Von Claudio Cordone, Generalsekretär ad interim von Amnesty International.
Zwischen Januar und Mai 2009 sassen rund 300 000 Sri Lanker auf einem schmalen Streifen Land fest, eingeschlossen zwischen den sich zurückziehenden Kämpfern der Befreiungstiger von Tamil Eelam (LTTE) und vorrückenden Einheiten des srilankischen Militärs. Trotz zunehmender Meldungen über Menschenrechtsverstösse beider Konfliktparteien schritt der UN-Sicherheitsrat nicht ein. Mindestens 7000 Menschen starben, einige Quellen sprechen von bis zu 20000 Toten. Die Regierung von Sri Lanka wies die Berichte über Kriegsverbrechen ihrer Truppen ebenso zurück wie die Forderungen nach einer Untersuchung der Vorgänge durch ein internationales Gremium. Auch die Chance, eigene glaubwürdige und unabhängige Ermittlungen einzuleiten, liess sie ungenutzt. Als der UN-Menschenrechtsrat eine Sondersitzung einberief, führten Machtkämpfe dazu, dass die Mitgliedstaaten eine Resolution verabschiedeten, in der die Regierung Sri Lankas zu ihren Erfolgen gegen die LTTE beglückwünscht wurde. Obwohl im Verlauf des Jahres weitere Beweise für Kriegsverbrechen und andere Straftaten ans Tageslicht gelangten, war bis Ende 2009 noch keiner der dafür mutmasslich Verantwortlichen vor Gericht gestellt worden.
Ein noch umfassenderes Versagen bei der juristischen Aufarbeitung von Menschenrechtsverbrechen ist kaum vorstellbar.
Wenn ich darüber nachdenke, kommen mir Sätze in den Sinn, die ich im Vorwort zum Amnesty International Jahresbericht 1992 gelesen habe. Darin werden die Staaten aufgeführt, in denen führende Politiker und ranghohe Militärs sicher sein konnten, für in ihrem Auftrag begangene oder von ihnen geduldete Verbrechen wie Tötungen, «Verschwindenlassen» von Menschen oder systematische Vergewaltigungen und andere Folter nicht zur Verantwortung gezogen zu werden. Eines der unrühmlichsten Beispiele war damals Sri Lanka. Dort sind in den Jahren 1988-1990 im Zuge der Niederschlagung von Aufständen Zehntausende Menschen dem «Verschwindenlassen» oder staatlichem Mord zum Opfer gefallen.
Die Frage liegt auf der Hand: Hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten etwas verändert? Ein Blick auf Sri Lanka, Kolumbien oder den Gazastreifen legt die Antwort nahe: nein, nicht wirklich. Warum also überhaupt weitermachen, nicht nachlassen, Rechenschaft zu fordern? Weil in den zurückliegenden knapp 20 Jahren trotz aller vorhandenen und neu entstandenen Herausforderungen Fortschritte bei der Überwindung der Straflosigkeit erzielt worden sind. Für Menschenrechtsverletzer ist es weitaus schwieriger geworden, sich der strafrechtlichen Verantwortung für die von ihnen verübten Verbrechen zu entziehen.
Noch aber reichen die gesetzlichen Bestimmungen bei weitem nicht aus. In einigen Fällen ist eine Überprüfung der Sachverhalte nicht möglich, in anderen Fällen verstreicht viel zu viel Zeit, bis der Gerechtigkeit Genüge getan wird. Doch es sind auch positive Entwicklungen festzustellen. Die Forderungen nach Verantwortung und Rechenschaft beschränken sich nicht mehr allein auf den Aspekt der Entschädigung bei Folter oder Tötungsdelikten, sondern beziehen sich zunehmend auch auf die Verweigerung grundlegender Menschenrechte wie Nahrung, Bildung, Wohnraum und Gesundheit.
Erfolge auf dem Weg hin zu grösserer Rechenschaftspflicht
Rechenschaftspflicht bedeutet, Verantwortung für Handlungen oder unterlassene Handlungen mit unmittelbaren Folgen für Dritte übernehmen zu müssen. Das Konzept ist umfassend: So spricht man beispielsweise von politischer Verantwortung, eine Messlatte dafür sind Wahlen, oder auch von moralischer Verantwortung, die an den Wertvorstellungen einer Gesellschaft gemessen werden kann.
Mit der Verankerung internationaler Menschenrechtsstandards wird in erster Linie das Ziel verfolgt, die Verantwortung für die Menschenrechte festzuschreiben. Wir brauchen eine Definition der Rechte, die den Menschen zustehen, und ihr Schutz muss gesetzlich verankert werden. Den Regierungen fällt hier eine besondere Verantwortung zu.
