Amnesty International-Report 2010 Das Versagen der internationalen Justiz

Obwohl 2009 ein bedeutendes Jahr für die internationale Justiz war, wächst weltweit und als Folge der Machtpolitik bestimmter Staaten das Versagen dieser Justiz. Dies erklärte Amnesty International am 27. Mai 2010 anlässlich der Jahresbilanz zur globalen Situation der Menschenrechte. In Bezug auf die Schweiz verurteilt Amnesty International den rassistischen und fremdenfeindlichen Diskurs, besonders während der Kampagne zur Minarett-Initiative. Die Organisation bezieht sich ausserdem auf die Beurteilung mehrerer Uno-Komitees, die sich über die schwierigen Lebensbedingungen von abgewiesenen Asylsuchenden, beziehungsweise über ungenügende Hilfsangebote für die Opfer von Menschenhandel sorgen.

Anlässlich der Erscheinung des «Jahresbericht 2010 – Die Situation der Menschenrechte in der Welt», der die Verletzung der Menschenrechte behandelt, die in 159 Ländern begangen worden sind, wies die Organisation darauf hin, dass die Regierungen einflussreicher Staaten den Fortschritt in Sachen internationaler Justiz blockierten. Diese stellten eigenes Recht über die Menschenrechte, schützten ihre Verbündeten gegen Kritik und handelten nur aus politischem Eigeninteresse.

«Die Staaten müssen darauf achten, dass sich niemand über die Gesetze stellt und dass alle im Falle von Verletzungen der Menschenrechte Zugang zur Justiz haben. Solange die Regierungen die Rechtsprechung ihren eigenen politischen Interessen unterordnen, wird der grösste Teil der Menschheit nicht frei von Terror und Elend leben können», erklärte Claudio Cordone, Generalsekretär ad interim von Amnesty International.

Amnesty International ruft die Regierungen dazu auf, sich der Eigenverantwortung zu stellen und dem internationalen Strafgerichtshof beizutreten sowie alles zu unternehmen, damit die Täterschaft von Verbrechen gegen das internationale Recht auf der ganzen Welt verfolgt und eingeklagt werden können. Staaten, die in der Welt eine führende Rolle beanspruchen - gemeint sind speziell die G20-Staaten - haben eine besondere Verantwortung und müssen mit gutem Beispiel vorangehen, unterstrich die Organisation.

Der Haftbefehl durch den internationalen Strafgerichtshof gegen den Sudanesischen Präsidenten Omar Hassan Al Bachir wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit hat 2009 ein entscheidendes und weltweit sichtbares Zeichen dafür gesetzt, dass selbst amtierende Staatschefs nicht über den Gesetzen stehen. Doch der Widerstand der Afrikanischen Union gegen jegliche Kooperation, trotz des Albtraumes der Gewalt, den Hunderttausende Menschen in der Provinz Darfur durchleiden müssen, zeigt auf brutale Weise, wie einzelne Regierungen sich weigern, Recht über Politik zu stellen.

Der in der Sri Lanka-Frage handlungsunfähige Uno-Menschenrechtsrat hat trotz schwerwiegender Menschenrechtsverletzungen und mutmasslicher Kriegsverbrechen sowohl auf Seiten der Regierungstruppen wie auch auf Seiten der Liberation Tigers of Tamil Eelam (LTTE) ebenfalls die Unfähigkeit der internationalen Gemeinschaft demonstriert, angemessen zu handeln. Während dieser Zeit haben weder Israel noch die Hamas den Forderungen des Goldstein-Reports (Menschenrechtsrat) Folge geleistet, wonach die Urheber der Menschenrechtsverletzungen im Gaza-Konflikt für ihre Taten zur Rechenschaft gezogen werden sollen.

Das Versagen der internationalen Justiz macht in der ganzen Welt unheilvolle Unterdrückung möglich. Amnesty International hat Fälle von Folter und Misshandlungen in 111 Ländern dokumentiert, unfaire Gerichtsverfahren in 55 Ländern, Einschränkungen der Meinungsäusserungsfreiheit in 96 Ländern und gewaltlose politische Gefangene in mindestens 48 Ländern aufgelistet. Derartige Verletzungen geschehen möglicherweise in einer noch weitaus grösseren Anzahl von Staaten.

Amnesty International hat ausserdem an die G20-Staaten appelliert, welche das Römer Statut des Internationalen Strafgerichtshofs noch nicht unterzeichnet haben – es sind dies die Vereinigten Staaten, China, Russland, die Türkei, Indien, Indonesien sowie Saudi Arabien – dies zu tun. An der Konferenz zur Überprüfung des Statuts von Rom, die am 31. Mai in Kampala eröffnet wird, werden die Staaten die Gelegenheit haben, ihr Engagement für den Gerichtshof zu beweisen.

Trotz der im vergangenen Jahr festgestellten schwerwiegenden Versäumnisse, gab es im Bereich der internationalen Justiz zahlreiche Fortschritte. In Lateinamerika wurden Untersuchungen über Verbrechen wieder aufgenommen, deren Urheber durch Amnestiegesetze geschützt waren. Historische Verfahren gegen frühere Machthaber wie Ex-Präsident Alberto Fujimori wurden wieder aufgerollt. Er wurde für Verbrechen gegen die Menschlichkeit verurteilt. Ebenso wurde der letzte Militärdiktator von Argentinien, Reynaldo Bignone, der Entführung und Folter für schuldig befunden. Sämtliche Fälle des Sondergerichtshofes von Sierra Leone wurden beendet mit Ausnahme desjenigen des Ex-Präsidenten von Liberia, Charles Taylor.

Schweiz

Im Kapitel über die Schweiz sorgt sich Amnesty International über den Anstieg von Rassismus und Fremdenfeindlichkeit im gegenwärtigen Diskurs sowie über die Stigmatisierung der Gemeinschaft der Musliminnen und Muslime während der Abstimmungskampagne zur Minarett-Initiative. Die europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz hat bedauert, dass eine «Initiative, welche die Menschenrechte verletzt, zur Abstimmung gelangen kann.» Der Artikel zum Rassendiskriminierungsverbot im Strafgesetzbuch ist nur von begrenzter Wirksamkeit. Der Kampf gegen die Diskriminierung muss in der Schweiz durch die Verabschiedung eines echten Anti-Diskriminierungs-Gesetzes gestärkt werden.

Die Organisation erwähnt ausserdem die Einschätzungen mehrerer Institutionen des Europarates sowie der Uno, die sich über die schwierigen Lebensbedingungen von abgewiesenen Asylsuchenden, beziehungsweise über ungenügende Hilfsangebote für die Opfer von Menschenhandel sorgen. Das Uno-Menschenrechtskomitee ist auch beunruhigt über die Tatsache, dass es das Bundesgesetz über Ausländerinnen und Ausländer ermöglicht, ausländischen Frauen eine Aufenthaltsbewilligung oder deren Erneuerung zu verweigern, welche sich wegen häuslicher Gewalt haben scheiden lassen.

Schliesslich bedauert Amnesty International die Entscheidung des Bundesrates, welcher die Schaffung einer unabhängigen nationalen Menschenrechts-Institution als verfrüht beurteilt und sie durch ein Pilotprojekt ersetzen will, das nicht mit den umfassenden und für eine solche Institution notwendigen Kriterien ausgestattet ist. Die Menschenrechtsorganisation freut sich dagegen über die bundesrätliche Entscheidung, Ex-Gefangenen von Guantanamo humanitären Schutz zu gewähren.

Medienmitteilung von Amnesty International
Veröffentlicht: 27. Mai 2010
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