Von Russland bis Sri Lanka, von Frankreich bis zum Senegal, vom Iran bis Nicaragua greifen staatliche Behörden zu immer neuen Mitteln, um Proteste zu unterdrücken. Rund um den Globus wird mit einer ganzen Reihe an Massnahmen das Recht auf Protest eingeschränkt: Mit repressiven Gesetzen, umfangreicher Internet-Zensur und rechtswidriger Überwachung werden Protestierende verfolgt, verleumdet und stigmatisiert. Marginalisierte und diskriminierte Gruppen stehen dabei besonders im Visier.
Mit der Kampagne «Protect the Protest!» richtet sich Amnesty International gegen Angriffe auf friedliche Proteste, solidarisiert sich mit den Betroffenen und unterstützt die Anliegen sozialer Bewegungen, die sich für die Menschenrechte einsetzen.
«In den vergangenen Jahren haben wir einige der grössten Protestmobilisierungen seit Jahrzehnten erlebt. Black Lives Matter, MeToo und die Klimabewegung inspirierten Millionen von Menschen weltweit dazu, auf der Strasse und im Internet Klimagerechtigkeit, Gleichberechtigung und eine sichere Existenzgrundlage für alle zu fordern. Sie forderten das Eintreten gegen Rassismus und Diskriminierung und die Beendigung geschlechterspezifischer Gewalt. In anderen Teilen der Welt demonstrierten die Menschen zu Tausenden gegen teils tödliche Polizeigewalt, staatliche Repression und Unterdrückung», sagte Agnès Callamard, Generalsekretärin von Amnesty International.
«Die Behörden reagierten fast ausnahmslos repressiv und oftmals gewaltvoll auf diese Protestwelle. Anstatt das Recht auf Protest zu schützen, gehen sie immer weiter, um es zu unterdrücken. Deshalb starten wir als grösste Menschenrechtsorganisation der Welt diese Kampagne genau jetzt. Es ist an der Zeit, aufzustehen und die Machthabenden lautstark an unser Recht auf Protest zu erinnern.»
Auch in der Schweiz gibt es Herausforderungen in Bezug auf das Recht auf friedlichen Protest. Amnesty Schweiz wird daher im Rahmen der Kampagne auch einen Blick auf die gesetzlichen Grundlagen und die Praxis im Umgang mit Protesten in der Schweiz werfen.
Restriktive Gesetze, pauschale Verbote und Notstandsgesetze
Klimakrise, wachsende Ungleichheit, Bedrohung der Lebensgrundlagen, systemischer Rassismus oder geschlechtsspezifische Gewalt – angesichts der vielen Problemstellungen ist gemeinsames Handeln wichtiger denn je. Doch zahlreiche Regierungen reagieren mit verschärften Gesetzen auf diese Probleme, die das Recht auf Protest in unzulässiger Weise einschränken.
In Griechenland und Zypern gab es beispielsweise während der Corona-Pandemie ein Pauschalverbot von Demonstrationen. Im Vereinigten Königreich verlieh ein neues Gesetz Polizeikräften weitreichende Befugnisse, unter anderem auch die Erlaubnis, «laute Proteste» zu beenden. Im Senegal sind seit 2011 politische Demonstrationen im Stadtzentrum von Dakar verboten, was Proteste in der Nähe von Regierungsgebäuden unterbindet.
Verschiedene Regierungen nutzen immer öfter Notstandsgesetze als Vorwand, um gegen Andersdenkende vorzugehen. Dies war beispielsweise in Thailand auf dem Höhepunkt der Corona-Pandemie zu beobachten. In der Demokratischen Republik Kongo dagegen rief die Regierung im Mai 2021 einen «Belagerungszustand» aus, um Proteste in den Provinzen Ituri und Nord-Kivu gewaltsam niederzuschlagen.
Dämonisierung von Protestierenden
Regierungen in aller Welt rechtfertigen die von ihnen verfügten Einschränkungen mit dem Argument, dass Proteste eine Bedrohung für die öffentliche Ordnung darstellen. Protestierende werden als «Unruhestifter», «Randalierer» oder sogar «Terroristen» stigmatisiert. In diversen Staaten setzen Behörden ihre Null-Toleranz-Politik mit vagen und drakonischen Sicherheitsgesetzen durch, oft begleitet vom Einsatz brutaler Polizeigewalt und präventiver Abschreckungsmassnahmen.
Diese Vorgehensweise konnte man in Hongkong beobachten, wo das «Nationale Sicherheitsgesetz» dazu diente, willkürlich Proteste einzuschränken. Auch in Indien wird ein Antiterrorgesetz (Unlawful Prevention Activities Act, UAPA) und der Straftatbestand der «Aufwiegelung» gegen friedlich Protestierende, Journalist*innen und Menschenrechtsverteidiger*innen eingesetzt.
Militarisierung der Polizei
Regierungen setzen schon seit langem auf aggressive Taktiken bei der Kontrolle von Protesten. Doch die Gewalt durch Sicherheitskräfte nimmt in den letzten Jahren weiter zu.
Sogenannte «weniger tödliche Waffen» wie Schlagstöcke, Pfefferspray, Tränengas, Blendgranaten, Wasserwerfer und Gummigeschosse werden von Sicherheitskräften regelmässig missbräuchlich eingesetzt. Seit Anfang der 2000er-Jahre dokumentiert Amnesty International einen Trend zur Militarisierung der staatlichen Reaktion auf Proteste, einschliesslich des Einsatzes von Streitkräften und militärischer Ausrüstung.
In Ländern wie Chile und Frankreich werden bei Protesten nicht nur Sicherheitskräfte in voller Kampfmontur eingesetzt, sondern darüber hinaus werden diese oft von gepanzerten Fahrzeugen, Militärflugzeugen und Überwachungsdrohnen begleitet. Die Ausrüstung reicht von Sturmgewehren über Blendgranaten bis zu Schallkanonen.
In Myanmar kam es 2021 nach dem Putsch zu Massenprotesten. Das Militär ging seit seiner Machtergreifung mit tödlicher Gewalt gegen die friedlich Protestierenden vor, wobei laut Beobachter*innen mehr als 2000 Menschen getötet und mehr als 13‘000 festgenommen wurden.
Ungleichbehandlung und Diskriminierung
Marginalisierte und diskriminierte Gruppen sind weltweit besonders in ihrem Recht auf Protest eingeschränkt und häufig härteren Repressionen ausgesetzt. Im Sudan, in Kolumbien und Belarus erlebten Frauen beispielsweise sexualisierte Übergriffe, weil sie an Protesten teilnahmen und in der Türkei sind Pride-Paraden seit Jahren verboten.
«Unsere Kampagne kommt zum richtigen Zeitpunkt. Das Recht auf Protest wird in einer beängstigenden Geschwindigkeit eingeschränkt und wir müssen alles tun, was in unserer Macht steht, um diese Entwicklung zu stoppen», sagte Agnès Callamard.
Hintergrund
Die internationalen Menschenrechtsnormen schützen das Recht auf Protest durch eine Reihe separater Bestimmungen, die in verschiedenen internationalen und regionalen Verträgen verankert sind und zusammengenommen einen umfassenden Schutz für Proteste bieten. Auch wenn das Recht auf Protest nicht als eigenständiges Recht in den Menschenrechtsverträgen verankert ist, üben Menschen, die sich individuell oder kollektiv an Protesten beteiligen, eine Vielzahl von Rechten aus, darunter das Recht auf freie Meinungsäusserung und auf friedliche Versammlung.
Zum Bericht «Protect the Protest!: Why we must save our right to protest»