Wer in seinen Rechten verletzt worden ist, hat Anspruch auf Wahrheit und Gerechtigkeit. Aus diesem Anspruch leitet sich die Forderung ab, die für Menschenrechtsverletzungen Verantwortlichen nicht straffrei davonkommen zu lassen. Opfern und ihren Familien steht das Recht zu, dass das ihnen zugefügte Leid anerkannt und die Täter zur Rechenschaft gezogen werden. Wenn man den Betroffenen Wiedergutmachung gewähren will, ist es ebenso wichtig zu erfahren, wer ihnen Leid angetan hat und warum, wie die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.
Wo für begangenes Unrecht Rechenschaft eingefordert wird, öffnet sich auch der Blick nach vorne. Ein solches Vorgehen dient nicht nur der Abschreckung vor zukünftigen Straftaten, sondern kann eine Reform nationaler und internationaler Institutionen einleiten. Wirksame Rechenschaftsmechanismen helfen Staaten ihr politisches und gesetzgeberisches Handeln zu verbessern, und ermöglichen es, daraus resultierende Veränderungen im Leben der Menschen zu verfolgen.
In den zurückliegenden zwei Jahrzehnten ist es dank einer weltweiten Kampagne gelungen, der internationalen Rechtsprechung eine wichtige Rolle zuzuweisen. So wurde 1998 der Internationale Strafgerichtshof (International Criminal Court) ins Lebens gerufen. Er entstand in Anlehnung an zwei ebenfalls internationale Gerichte, vor denen Verfahren wegen Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien und in Ruanda verhandelt worden waren.
Einen Wendepunkt markierte der Internationale Strafgerichtshof 2009, indem er einen Haftbefehl gegen einen noch amtierenden Staatschef ausstellte. Es handelte sich um den sudanesischen Präsidenten Omar al-Bashir, dem Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Mord, Völkermord, Zwangsumsiedlungen, Folter und Vergewaltigung) sowie Kriegsverbrechen gegen Zivilpersonen in zwei Fällen zur Last gelegt wurden.
Bis Ende 2009 hatte die Anklagebehörde des Internationalen Strafgerichtshofs auf Bitten der Regierungen von Uganda, der Demokratischen Republik Kongo und der Zentralafrikanischen Republik Ermittlungen zu dort mutmasslich verübten Verbrechen aufgenommen. Der UN-Sicherheitsrat bat um eine Prüfung der Vorgänge in der sudanesischen Provinz Darfur. In einem Antrag an die Vorverfahrenskammer wurde zudem um Ermittlungen im Zusammenhang mit Vorfällen in Kenia ersucht. Der Internationale Strafgerichtshof liess dem Anführer einer bewaffneten Gruppe in Darfur eine Vorladung zukommen und stellte Haftbefehle gegen einen Milizenchef, ein ranghohes Regierungsmitglied und den sudanesischen Präsidenten aus. Weitere Haftbefehle ergingen gegen die Anführer bewaffneter Gruppen in Uganda, der Demokratischen Republik Kongo und der Zentralafrikanischen Republik. Damit wurde dem Grundsatz Rechnung getragen, dass Personen, die mutmasslich für Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantwortlich sind, in gleicher Weise und unabhängig von ihrer Funktion als Mitglied einer Regierung oder einer nichtstaatlichen Gruppierung vor dem Gesetz zur Rechenschaft gezogen werden müssen.
In den zurückliegenden Jahren hat der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs seine Tätigkeit auch auf Länder ausserhalb des afrikanischen Kontinents ausgeweitet - auf Afghanistan, Kolumbien, Georgien sowie auf den Gazastreifen und Südisrael im Zusammenhang mit den dortigen Konflikten in den Jahren 2008 und 2009.
Bis Ende 2009 hatten 110 Staaten das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs ratifiziert und damit den Anstoss für innerstaatliche Gesetzesreformen gegeben. Mit solchen Reformen soll die Möglichkeit geschaffen werden, dass Tatverdächtige, sofern sie im Heimatstaat nicht strafverfolgt werden - und auch nur dann -, im Ausland vor Gericht gebracht werden können. Im Jahr 2009 erfuhr die Weiterentwicklung der universellen Gerichtsbarkeit zwar einige Rückschläge, beispielsweise durch die Verabschiedung einer gesetzlichen Bestimmung in Spanien, die den Anwendungsbereich der universellen Gerichtsbarkeit einschränkt. Andererseits haben Rechtsanwälte vor nationalen Gerichten Amerikas, Europas und Asiens Verfahren angestrengt, von denen einige zurzeit verhandelt werden. Zwei südafrikanische Nichtregierungsorganisationen fochten im Dezember vor Gericht die Entscheidung der Behörden ihres Landes an, bei einigen in Simbabwe verübten Verbrechen gegen die Menschlichkeit keine Ermittlungen aufzunehmen. Bei den mutmasslichen Tätern handelte es sich um Personen, die immer wieder nach Südafrika einreisten. Bis Ende 2009 waren in mehr als 40 Staaten Gesetze in Kraft getreten, welche die universelle Gerichtsbarkeit bei Verbrechen gegen das Völkerrecht anerkannten oder stärkten. Dadurch wurde die Straflosigkeit zumindest ein Stück weit durchbrochen.
