In dem heute veröffentlichten Bericht Rising Prices, Growing Protests: The Case for Universal Social Protection (PDF, english, 33 p.) fordert Amnesty International unter anderem einen internationalen Schuldenerlass. Die Menschenrechtsorganisation fordert die Staatengemeinschaft auf, Steuerreformen zu verabschieden und hart gegen Steuermissbrauch vorzugehen. So sollen erhebliche Mittel zur Finanzierung von Massnahmen zur sozialen Absicherung freigesetzt werden.
«Das Zusammentreffen mehrerer Krisen hat gezeigt, wie schlecht viele Staaten darauf vorbereitet sind, ihrer Bevölkerung grundlegende Hilfe zu leisten. Es ist schockierend, dass mehr als 4 Milliarden Menschen, also etwa 55 Prozent der Weltbevölkerung, nicht einmal den grundlegendsten sozialen Schutz in Anspruch nehmen können.» Agnès Callamard, Internationale Generalsekretärin Amnesty International
«Das Zusammentreffen mehrerer Krisen hat gezeigt, wie schlecht viele Staaten darauf vorbereitet sind, ihrer Bevölkerung grundlegende Hilfe zu leisten. Es ist schockierend, dass mehr als 4 Milliarden Menschen, also etwa 55 Prozent der Weltbevölkerung, nicht einmal den grundlegendsten sozialen Schutz in Anspruch nehmen können. Dabei ist das Recht auf soziale Sicherheit seit 1948 in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verankert», sagte Agnès Callamard, die Internationale Generalsekretärin von Amnesty International.
Der Bericht zeigt, wie steigende Lebensmittelpreise, der Klimawandel sowie die wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie und des Einmarsches Russlands in die Ukraine zu einer humanitären Krise führten, die sich zunehmend in sozialen Unruhen und Protesten niederschlägt. Amnesty International fordert die Staatengemeinschaft auf, dafür zu sorgen, dass alle Menschen Zugang zu Massnahmen erhalten, die ihre soziale Absicherung gewährleisten. Als Beispiele nennt die Organisation Zahlungen bei Krankheit oder Invalidität, Gesundheitsfürsorge, Renten für ältere Menschen, Kindergeld, Familienleistungen und Einkommensunterstützung.
Der Bericht verdeutlicht, wie mangelnde soziale Sicherheit in vielen Staaten dazu geführt hat, dass sie anfälliger für wirtschaftliche Einbrüche werden und schlechter mit den Folgen von Konflikten, dem Klimawandel oder anderen Umbrüchen umgehen können. Die Folgen der aktuellen Krisen – wie weit verbreiteter Hunger, eine steigende Arbeitslosigkeit oder Wut über den sinkenden Lebensstandard – haben weltweit zu Protesten geführt, die oft brutal unterdrückt werden.
Steigende Lebenshaltungskosten aufgrund der Teuerung und der Ruf nach einem existenzsichernden Rentensystem sind auch in der Schweiz relevante Ursachen für Proteste. Beispiele dafür sind die landesweiten 1.Mai-Demos und der Forderungskatalog des diesjährigen feministischen Streiks, der am 14. Juni stattfinden wird.
«Eine universelle soziale Absicherung kann Verletzungen wirtschaftlicher und sozialer Rechte vorbeugen, die oft der Grund für Unmut und Proteste sind. Doch anstatt friedliche Proteste als Ausdruck des Versuchs von Menschen zu sehen, ihre Rechte einzufordern, reagieren die Behörden häufig mit unnötiger oder unverhältnismässiger Gewaltanwendung auf Demonstrationen. Friedlicher Protest ist ein Menschenrecht. Amnesty International setzt sich mit der Kampagne Protect the Protest für dessen Schutz ein», sagte Agnès Callamard.
In dem neuen Bericht fordert Amnesty International internationale Gläubiger auf, Schulden neu zu terminieren oder zu erlassen, um so eine bessere Finanzierung von Sozialausgaben zu gewährleisten. Der Bericht hebt hervor, dass die Kosten für die Bereitstellung eines grundlegenden Sozialversicherungsschutzes in allen Staaten mit niedrigem und mittlerem Einkommen nach Angaben der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) insgesamt auf 440,8 Milliarden US-Dollar pro Jahr geschätzt werden – ein Betrag, der unter den 500 Milliarden US-Dollar liegt, die Staaten jährlich an Steueroasen in aller Welt verlieren, wie das Tax Justice Network schätzt.
Amnesty International fordert die Staatengemeinschaft auf, zusammenzuarbeiten, ihre Ressourcen einzusetzen sowie ihre Steuersysteme zu reformieren, um Steuerhinterziehung und den Verlust wichtiger Einnahmen zu stoppen. So soll sichergestellt werden, dass die zur Verbesserung der sozialen Absicherung nötigen Mittel zur Verfügung stehen.
«Wenn es darum geht, die Probleme in der Welt zu lösen, sind die Lösungen selten einfach. Aber dass die Staaten konsequent gegen den Steuermissbrauch vorgehen sollten, das wissen wir», sagte Agnès Callamard.
