Am 8. März umringte die Polizei in Basel friedliche Demonstrant*innen, die sich anlässlich des Internationalen Tags der Frauenrechte versammelt hatten, und schoss mit Gummigeschossen in die Menge. Einen Monat zuvor, am 9. Februar, ging die Polizei in Genf mit Schlagstöcken gegen Demonstrant*innen vor, die ein Gebäude besetzen wollten. Diese Vorfälle, zu denen Amnesty Schweiz Stellung genommen hat, sind nur die Spitze des Eisbergs und deuten auf eine Gesetzgebung und Praxis hin, die das Demonstrationsrecht in der Schweiz in gewissen Fällen unrechtmässig einschränkt.
Amnesty Schweiz unterstützt Gerichtsverfahren von Menschenrechtsverteidiger*innen, die zeigen, dass die in der Schweiz geltende Bewilligungspflicht für Versammlungen ein Hindernis für die Ausübung des Demonstrationsrechts darstellt. In einem Brief an die Schweizer Behörden teilte der Uno-Sonderberichterstatter für Versammlungsfreiheit seine Besorgnis diesbezüglich und stellte fest, dass die Genehmigungssysteme «eine übermässig abschreckende Wirkung haben und die Ausübung der friedlichen Versammlungsfreiheit in unangemessener Weise einschränken».
«Unverhältnismässige Strafen bei zivilem Ungehorsam, Bewilligungssysteme, die Demonstrationen erschweren, generelle Demonstrationsverbote an bestimmten Orten, Auflösung friedlicher Demonstrationen mit der Begründung, sie seien nicht bewilligt worden, unangemessener Einsatz von 'weniger tödlichen' Waffen (insbesondere Gummigeschosse): In der Schweiz wird das Demonstrationsrecht auf vielfältige Weise eingeschränkt. Aus diesem Grund lanciert Amnesty die neue Kampagne zum Recht auf Protest», sagt Alexandra Karle, Direktorin von Amnesty Schweiz.
Rechte der Demonstrant*innen und Pflichten der Ordnungskräfte
Wer seine oder ihre Rechte angesichts möglicher Übergriffe durch Behörden und Polizei kennt, kann diese besser wahrnehmen. Der heute veröffentlichte Demo-Guide von Amnesty Schweiz soll Aktivist*innen unterstützen, friedliche Demonstrationen zu organisieren oder daran teilzunehmen. Basierend auf einer juristischen Analyse erklärt der Leitfaden, was durch das Demonstrationsrecht geschützt ist, was nicht, und welche Widersprüche zwischen dem internationalen Recht und dem Schweizer Gesetz sowie der Praxis bestehen. Es wird insbesondere darauf hingewiesen, dass friedliche Demonstrationen ein Grundrecht sind, auch ohne behördliche Genehmigung, und dass gewaltloser ziviler Ungehorsam eine durch das Völkerrecht geschützte Protestform ist.
Der Demo-Guide enthält auch eine Auflistung der Pflichten von Behörden und Polizeikräften im Zusammenhang mit Demonstrationen. Die Behörden sind verpflichtet, Demonstrationen zu erleichtern und gleichzeitig die Teilnehmer*innen zu schützen − auch im Falle von vereinzelter Gewalt durch Teilnehmer*innen. Sie dürfen das Recht auf Protest nur aufgrund eines überwiegenden öffentlichen Interesses (z. B. nationale Sicherheit oder Gesundheitsschutz) oder zum Schutz der Rechte und Freiheiten anderer einschränken, wenn diese Einschränkungen gesetzlich vorgesehen sind und in einem angemessenen Verhältnis zum legitimen Ziel stehen. Ebenso dürfen sie Gewalt nur unter aussergewöhnlichen Umständen und als letztes Mittel anwenden.
Schliesslich beurteilt der Demo-Guide die Rechtmässigkeit einer Reihe von Praktiken sowohl der Demonstrant*innen als auch der Ordnungskräfte. Es wird erklärt, wie Polizeibeamt*innen die Identität von Demonstrant*innen kontrollieren, ob Demonstrant*innen filmen dürfen, welche Regeln für das Tragen von Masken bei Versammlungen gelten, wie die Teilnehmer*innen einer Demonstration auf mögliche Eingriffe der Polizei reagieren können und welche Rechte sie im Falle einer Festnahme geltend machen können.
«Mit Protesten können wir uns für unsere Rechte einsetzen. Das Ziel des Demo-Guides und unserer Kampagne ist es, Aktivist*innen zu unterstützen. Ausserdem wollen wir die Öffentlichkeit und die Behörden für die Legitimität von Protesten sensibilisieren, damit diese in einem sicheren Rahmen stattfinden können», sagt Alexandra Karle. «Der Bund und die Kantone müssen dafür sorgen, dass alle Menschen in der Schweiz ihr Recht auf Protest ohne ungerechtfertigte Einschränkungen ausüben können. Die gesetzlichen Grundlagen und die Praxis der Behörden müssen entsprechend angepasst werden.»
Zur internationalen Kampagne
Weltweit reagieren Staaten mit einer immer breiteren Palette von Massnahmen zur Unterdrückung von organisiertem Protest. Demonstrant*innen sehen sich mit Gesetzen konfrontiert, die das Demonstrationsrecht einschränken, sie sind dem Einsatz von Waffen mit geringer Letalität ausgesetzt und leiden unter gezielter Überwachung ihrer Aktivitäten, die oft mit Strafverfolgung und Verhaftungen einhergeht. Amnesty International hat ihre weltweite Kampagne «Protect the Protest» gestartet, um der zunehmenden Tendenz einiger Staaten entgegenzuwirken, das Recht auf Protest zu untergraben. Die Kampagne von Amnesty Schweiz ist Teil dieser internationalen Kampagne.
Die Demonstrationsfreiheit ist durch das internationale Recht geschützt, auch wenn sie nicht in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte (AEMR) enthalten ist. Sie leitet sich hauptsächlich aus der friedlichen Versammlungsfreiheit und dem Recht auf freie Meinungsäusserung ab, die in mehreren Rahmendokumenten zu den Menschenrechten verankert sind: Der AEMR, dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, der Europäischen Menschenrechtskonvention, sowie der Uno-Erklärung zu Menschenrechtsverteidiger*innen. In der Schweiz sind diese Freiheiten durch die Artikel 16 und 22 der Bundesverfassung garantiert.