Kriminalisierung der Solidarität Kriminalisierung der Solidarität
Anni Lanz, die sich seit Jahrzehnten für Flüchtlinge engagiert, wurde 2019 wegen der Unterstützung eines schwer kranken Asylsuchenden verurteilt. © AI

Amnesty-Bericht Kriminalisierung der Solidarität in Europa und der Schweiz

Medienmitteilung 3. März 2020, London/Bern – Medienkontakt
Überall in Europa werden Menschen, die sich für die Rechte von Flüchtlingen, Asylsuchenden und Migranten einsetzen, strafrechtlich verfolgt und schikaniert. In einem neuen Bericht fordert Amnesty International die europäischen Staaten und namentlich auch die Schweiz auf, Gesetze über die Erleichterung der unerlaubten Ein- und Durchreise und des illegalen Aufenthalts zu ändern. Personen, die aus Mitgefühl und Solidarität handeln, sollen nicht mehr bestraft werden.

Zur Zusammenfassung des Berichts in Deutsch

Ein neuer Bericht von Amnesty International mit dem Titel «Bestraftes Mitgefühl: Solidarität unter Beschuss in der Festung Europa» dokumentiert, wie Polizei und Staatsanwaltschaften in Europa Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidiger ins Visier nehmen, die Menschen auf der Flucht helfen. Dafür dienen ihnen Ausländergesetze und Bestimmungen zur Bekämpfung von Menschenschmuggel und Terrorismus, welche auch solidarisches Handeln kriminalisieren. Der Bericht untersucht Fälle zwischen 2017 und 2019 aus acht europäischen Ländern – Kroatien, Frankreich, Griechenland, Grossbritannien, Italien, Malta, Spanien und der Schweiz.

«Die europäischen Staaten verweigern mit ihrer Abschottungspolitik nicht nur sichere und legale Einreisewege für Schutzsuchende, sondern versagen ihnen auch eine menschenwürdige Behandlung und Versorgung. Indem Helferinnen und Helfer strafrechtlich verfolgt werden, die dieses Regierungsversagen auszugleichen versuchen, werden Menschen auf der Flucht einer noch grösseren Gefahr ausgesetzt», sagte Manon Schick, Geschäftsleiterin der Schweizer Sektion von Amnesty International anlässlich einer Pressekonferenz in Bern.

Verfolgt für die Bereitstellung von Unterkunft und warmer Kleidung

Der Bericht von Amnesty International dokumentiert anhand zahlreicher Fälle, wie die Justiz in mehreren europäischen Staaten Einzelpersonen und NGOs verfolgt, die Flüchtlinge aus Seenot retteten oder Menschen auf der Flucht Essen und Obdach anboten. So wurde beispielsweise der französische Bergführer Pierre Mumber angeklagt, weil er vier westafrikanischen Asylsuchenden an der französisch-italienischen Grenze heissen Tee und warme Kleidung angeboten hatte. Er wurde schliesslich in zweiter Instanz freigesprochen.

«Die europäischen Staaten – insbesondere auch die Schweiz – müssen ihre Gesetze über die Erleichterung der unerlaubten Ein- und Durchreise und des unerlaubten Aufenthalts ändern, indem sie die ungerechtfertigte Bereicherung zum zwingenden Tatbestandsmerkmal machen. Damit würde verhindert, dass diese Gesetze nicht länger zur Bestrafung von solidarischem oder humanitärem Handeln verwendet werden», sagte Rym Khadhraoui, Forscherin und Co-Autorin des Berichts von Amnesty International.

Restriktive Schweizer Gesetzgebung

Im Jahr 2018 wurden 972 Personen in der Schweiz wegen Verstosses gegen Artikel 116 des Ausländer- und Integrationsgesetzes verurteilt. Allerdings betrafen nur 32 Fälle tatsächlich Schmuggler oder Personen, die sich an der Not von Flüchtlingen und Migrantinnen und Migranten bereichert haben. Abzüglich von 58 Verurteilungen in Zusammenhang mit einer unerlaubten Erwerbstätigkeit wurden damit fast 900 Verurteilungen gegen Personen ausgesprochen, die aus Solidarität, Mitgefühl, aus familiären Gründen oder in Zusammenhang mit einer Heirat handelten.

Artikel 116 des Ausländergesetzes über die «Anstiftung zur illegalen Ein- und Ausreise oder zum illegalen Aufenthalt» sieht keine Straffreiheit vor – selbst wenn die Hilfe aus ehrenhaften Gründen geleistet wird. Einige der verurteilten Personen, darunter ein Pfarrer, wurden bestraft, weil sie Ausländerinnen und Ausländern Unterschlupf gewährt hatten oder ihnen dabei geholfen hatten, um Asyl zu ersuchen. Sogar einfache Hilfeleistungen für Familienmitglieder und Freunde wurden strafrechtlich verfolgt.

Die Schweiz ist mit dieser rigiden Gesetzgebung zunehmend ein Sonderfall: Frankreich, Deutschland, Italien, Österreich, die Niederlande, Luxemburg, Schweden, Portugal, die Tschechische Republik, Polen, Rumänien, Malta und Zypern sehen Straffreiheit vor, wenn die Beihilfe zum illegalen Aufenthalt aus humanitären Motiven erfolgte. Eine Strafe wird nur in Fällen ausgesprochen, in denen mit Bereicherungsabsicht gehandelt wurde.

Parlament debattiert über Solidaritätsdelikt

Der Nationalrat wird in den kommenden Tagen über eine Änderung von Artikel 116 des Ausländer- und Integrationsgesetzes beraten (Parlamentarische Initiative Mazzone). «Wir fordern das Parlament auf, die Gesetzgebung so zu ändern, dass nur Personen verurteilt werden, die einen ungerechtfertigten Profit aus der Hilfe für Menschen ohne gültigen Aufenthaltsstatus in der Schweiz ziehen. Eine humanitäre Klausel muss sicherstellen, dass Menschen, die allein aus Mitgefühl gehandelt haben, nicht verurteilt werden. Solidarität ist kein Verbrechen», sagte Reto Rufer, Asylexperte von Amnesty International Schweiz.

Völkerrecht verlangt den Schutz der Solidarität

Das Völkerrecht unterscheidet klar zwischen Solidaritätsaktionen und Menschenhandel. Der Kampf der Uno gegen die Schmugglerkriminalität zielt nur auf Handlungen ab, bei denen es um finanzielle oder materielle Vorteile geht. Die Europäische Kommission und die Schweiz müssen sich jetzt dringend dafür einsetzen, dass in Europa humanitäre Hilfe für Schutzsuchende ausdrücklich erlaubt und geschützt wird. Die Mitgliedstaaten der EU und die Schweiz haben sich in einer Uno-Erklärung zum Schutz von Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidigern verpflichtet. Mit der Kriminalisierung der Solidarität respektiert auch die Schweiz den Geist des Völkerrechts nicht.