Um das Recht auf soziale Sicherheit zu garantieren, setzt sich Amnesty International für die Einrichtung eines international verwalteten Globalen Fonds für Soziale Sicherheit ein. Dieses Konzept wird auch vom Uno-Sonderberichterstatter über extreme Armut und Menschenrechte, dem Uno-Generalsekretär und der ILO unterstützt. Ein solcher Fonds würde den Staaten technische und finanzielle Unterstützung zur Einrichtung sozialer Absicherungssysteme bieten. Ausserdem könnten so die Kapazitäten der nationalen Absicherungssysteme erhöht werden, um auch in Krisenzeiten ihre Funktionsfähigkeit gewährleisten zu können.
Hunger, Armut und Proteste
Das Fehlen einer angemessenen sozialen Absicherung kann für die wachsende Zahl von Menschen, die sich nicht genug Lebensmittel leisten können, dramatische Folgen haben.
Laut dem Welternährungsprogramm (WFP) sind 349 Millionen Menschen auf der Welt unmittelbar von Nahrungsmittelknappheit bedroht, 828 Millionen gehen jede Nacht hungrig zu Bett.
Darüber hinaus hat laut dem Bericht über die Ziele für nachhaltige Entwicklung 2022 die Corona-Pandemie fast vier Jahre Fortschritt bei der Armutsbekämpfung zunichte gemacht und weitere 93 Millionen Menschen in extreme Armut gebracht. Sie müssen mit weniger als 2,15 US-Dollar pro Tag auskommen.
Das Fehlen wirksamer Massnahmen zur Eindämmung von Inflation und Versorgungsengpässen in verschiedenen Bereichen hat sinkenden Lebensstandards und zu Protesten auf der ganzen Welt geführt, unter anderem im Iran, in Sierra Leone und in Sri Lanka.
Die steigenden Preise für Lebensmittel und andere lebenswichtige Güter treffen die Menschen in Ländern mit niedrigem Einkommen am härtesten, aber die zunehmende Inanspruchnahme von Lebensmittel-Tafeln in wohlhabenderen Ländern zeigt, dass die Krise der Lebenshaltungskosten und der Erschwinglichkeit von Lebensmitteln weit verbreitet ist.
Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, einem wichtigen Getreideproduzenten, hat der weltweiten Lebensmittelversorgung einen verheerenden Schlag versetzt und den Lebensmittelpreisindex der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) auf den höchsten Stand seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 1990 gebracht. Der Klimawandel und die steigenden Düngemittelpreise haben zudem die landwirtschaftliche Produktion beeinträchtigt. Laut Angaben der FAO ist Dürre die grösste Einzelursache für Ernteeinbussen.
Soziale Sicherheit, Steuern und Schulden
Amnesty International ist Teil einer wachsenden Koalition von Expert*innen und zivilgesellschaftlichen Organisationen, die die Staaten auffordern, schrittweise eine universelle soziale Absicherung zu gewährleisten und ein Verständnis für die damit verbundenen Vorteile zu entwickeln.
Agnès Callamard sagte: «Der Schutz der Menschen vor Verlusten aufgrund von Schocks, Katastrophen oder wirtschaftlichen Rückschlägen kann sowohl für die Gesellschaft als auch für den Staat, der die Unterstützung leistet, einen positiven Wandel bewirken, indem er soziale Spannungen und Konflikte verringert und eine Erholung fördert. Er ermöglicht es Kindern, in der Schule zu bleiben, verbessert die Gesundheitsfürsorge, verringert Armut und Einkommensungleichheit und kommt letztlich den Gesellschaften wirtschaftlich zugute.»
«Wir können nicht weiter wegschauen, wenn die Ungleichheit immer grösser wird und die Leidtragenden dabei auf der Strecke bleiben. Steuerhinterziehung und aggressive Steuervermeidung durch Einzelpersonen und Unternehmen entziehen den Staaten und insbesondere den Ländern mit niedrigem Einkommen die Ressourcen, die sie benötigen.»
Eine hohe Verschuldung und die damit verbundenen Kosten führen dazu, dass hoch verschuldete Staaten oft nicht über die finanziellen Möglichkeiten verfügen, um Programme zur sozialen Absicherung in die Tat umzusetzen. Nach Angaben von Oxfam geben Länder mit niedrigem Einkommen viermal mehr für die Rückzahlung von Schulden aus als für die Bereitstellung von Gesundheitsdiensten und zwölfmal mehr für Schuldenzahlungen als für Massnahmen zur sozialen Absicherung.
Laut dem Jahresbericht des IWF sind rund 60 Prozent der Länder mit geringem Einkommen überschuldet oder hochgradig gefährdet sich zu überschulden und laufen Gefahr, ihre Schulden nicht zurückzahlen zu können. Durch einen Schuldenerlass oder eine Umschuldung würden in vielen Ländern erhebliche Mittel zur Finanzierung des Sozialschutzes frei.