Die genannten Ermittlungs- und Strafverfahren haben bei Regierungen und in der Öffentlichkeit zu einer veränderten Wahrnehmung solcher Verbrechen geführt. Immer mehr setzt sich die Erkenntnis durch, dass es sich dabei um schwere Verbrechen handelt, die aufgeklärt und geahndet werden müssen, und nicht um politische Differenzen, die auf diplomatischem Wege beigelegt werden können. Nach der Festnahme des früheren chilenischen Präsidenten Augusto Pinochet 1998 in London bin ich gemeinsam mit meinen Kolleginnen und Kollegen entschlossen dafür eingetreten, dass er vor Gericht gestellt wird. Daher ermutigt mich dieses Umdenken nun ganz besonders.
Überall in den Ländern Lateinamerikas beginnen Regierungen und Gerichte, lange Zeit durch Amnestiegesetze blockierte Ermittlungen zur Aufklärung von Verbrechen wieder aufzurollen. Solche Entwicklungen zeigen, dass die Zivilgesellschaft ungeachtet zahlreicher Amnestien und anderer Massnahmen zur Vereitelung strafrechtlicher Schritte auch Jahrzehnte nach den Ereignissen nicht nachlässt, Hindernisse aus dem Weg zu räumen, welche der Wahrheitsfindung, der Gerechtigkeit und der Wiedergutmachung im Wege stehen.
Eines der wegweisenden Urteile des Jahres 2009 erging im April, als der ehemalige peruanische Präsident Alberto Fujimori wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig gesprochen wurde. Man zog ihn zur Verantwortung für drei Fälle aus den frühen 1990er Jahren, bei denen Todesschwadronen des Militärs Menschen verschleppt, gefoltert und getötet hatten. Das Urteil hatte für die Angehörigen grosse Bedeutung. Der Oberste Gerichtshof von Uruguay befand in einem Urteil vom Oktober das im Land geltende Amnestiegesetz als unvereinbar mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen des Staates Uruguay und erklärte es deshalb für null und nichtig. Und als das Jahr zu Ende ging, begann die Staatsanwaltschaft in Argentinien in einem der wichtigsten Prozesse seit Ende der von 1976 bis 1983 dauernden Militärdiktatur mit der Beweisführung gegen 17 Angehörige der Streitkräfte und der Polizei, die angeklagt waren, im berüchtigten Marineschulungszentrum Escuela Mecánica de la Armada für Folterungen, Tötungen und das «Verschwindenlassen» von Menschen verantwortlich gewesen zu sein.
Der Wunsch nach Gerechtigkeit reichte jedoch weit über Lateinamerika hinaus. Im afrikanischen Sierra Leone wurde der Prozess der Aufarbeitung der Vergangenheit und der Versöhnung fortgesetzt. Der Sondergerichtshof für Sierra Leone brachte mit einer Ausnahme sämtliche Verfahren zum Abschluss. Lediglich der Prozess gegen den ehemaligen liberianischen Präsidenten Charles Taylor war Ende 2009 noch anhängig. In Asien begann ein Gerichtsverfahren gegen den auch als «Duch» bekannten Kaing Guek Eav, einen der berüchtigtsten Anführer der Roten Khmer. Die Anklage gegen ihn lautete, vor mehr als 30 Jahren Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen zu haben. Kaing Guek Eav war Direktor des Gefängnisses S-21 gewesen, in dem zwischen April 1975 und Januar 1979 mindestens 14000 Menschen gefoltert und anschliessend getötet worden sein sollen. Der Prozess gegen Kaing Guek Eav war das erste Verfahren vor den »Ausserordentlichen Kammern der Kambodschanischen Gerichte«. Diese Kammern sind ein Provisorium und müssen sobald wie möglich von regulären Gerichten abgelöst werden. Doch sie schaffen derzeit zumindest Anlaufstellen, an die sich Überlebende wenden können, um eine Anerkennung des ihnen zugefügten Leids zu erwirken.
