechtswidrige Abschiebungen haben MenschenrechtsverteidigerInnen aufgedeckt, welch grausame Folgen die europäische Einwanderungspolitik hat, und sind selbst zur Zielscheibe der Behörden geworden. Behörden und PolitikerInnen haben Akte der Menschlichkeit als Gefahr für die nationale Sicherheit und die öffentliche Ordnung behandelt. Dadurch waren MenschenrechtsverteidigerInnen in ihrer Arbeit noch stärker eingeschränkt und gezwungen, ihre knappen Ressourcen und ihre Energie in ihre Verteidigung vor Gericht zu stecken.

Wie dieser Bericht zeigt, haben die europäischen Regierungen, EU-Institutionen und Behörden eine ganze Reihe von restriktiven, sanktionierenden und strafenden Massnahmen gegen Einzelpersonen und Gruppen ergriffen, die die Rechte von MigrantInnen und Flüchtlingen verteidigen. Zu diesen Massnahmen gehört auch der Einsatz von Einwanderungs- und Antiterror-Bestimmungen, um das Recht auf die Verteidigung der Menschenrechte unangemessen einzuschränken.

Staaten müssten MenschenrechtsverteidigerInnen schützen

MenschenrechtsverteidigerInnen spielen eine wesentliche Rolle, wenn es darum geht, die Wahrnehmung der Menschenrechte in der Gesellschaft zu fördern. Dies wurde von allen Vertragsstaaten in der UN-Erklärung über Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidiger anerkannt. Die Staaten haben sich in dieser Erklärung verpflichtet, MenschenrechtsverteidigerInnen ein sicheres und förderliches Umfeld zu gewährleisten, in dem sie ihrer Tätigkeit ohne Angst vor Repressalien nachgehen können. Einschränkungen des Rechts auf Verteidigung der Menschenrechte (das u. a. die Rechte auf freie Meinungsäusserung, Vereinigung und friedliche Versammlung beinhaltet) müssen gesetzlich vorgesehen, notwendig und verhältnismässig im Hinblick auf ein legitimes Ziel sein. Wie die in diesem Bericht dargestellten Fälle zeigen, werden diese Voraussetzungen oft nicht erfüllt, was zu Verletzungen der Menschenrechte von MenschenrechtsverteidigerInnen und von Flüchtlingen und MigrantInnen führt. Anstatt die wichtige Rolle der MenschenrechtsverteidigerInnen bei der Verteidigung der Rechte von Flüchtlingen und MigrantInnen anzuerkennen und dafür zu sorgen, dass sie ihrer Tätigkeit sicher und unbehindert nachgehen können, haben die europäischen Behörden ein feindliches Klima geschaffen.

In diesem Bericht hat Amnesty International Fälle aus acht Ländern dokumentiert, in denen Hilfe und Solidarität gegenüber Flüchtlingen und MigrantInnen eingeschränkt und kriminalisiert wurden. Zu den Ländern gehören Kroatien, Frankreich, Griechenland, Italien, Malta, Spanien, die Schweiz und Grossbritannien.

