In dem neuen Bericht «Under-protected and over-restricted: The state of the right to protest in 21 countries in Europe» wird ein Muster repressiver Gesetze, unnötiger oder übermässiger Gewaltanwendung, willkürlicher Festnahmen und strafrechtlicher Verfolgung sowie ungerechtfertigter oder diskriminierender Einschränkungen des Rechts auf Protest deutlich, das sich über den gesamten Kontinent erstreckt. Ebenfalls klar erkennbar ist der zunehmende Einsatz invasiver Überwachungstechnologien zur systematischen Einschränkung des Rechts auf Protest.
In den 21 untersuchten Ländern – darunter die Schweiz – stellt Amnesty International einen beunruhigenden Trend fest: Europaweit schaffen repressive Gesetze und Massnahmen in Verbindung mit ungerechtfertigten Praktiken und dem missbräuchlichen Einsatz von Überwachungstechnologien ein toxisches Umfeld, das eine ernsthafte Bedrohung für friedliche Proteste und deren Organisator*innen und Teilnehmer*innen darstellt.
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Friedliche Aktionen des zivilen Ungehorsams werden zunehmend als Bedrohung der öffentlichen Ordnung und/oder der nationalen Sicherheit dargestellt, was den Behörden einen Vorwand liefert, um Beschränkungen zu verhängen und internationale Menschenrechtsverpflichtungen zu umgehen. Dazu gehören unnötige Wegweisungen durch die Polizei, übermässige Gewaltanwendung, Festnahmen auf der Grundlage rechtlich unklarer Gesetze, Anklagen und Sanktionen, die auch Gefängnisstrafen umfassen.
Amnesty International konnte asserdem ermitteln, dass in zahlreichen europäischen Ländern beschuldigte Polizeibeamt*innen straflos blieben und/oder die Rechenschaftspflicht der Polizei nicht ernst genommen wurde. Die europäischen Staaten setzen zunehmend neue Technologien und Überwachungsinstrumente ein, um Demonstrierende gezielt und in grossem Umfang zu kontrollieren. 11 von 21 Ländern setzen bereits Gerichtserkennungstechnologien zur Identifizierung von Demonstrant*innen ein, was einer willkürlichen Massenüberwachung gleichkommt. 6 weitere Länder erwägen den Einsatz dieser Technik. Amnesty International fordert ein vollständiges Verbot solcher Technologien.
Der Bericht stellt zudem einen beunruhigenden Trend der Verunglimpfung durch die Behörden fest, der darauf abzielt, Demonstrierende und Proteste zu delegitimieren. Eine verleumderische Rhetorik von Seiten der Behörden ist in allen der 21 untersuchten Ländern an der Tagesordnung: Menschen, die ihr Recht auf friedlichen Protest wahrnehmen, werden als «Terroristen», «Kriminelle», «ausländische Agenten», «Anarchisten» und «Extremisten» bezeichnet. Diese negative Rhetorik wird häufig als Rechtfertigung für die Einführung immer restriktiverer Gesetze herangezogen.
«Überall auf dem Kontinent werden Menschen, die friedlich protestieren, von den Behörden verunglimpft, behindert, abgeschreckt oder unrechtmässig bestraft.» Alicia Giraudel, Researcherin und Juristin bei der Schweizer Sektion von Amnesty International
«Die Recherchen von Amnesty International zeichnen ein beunruhigendes Bild des europaweiten Angriffs auf das Recht auf Protest. Überall auf dem Kontinent werden Menschen, die friedlich protestieren, von den Behörden verunglimpft, behindert, abgeschreckt oder unrechtmässig bestraft», sagt Alicia Giraudel, Researcherin und Juristin bei der Schweizer Sektion von Amnesty International. «In der Schweiz scheinen mehrere Kantone diesem Trend nachzueifern, indem sie die Bedingungen für die Durchführung von Demonstrationen verschärfen, ohne zwischen einem Nachbarschaftsfest und einer Demonstration, die durch die Menschenrechte geschützt ist, zu unterscheiden.»
Die Lage in der Schweiz
Der Bericht hebt insbesondere die Widersprüche zwischen dem Schweizer Recht und der Praxis und den völkerrechtlichen Verpflichtungen hervor, welche den Staaten die Verantwortung übertragen, friedliche Versammlungen zu achten, zu schützen und zu erleichtern, Hindernisse für Demonstrationen zu beseitigen und ungerechtfertigte Eingriffe in die Ausübung des Rechts auf friedliche Versammlung zu vermeiden.