Im Jahr 2009 mussten selbst einflussreiche Länder erkennen, dass sie nicht über dem Gesetz stehen. Während in einigen europäischen Staaten den im «Krieg gegen den Terror» verübten Menschenrechtsverletzungen nur halbherzig nachgegangen wurde, sprach im November ein italienisches Gericht 22 Mitarbeiter des US-Geheimdienstes CIA, einen Offizier der US-Luftwaffe und zwei Mitarbeiter der italienischen Geheimdienste schuldig, im Februar 2003 auf einer Strasse in Mailand Usama Mustafa Hassan Nasr (besser bekannt unter dem Namen Abu Omar) verschleppt zu haben. Der Mann war anschliessend nach Ägypten gebracht worden, wo er 14 Monate in geheimer Haft gehalten und während dieser Zeit nach eigenen Angaben gefoltert wurde. Dass der Prozess stattfand, ist weitgehend der Staatsanwaltschaft Mailand zu verdanken, die sich dem Druck der italienischen Regierung, das Verfahren einzustellen, nicht beugte, obwohl die beschuldigten US-amerikanischen Bürger weder im Prozess anwesend waren noch verhaftet wurden.
Selbst in Staaten, die die Gerichtsbarkeit des Internationalen Strafgerichtshofs nicht akzeptieren, hat allein die Existenz dieses Gerichts die Frage der Rechenschaftspflicht verstärkt in den Blickpunkt gerückt. Der UN-Menschenrechtsrat setzte unter Vorsitz des südafrikanischen Richters Richard Goldstone, vormals Ankläger an dem Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda und dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien, eine unabhängige Untersuchungskommission ein. Aufgabe der Kommission war es, Berichten über Menschenrechtsverletzungen im Zuge des 22 Tage währenden Konflikts zu Beginn des Jahres in Gaza und dem Süden Israels nachzugehen. Der Bericht kam zu dem Schluss, dass sowohl die israelischen Streitkräfte als auch die Hamas (und weitere palästinensische Gruppen) Kriegsverbrechen und möglicherweise auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben. Das entspricht den Erkenntnissen der Vertreter von Amnesty International, die Gaza und den Süden Israels während und unmittelbar nach dem Konflikt besuchten.
In dem Goldstone-Bericht heisst es: «Die anhaltende Straflosigkeit hat zu einer Krise der Justiz geführt. » Für den Fall, dass die beiden Seiten es nicht selbst in die Hand nehmen, Ermittlungen durchzuführen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen, sollte laut Goldstone-Bericht der UN-Sicherheitsrat seine Vollmachten wahrnehmen und den Fall an den Internationalen Strafgerichtshof verweisen. Im November 2009 setzte die UN-Generalversammlung Israel und den Palästinensern eine Frist von drei Monaten, um ihre Bereitschaft und Fähigkeit zur Durchführung von Ermittlungen unter Beweis zu stellen, die internationalen Standards gerecht werden.
Nach den Vorgängen am 28. September 2009 in der guineischen Hauptstadt Conakry, als die Sicherheitskräfte bei der Niederschlagung einer friedlichen Demonstration in einem Sportstadion Frauen öffentlich vergewaltigten und mehr als 150 Menschen töteten, setzten die Vereinten Nationen unverzüglich eine internationale Untersuchungskommission ein. Die Kommission kam im Dezember zu dem Ergebnis, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen worden waren. Sie verwies den Vorgang zu weiteren Ermittlungen an den Internationalen
Strafgerichtshof, der eine Voruntersuchung einleitete. In den zurückliegenden zwei Jahrzehnten haben eine Reihe von Staaten nach Jahren politischer Repression oder bewaffneter Konflikte unterschiedliche Formen einer «Übergangsjustiz» geschaffen, um ihre Vergangenheit aufzuarbeiten. Im Berichtszeitraum waren in Liberia, auf den Salomonen sowie in Marokko und der Westsahara Wahrheits- und Versöhnungskommissionen tätig. Die Kommission in Marokko ist übrigens die einzige in Nordafrika und dem Nahen Osten, die auf diese Weise Verbrechen früherer Jahre aufzuklären versucht, wenngleich ohne eine strafrechtliche Aufarbeitung. Amnesty International begleitet diesen Prozess mit der Bereitstellung von Fakten und Unterlagen aus jahrzehntelanger Ermittlungstätigkeit. Als wir diese zusammenstellten, wurde deutlich, dass eine auf Gerechtigkeit fussende Versöhnung nur gelingen kann, wenn ihr Wahrheit und die Klärung von Verantwortlichkeiten zugrunde liegen. Es besteht die Versuchung, die Vergangenheit auf sich beruhen zu lassen. Wenn wir jedoch Täter mit ihren Verbrechen ungestraft davonkommen lassen, schaffen wir nur einen brüchigen und meist nicht tragfähigen Frieden.