So wurden zum Beispiel NGOs wie Are You Syrious und das Zentrum für Friedensstudien (CMS) in Kroatien schikaniert, eingeschüchtert und wegen der «Beihilfe zur unerlaubten Migration» strafrechtlich verfolgt, nachdem sie zu unbequemen ZeugInnen von Zurückdrängung und kollektiver Ausweisung durch die Behörden an den Grenzen zu Bosnien und Herzegowina und Serbien geworden waren. Auch in Frankreich wurden MenschenrechtsverteidigerInnen, die Menschen auf Bergpässen an der Grenze zu Italien geholfen hatten, wegen «Beihilfe zur unerlaubten Einreise» strafrechtlich verfolgt und verurteilt. Andere MenschenrechtsverteidigerInnen, die in der Nähe von Calais Lebensmittel und andere Güter des täglichen Bedarfs an Flüchtlinge und MigrantInnen verteilten, wurden von der Polizei schikaniert, eingeschüchtert und strafrechtlich verfolgt, wenn sie sich über Fehlverhalten der Polizei gegenüber ausländischen Staatsangehörigen beschwerten. In Griechenland verbrachten Sarah Mardini und Séan Binder, die sich freiwillig bei einer lokalen NGO gemeldet hatten, um Flüchtlingen und MigrantInnen nach ihrer gefährlichen Seereise bei der Ausschiffung in Lesbos zu helfen, mehr als 100 Tage in Untersuchungshaft. Ihnen wird neben der Beihilfe zur unerlaubten Einreise auch Spionage, Geldwäsche und Fälschung vorgeworfen. In Italien hielt eine Verleumdungskampagne von Regierungsangehörigen gegen NGOs, die Rettungsaktionen auf See durchführen, weiter an. Parallel dazu wurden ein Verhaltenskodex und mehrere Gesetze verabschiedet, die darauf abzielen, die lebensrettenden Aktivitäten der NGOs im zentralen Mittelmeer einzuschränken und zu behindern. Die Crews der meisten NGOs waren von strafrechtlichen Ermittlungen wegen der Unterstützung der unerlaubten Einreise und anderer Straftaten betroffen. Dies hat in mehreren Fällen dazu geführt, dass Rettungsschiffe der NGOs beschlagnahmt wurden. In Malta werden drei jugendliche Asylsuchende wegen Terrorismus und anderer Vorwürfe strafrechtlich verfolgt, weil sie es gewagt haben, sich einem Schiffskapitän zu widersetzen, der rechtswidrig versucht hatte, sie und 100 weitere gerettete Personen nach Libyen zurückzubringen, wo ihnen schwere Menschenrechtsverletzungen drohen. In der Schweiz wurden mehrere Personen, darunter ein Pfarrer, strafrechtlich verfolgt, weil sie ausländischen Staatsangehörigen, die in Not, Bedrängnis oder Gefahr waren, «Beihilfe zur unerlaubten Einreise und zum unerlaubten Aufenthalt» geleistet haben sollen. In Spanien haben die Behörden mit Marokko zusammengearbeitet, um Helena Maleno daran zu hindern, die Küstenwache über in Not geratene Personen im westlichen Mittelmeer zu benachrichtigen. In Grossbritannien wurde eine Gruppe von 15 MenschenrechtsverteidigerInnen wegen terroristischer Anschuldigungen verurteilt, weil sie eine ihrer Ansicht nach rechtswidrige Abschiebung gestoppt hatten, die einige Asylsuchende in ihren Herkunftsländern ernster Gefahr ausgesetzt hätte.

Ungenaue Bestimmungen, grosser Ermessensspielraum

Viele der in diesem Bericht beschriebenen strafrechtlichen Verfolgungen und Ermittlungen gegen MenschenrechtsverteidigerInnen beruhen auf dem Vorwurf der Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt im Hoheitsgebiet eines EU-Mitgliedstaats. 2002 bemühte sich die EU um die Harmonisierung der Gesetzgebung der Mitgliedstaaten in diesem Bereich durch eine Richtlinie und einen Rahmenbeschluss, das so genannte «Beihilfe-Paket», um Menschenschmuggel in Europa zu bekämpfen. Wie Amnesty International jedoch feststellte, hat die Ungenauigkeit der Bestimmungen und der Umfang des Ermessensspielraums, der den Mitgliedstaaten bei ihrer Umsetzung eingeräumt wird, dazu geführt, dass gegen zahlreiche MenschenrechtsverteidigerInnen, die sich einfach nur mit Flüchtlingen und MigrantInnen solidarisiert haben, Strafverfahren eingeleitet und Sanktionen verhängt wurden. Dies stellt letztlich einen unangemessenen Eingriff in die Rechte von MenschenrechtsverteidigerInnen dar, der sich nicht mit dem Bemühen der Staaten, den Menschenschmuggel bekämpfen zu wollen, rechtfertigen lässt.

Das «Beihilfe-Paket» bedarf einer dringenden Überprüfung, um es mit dem UN-Protokoll gegen die Schleusung von Migranten sowie internationalen Menschenrechtsnormen und internationalem Flüchtlingsrecht in Einklang zu bringen. Insbesondere sollte es die Erfordernis eines finanziellen oder anderen materiellen Vorteils beinhalten, bevor die Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise und zum unerlaubten Aufenthalt eines ausländischen Staatsangehörigen unter Strafe gestellt werden kann. Darüber hinaus sind Änderungen erforderlich, um die Kriminalisierung von geschleusten MigrantInnen zu verbieten und eine obligatorische humanitäre Ausnahmeklausel vorzusehen, die der Verfolgung von Personen, die Flüchtlingen und MigrantInnen Hilfe anbieten, entgegenwirkt. Amnesty International fordert auch die Aufhebung des Straftatbestands der unerlaubten Einreise nach den Bestimmungen des Völkerrechts. Dieses erkannt an, dass eine irreguläre Einreise für viele Menschen die einzige Möglichkeit sein kann, Schutz zu suchen, und dass die Opfer von Menschenschmuggel nicht bestraft werden sollten.