Die Besonderheiten des föderalen Systems der Schweiz bringen für Personen, die demonstrieren möchten, zusätzliche Schwierigkeiten mit sich.
Das in fast allen Kantonen geltende Bewilligungssystem beispielsweise, das für jede Demonstration eine vorherige Genehmigung verlangt, schränkt die Ausübung des Rechts auf Protest ein und können von der Teilnahme an einer Versammlung abschrecken. Das Gesetz verlangt, dass jede Demonstration, auch wenn sie nur wenige Personen umfasst oder mehr als 48 Stunden nach einem Ereignis stattfindet, auf das sie reagiert, die gleiche Bewilligung erhalten muss wie eine Demonstration, die Monate im Voraus geplant ist. Das Versäumnis, eine Demonstration im Voraus anzumelden (oder gegebenenfalls eine Genehmigung einzuholen), wird teilweise dazu benutzt, eine Versammlung als «rechtswidrig» einzustufen, ihre Auflösung anzuordnen und strafrechtliche Sanktionen gegen Organisator*innen und Teilnehmer*innen zu verhängen. So wird am 15. August ein Gericht in Bern über den Fall einer Mitarbeiterin von Amnesty Schweiz entscheiden, die zusammen mit fünf anderen Aktivist*innen eine Petition an die russische Botschaft übergeben hatte, ohne um eine Genehmigung gebeten zu haben.
Die Besonderheiten des föderalen Systems der Schweiz bringen für Personen, die demonstrieren möchten, zusätzliche Schwierigkeiten mit sich. Denn die kantonalen Unterschiede in der Gesetzgebung erfordern eine genaue Kenntnis des anwendbaren Bewilligungssystems oder der einzuhaltenden Bedingungen. Ebenso ist es trotz der Ähnlichkeiten zwischen den Kantonen – insbesondere in Bezug auf die Anforderung, die Kosten für öffentliche Dienstleistungen wie Strassenreinigung, Sicherheit und Notdienste zu tragen oder sich daran zu beteiligen, oder in Bezug auf die Strafverfolgung von Organisator*innen und Teilnehmer*innen nicht bewilligter Demonstrationen – schwierig, ein vollständiges Bild der Situation des Rechts auf Protest in der Schweiz zu zeichnen. In Freiburg stellte die Polizei den Organisator*innen einer Demonstration die Kosten für die Regelung des Verkehrs in Rechnung. Die Klage liegt derzeit vor dem Freiburger Gericht. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte muss ausserdem über die Verantwortung der Organisation des feministischen Streiks in Genf und die Forderung der Behörden, dass die Organisator*innen für einen Ordnungsdienst sorgen müssen, entscheiden.
«Es gibt keine Regeln, die für die ganze Schweiz gelten. Jeder Kanton und jede Gemeinde hat eigene Regeln», sagt Alicia Giraudel. Amnesty International arbeitet derzeit an einem Bericht zu den besonderen Problematiken der kantonalen Gesetzgebungen zum Recht auf Protest in der Schweiz. Dieser Bericht soll im Herbst veröffentlicht werden.
«Anstatt friedliche Proteste einzuschränken und diejenigen zu bestrafen, die auf die Strasse gehen, müssen europäischen Staaten, darunter auch die Schweiz, ihr Vorgehen völlig neu überdenken. Proteste sollten erleichtert und Demonstrant*innen nicht zum Schweigen gebracht werden. Die repressiven Gesetze und Vorschriften müssen überarbeitet werden, damit sie mit den internationalen Menschenrechtsverpflichtungen vereinbar sind.»
Hintergrund
Im Rahmen des Berichts wurden folgende Länder untersucht: Belgien, Deutschland, Finnland, Frankreich, Griechenland, Irland, Italien, Luxemburg, die Niederlande, Österreich, Polen, Portugal, Schweden, die Schweiz, Serbien, Slowenien, Spanien, die Tschechische Republik, Ungarn, die Türkei und das Vereinigte Königreich.
Das Projekt ist Teil der globalen Kampagne «Protect the Protest» von Amnesty International, die sich für das Recht auf Protest in der ganzen Welt einsetzt.