Macht und politische Einflussnahme - Hindernisse auf dem Weg zu Gerechtigkeit
Die Möglichkeit, dass Verbrechen gegen das Völkerrecht vor Gericht geahndet werden, ist heute greifbarer als jemals zuvor. Ein Blick zurück auf das Jahr 2009 zeigt jedoch, dass noch zwei grosse Hindernisse beseitigt werden müssen, wenn sich unsere Hoffnung auf Rechenschaftspflicht für das ganze Spektrum an Menschenrechtsverletzungen erfüllen soll. Eines der Hindernisse liegt darin begründet, dass mächtige Staaten nach wie vor für sich beanspruchen, über dem Gesetz zu stehen und keiner wirksamen Kontrolle durch die internationale Gemeinschaft zu unterliegen. Das zweite Hindernis besteht darin, dass solche Regierungen das Recht manipulieren und nach politischen Zweckmässigkeitserwägungen darüber entscheiden, ob sie das Handeln ihrer Verbündeten vor internationaler Kontrolle abschirmen oder von ihnen Rechenschaft einfordern. Mit einem solchen Vorgehen liefern sie anderen Ländern oder Staatenblöcken einen Vorwand, das Recht in ähnlicher Weise politisch zu instrumentalisieren.
Bis Ende 2009 hatten 110 Länder das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs ratifiziert, darunter aber nur zwölf der G20-Staaten. Zu den Ländern, die sich dem Vertragswerk noch nicht angeschlossen hatten, zählten die Volksrepublik China, Indien, Indonesien, die Russische Föderation, die Türkei und die USA. Damit verschliessen sich diese Länder gegenüber internationalen Bemühungen um Gerechtigkeit, möglicherweise torpedieren sie solche Bestrebungen sogar vorsätzlich.
Die USA haben sich der Rechtsprechung des Internationalen Strafgerichtshofs nicht unterworfen. Damit lastet auf ihnen deutlich weniger Druck von aussen, im Zuge der Terrorismusbekämpfung verübte Menschenrechtsverletzungen aufzuarbeiten. Präsident Barack Obama sandte bei seinem Amtsantritt vielversprechende Signale aus. Er ordnete die Schliessung der Hafteinrichtung in Guantánamo Bay innerhalb eines Jahres an und sagte zu, das Programm der geheimen Inhaftierungen ebenso zu beenden wie die Praxis der «erweiterten Verhörmethoden». Ende 2009 sassen jedoch in Guantánamo weiterhin Menschen ein. Und bei der strafrechtlichen Aufarbeitung der dort verübten Menschenrechtsverletzungen und anderer im «Krieg gegen den Terror» begangener Verbrechen zeichneten sich nur zaghafte Fortschritte ab.
Auch die Volksrepublik China war und ist bemüht, ihr Handeln internationaler Beobachtung zu entziehen. Im Juli 2009 kam es dort zu gewalttätigen Ausschreitungen, nachdem die Polizei in Urumqi in der Autonomen Region Xinjiang zunächst friedliche Proteste der Uiguren niedergeschlagen hatte. Die Regierung schränkte die Berichterstattung aus dem Gebiet ein und liess friedliche Protestteilnehmende verhaften, von denen anschliessend viele in Schnellverfahren zum Tode verurteilt wurden. Neun der Verurteilten wurden wenig später hingerichtet. Im Dezember ergingen 13 weitere Todesurteile. Im selben Monat fanden erneut 94 Festnahmen statt. Nach den Zwischenfällen durften Journalisten das Gebiet zwar für kurze Zeit und durch Kontrollen überwacht bereisen, dies ersetzt jedoch keinesfalls eine internationale Überprüfung der Vorgänge vor Ort. Ein Antrag des UN-Sonderberichterstatters über Folter auf Einreise nach Xinjiang blieb unbeantwortet. Solange sich die Regierung hinter einen Schleier der Geheimhaltung zurückzieht und zu Hinrichtungen greift, klingen ihre Beteuerungen, für Rechenschaftspflicht sorgen zu wollen, wenig glaubwürdig.