Kriminalisierung der Solidarität

Im Rahmen der Recherchen zu diesem Bericht hat Amnesty International Dutzende von Personen befragt, die über unangemessene Einschränkungen, belastende bürokratische Hürden, Sanktionen und Praktiken wie Schikanierung und Einschüchterung berichteten, die darauf abzielten, ihre Aktivitäten zur Unterstützung von Flüchtlingen und MigrantInnen zu behindern, sei es als Einzelperson oder als Mitglied einer Gruppe. Viele dieser MenschenrechtsverteidigerInnen sind selbst Flüchtlinge und MigrantInnen. Im Rahmen zahlreicher Untersuchungsmissionen wurden auch StaatsanwältInnen, RechtsanwältInnen und BeamtInnen befragt. Darüber hinaus war Amnesty International auch zur Beobachtung bei Gerichtsverhandlungen anwesend und hat Dutzende von Gerichtsurteilen sowie Gesetzestexte, wissenschaftliche Arbeiten, Berichte internationaler Organisationen und NGOs geprüft.

Die Vielfalt der Massnahmen und Praktiken, die von nationalen Behörden auf verschiedenen Ebenen angewandt werden, macht es praktisch unmöglich, festzustellen, wie viele Menschen, NGOs und zivilgesellschaftliche Gruppen letztendlich betroffen sind. Die Einleitung strafrechtlicher Ermittlungen ist ein deutlicheres Anzeichen für die Kriminalisierung von Solidarität. Einer Studie zufolge wurden zwischen 2015 und 2018 rund 158 Personen wegen der Beihilfe zur unerlaubten Einreise oder zum unerlaubten Aufenthalt ausländischer Staatsangehöriger in einem EU-Staat Gegenstand von Ermittlungen oder strafrechtlicher Verfolgung, und 16 NGOs waren von Strafverfahren betroffen.[1] Amnesty International ist besorgt, dass die Dunkelziffer noch viel höher sein könnte, insbesondere, wenn es um MenschenrechtsverteidigerInnen geht, die selbst Flüchtlinge und MigrantInnen sind, da die Gefahr besteht, dass Personen mit einem möglicherweise prekären Aufenthaltsstatus öffentlich blossgestellt werden. Obwohl beispielsweise in der Schweiz 76 Prozent der wegen Beihilfe zur unerlaubten Ein- oder Durchreise oder zum unerlaubten Aufenthalt verfolgten Personen einen Schweizer Aufenthaltsstatus oder die Schweizer Staatsbürgerschaft besitzen, ist die Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung ausländischer Staatsangehöriger doppelt so hoch. Dies könnte auch Familienmitglieder oder FreundInnen betreffen, die versuchen, ihren Angehörigen oder nahestehenden Personen zu helfen.

Darüber hinaus hat Amnesty International zahlreiche Fälle untersucht, in denen legitime Aktivitäten von MenschenrechtsverteidigerInnen mit unangemessenen Einschränkungen belegt oder verfolgt wurden, unter anderem durch die Befragung von MenschenrechtsverteidigerInnen, Rechtsbeiständen, StaatsanwältInnen und anderen AmtsträgerInnen sowie durch die Überprüfung der gegen sie erhobenen Anklagen und der Gerichtsentscheide, die Amnesty vorliegen. Der Bericht dokumentiert, auf welche Weise die Aktivitäten von Einzelpersonen und NGOs zur Rettung von Leben, zum Schutz der Würde und zur Verteidigung der Rechte von Flüchtlingen und MigrantInnen in Europa durch die «Kriminalisierung der Solidarität» behindert wurden.

Amnesty International fordert die europäischen Staats- und Regierungschefs auf EU- und nationaler Ebene auf, die Behinderung und Kriminalisierung von MenschenrechtsverteidigerInnen einzustellen. Die in diesem Bericht genannten Strafverfahren gegen MenschenrechtsaktivistInnen sollten eingestellt oder abgewiesen werden. Ebenso sind dringende Änderungen am Beihilfe-Paket sowie an nationalen Gesetzen über die Beihilfe zur unerlaubten Ein- und Durchreise sowie zum unerlaubten Aufenthalt erforderlich, um zu verhindern, dass diese zur Bestrafung von Akten der Solidarität und der Menschlichkeit missbraucht werden. Darüber hinaus fordert Amnesty International die Regierungen und EU-Institutionen auf, alle geeigneten Massnahmen zu ergreifen, um sicherzustellen, dass die UN-Erklärung über Menschenrechtsverteidiger und Menschenrechtsverteidigerinnen in Europa vollständig umgesetzt wird, um ein sicheres und förderliches Umfeld für MenschenrechtsverteidigerInnen zu schaffen.

 

[1] ReSoma, Crackdown on NGOs and volunteers helping refugees and other migrants, Juni 2019, http://www.resoma.eu/node/194