Eine von der Europäischen Union veranlasste unabhängige Untersuchung der Vorgänge während des Konflikts zwischen Georgien und Russland im Jahr 2008 kam zu dem Ergebnis, dass alle Beteiligten gegen die Menschenrechte und das humanitäre Völkerrecht verstossen hatten und bislang weder die Russische Föderation noch Georgien die mutmasslichen Täter vor Gericht gebracht haben. In dem Untersuchungsbericht wird darauf verwiesen, dass bei Drucklegung rund 26000 Menschen noch nicht nach Hause hatten zurückkehren können. Es zeichnete sich mit zunehmender Deutlichkeit ab, dass die Russische Föderation entschlossen war, ihre mächtige Position zu nutzen, um ihre eigenen Soldaten und die abtrünnigen georgischen Regionen Südossetien und Abchasien vor internationalen Kontrollen zu schützen. Die Russische Föderation lehnte vehement eine Verlängerung der Mandate zweier Beobachtermissionen ab, die von den Vereinten Nationen und von der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa entsandt worden waren. Es verblieb nur noch eine Mission der Europäischen Union in Georgien, die jedoch keinen Zugang zu jenen Regionen hatte, in denen Russland oder die Defacto- Behörden Südossetiens und Abchasiens Kontrollbefugnisse ausübten.
Indonesien, ein weiteres Mitglied der G20-Staaten, hat nach mehr als zehn Jahren immer noch nicht begonnen, Rechenschaft über Menschenrechtsverletzungen in Timor- Leste abzulegen, die dort in den 24 Jahren indonesischer Besatzung und im Zuge des von den Vereinten Nationen geförderten Unabhängigkeitsreferendums begangen worden sind. Obwohl im Laufe des zurückliegenden Jahrzehnts auf nationaler wie internationaler Ebene mehrere Initiativen auf den Weg gebracht worden sind, um Gerechtigkeit herbeizuführen, befinden sich die meisten der mutmasslich für Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantwortlichen Personen nach wie vor auf freiem Fuss. Die Gerichtsverfahren derjenigen, die angeklagt wurden, endeten alle mit Freisprüchen.
Das zweite Hindernis, die Einflussnahme der Politik auf die internationale Rechtsprechung, lässt das Streben nach Rechenschaftspflicht zu einem nachrangigen Ziel verkommen, das hinter der Unterstützung der Bündnispartner und der Schwächung der gegnerischen Seite zurückzustehen hat. Die USA und Staaten der Europäischen Union haben beispielsweise ihre Stimmen im UN-Sicherheitsrat dazu verwandt, Israel davor zu schützen, konsequent Rechenschaft für das Vorgehen im Gazastreifen abzulegen. In ebenso einseitiger Weise beschloss der UN-Menschenrechtsrat daraufhin, nur die von Israel mutmasslich verübten Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen. Richter Richard Goldstone, dem anschliessend die Leitung dieser Untersuchung übertragen wurde, bestand jedoch dankenswerterweise darauf, dass die UN-Erkundungsmission Menschenrechtsverstössen sowohl der israelischen Seite als auch der Hamas nachging. Ebenfalls im UN-Menschenrechtsrat stimmte nicht ein einziges asiatisches oder afrikanisches Land gegen die Resolution, die der Art der Kriegsführung der srilankischen Regierung gegen die LTTE Beifall zollte.
Die fehlende Bereitschaft einflussreicher Staaten, ihr eigenes Handeln und das ihrer politischen Verbündeten an allgemeingültigen Massstäben zu messen, kann leicht von anderen als Rechtfertigung benutzt werden, gleichfalls doppelte Standards anzulegen und falsch verstandener «regionaler Solidarität» einen höheren Stellenwert beizumessen als der Solidarität mit den Opfern von Menschenrechtsverletzungen. Die anfängliche Reaktion der afrikanischen Staaten auf die Entscheidung des Internationalen Strafgerichtshofs, einen Haftbefehl gegen den sudanesischen Präsidenten Omar al-Bashir auszustellen, hat dies deutlich gezeigt. Ungeachtet der Schwere der gegen al- Bashir erhobenen Vorwürfe forderte die Afrikanische Union (AU) auf ihrem Gipfeltreffen im Juli unter dem Vorsitz Libyens den UN-Sicherheitsrat erneut auf, das Verfahren gegen den Staatschef einzustellen. Die AU-Mitgliedstaaten beschlossen bei diesem Treffen, dass sie hinsichtlich der Festnahme und Überstellung von al-Bashir nicht mit dem Internationalen Gerichtshof zusammenarbeiten würden. An die Afrikanische Kommission erging die Bitte, ein Vorbereitungstreffen einzuberufen, um Änderungen am Römischen Statut diskutieren und anschliessend der im Jahr 2010 anberaumten Überprüfungskonferenz vorlegen zu können. Nachdem Präsident al-Bashir unbehelligt Länder hatte bereisen können, die nicht zu den Vertragsstaaten des Römischen Statuts zählen, wurde er auch zu Besuchen in die Türkei sowie nach Nigeria, Uganda und Venezuela eingeladen. Nach heftigen Protesten der Zivilgesellschaft begann sich das Blatt dann doch zu wenden. Südafrika erklärte, es werde seine Verpflichtungen aus dem Römischen Statut erfüllen. Die Regierungen in Brasilien, Senegal und Botsuana taten kund, Präsident al- Bashir verhaften zu wollen, sollte er in ihre Länder einreisen. Ende 2009 war al-Bashir weiterhin ein freier Mann und hielt an seinen Vorwürfen fest, das Verfahren gegen ihn sei politisch motiviert und richte sich gegen Afrika. Für Hunderttausende von Vertriebenen in Darfur hält angesichts des drohenden Wiederaufflammens des Krieges im Süden des Sudan und dem damit einhergehenden Leid der Alptraum von Gewalt und erneuten Übergriffen an.
Vor uns liegende Herausforderungen
Die Hindernisse auf dem Weg hin zu umfassender Rechenschaftspflicht für Gräueltaten, die im Zuge von Konflikten oder politischer Repression begangen werden, sind heute noch sehr real. Doch niemand stellt mehr den Grundsatz in Frage, dass Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und das «Verschwindenlassen» von Menschen geahndet werden müssen. Wenn jedoch die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte in massiver Weise verletzt werden, mangelt es an vergleichbarem Einsatz, Recht und Rechenschaftspflicht durchzusetzen. Viele werden sagen, das lasse sich nicht vergleichen. Sicher, die Massaker an Zivilpersonen sind etwas völlig anderes als die Verweigerung des Rechts auf Bildung, aber auch solche Missstände sind ein Verstoss gegen das Völkerrecht und wirken sich nachteilig auf die Lebenssituation der Menschen aus. Deshalb muss die Einhaltung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte ebenfalls international überwacht werden.
Die Herausforderung besteht darin, die politisch Verantwortlichen davon zu überzeugen, dass ebenso wie der Konflikt in Darfur auch solche Missstände eine Menschenrechtskrise darstellen.
Werfen wir einen Blick auf das Recht auf Gesundheit und insbesondere auf die hohe Müttersterblichkeit. Jahr für Jahr verlieren weltweit mehr als eine halbe Million Frauen durch Komplikationen in der Schwangerschaft ihr Leben. Das Ausmass der Müttersterblichkeit in Ländern wie Sierra Leone, Peru, Burkina Faso und Nicaragua - um nur einige Länder zu nennen, die 2009 im Fokus der Arbeit von Amnesty International standen - ist eine direkte Folge der in den genannten Ländern begangenen Menschenrechtsverletzungen. Die Regierungen in Sierra Leone und Burkina Faso, davon konnte ich mich vor Ort überzeugen, haben das Problem durchaus erkannt und Gegenmassnahmen ergriffen. Doch müssen sie gemeinsam mit der Zivilgesellschaft grössere Anstrengungen unternehmen, um die der Müttersterblichkeit zugrundeliegenden Ursachen zu beseitigen. Dazu zählen unter anderem die Diskriminierung aufgrund des Geschlechts und die Frühverheiratung von Mädchen, die Verweigerung sexueller und reproduktiver Rechte sowie der nicht ausreichende Zugang zu medizinischer Grundversorgung. Bei der Bewältigung dieser Probleme müssen die genannten Länder von der internationalen Gemeinschaft unterstützt werden.
Ausreichende finanzielle Mittel sind eine unverzichtbare Bedingung für die Umsetzung einiger Aspekte der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte. Daher wird in den internationalen Menschenrechtsstandards die «fortschreitende Umsetzung» dieser Aspekte «unter maximaler Nutzung aller vorhandenen Ressourcen» gefordert. Dennoch dürfen Regierungen mangelnde finanzielle Mittel nicht einfach als Entschuldigung für fehlende Fortschritte anführen. Am Ausmass der Müttersterblichkeit lässt sich nämlich nicht die wirtschaftliche Lage eines Landes ablesen. Die Müttersterblichkeit in Angola liegt beispielsweise deutlich über der in Mosambik, obwohl Mosambik viel ärmer ist als Angola. Auch Guatemala weist ein mehr als doppelt so hohes Bruttoinlandsprodukt pro Kopf wie Nicaragua auf, und dennoch liegt dort die Müttersterblichkeit über der von Nicaragua. Und wie sieht es beim Recht auf Wohnen aus? Im Jahr 2009 hat Amnesty International auf das Schicksal Zehntausender von Menschen aufmerksam gemacht, die nach der Vertreibung aus ihren Wohnungen in der tschadischen Hauptstadt N’Djamena obdachlos waren. Auch im Grossraum der ägyptischen Hauptstadt Kairo lebten die Bewohner von Elendsvierteln in der ständigen Gefahr, unter dem Geröll von Erdrutschen begraben zu werden, weil die Behörden ihnen keine alternativen Wohnmöglichkeiten anboten. In der kenianischen Hauptstadt Nairobi beteiligte sich Amnesty International an Protestmärschen der Bewohner von Slums wie dem von Kibera, dem grössten auf dem afrikanischen Kontinent. Die Teilnehmenden forderten die Einlösung ihrer Rechte auf angemessene Unterkunft und auf Grundleistungen. Der Konflikt der Jahre 2008 und 2009 im Gazastreifen ging mit der massiven Zerstörung von Häusern und der andauernden Abriegelung der Region einher, weshalb dorthin kein Baumaterial geliefert werden konnte. Die Blockade des Gazastreifens trifft die Wehrlosesten am härtesten und stellt eine Form der Kollektivstrafe dar, die im Völkerrecht als Verbrechen definiert ist.
Menschen, die in Situationen wie den zuvor beschriebenen leben, haben vor allem eines gemeinsam: ihre Armut. In Armut lebende Gruppen der Bevölkerung erfahren meist schwerste Diskriminierung. Es liegt auf der Hand, dass insbesondere sie des Schutzes ihrer Rechte aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte bedürfen. Diskriminierung ist ein Hauptgrund für Armut und spiegelt sich häufig in der Art und Weise wider, wie Regierungen Gelder vergeben und Politik betreiben. Weltweit sind vor allem Frauen von Armut und Diskriminierung sowohl durch den Gesetzgeber als auch in der Praxis betroffen. Es darf nicht das Vorrecht von Männern oder von wohlhabenden Menschen sein, in sicheren Häusern zu wohnen oder auf sicheren Strassen zur Schule oder zum Arbeitsplatz zu gelangen.
Es gibt einige positive Entwicklungen auf dem Weg, die Verweigerung grundlegender wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte anzufechten. Zunehmend werden nationale Gerichte tätig, um diese Rechte zu schützen und von den Regierungen eine Änderung ihrer Politik einzufordern, um sicherzustellen, dass Grundrechte wie die auf Gesundheit, Wohnen, Bildung und Nahrung gewahrt werden. Und sie werden durch internationale Abkommen und Institutionen angespornt, den eingeschlagenen Weg weiter zu gehen.
Im November 2009 sprach der Gerichtshof der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS) mit Sitz in der nigerianischen Hauptstadt Abuja ein wegweisendes Urteil. Die Richter erklärten, dass allen Nigerianern ein vor Gericht einklagbares Recht auf Bildung zusteht - als Menschenrecht und als vom Gesetzgeber geschaffenes Recht. Einwände der Regierung, bei der Bildung handele es sich nicht um einen einklagbaren Rechtsanspruch, sondern lediglich um eine politische Vorgabe der Regierung, wiesen die Richter zurück.
Ein weiteres Beispiel findet sich in Rumänien. In der dortigen Stadt Miercurea Ciuc lebt eine Gruppe von Roma seit 2004 in Metallcontainern und selbst errichteten Hütten in unmittelbarer Nähe einer Kläranlage, nachdem sie ein verfallenes Gebäude im Zentrum der Stadt räumen mussten. Als die Roma mit Unterstützung von Nichtregierungsorganisationen alle innerstaatlichen Rechtsmittel ausgeschöpft hatten und zu ihren Gunsten gesprochene Urteile nicht umgesetzt wurden, wandten sie sich wiederum mit Unterstützung rumänischer Nichtregierungsorganisationen im Dezember 2008 an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.
Als im September 2009 das Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte zur Zeichnung aufgelegt wurde, verbesserten sich die Aussichten auf Rechenschaftspflicht auch über Staatsgrenzen hinweg erheblich. In dem Protokoll ist erstmals ein individuelles Beschwerderecht festgelegt worden. Es gibt zudem innerstaatlichen Bemühungen Auftrieb, den Opfern von Menschenrechtsverletzungen auch in ihrem Heimatland eine effektive Möglichkeit der Wiedergutmachung an die Hand zu geben.
Die Nahrungsmittel-, Energie- und Finanzkrisen, durch die nach Schätzungen Millionen von Menschen in die Armut getrieben wurden, haben ein weiteres Mal die Notwendigkeit verdeutlicht, dass für die Verweigerung grundlegender wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte Rechenschaft abgelegt werden muss. Die Wahrung des gesamten Spektrums der Menschenrechte muss ein integraler Bestandteil aller Initiativen zur Bewältigung von Krisensituationen sein.
Die Verantwortung für die Zuspitzung von Krisen tragen nicht allein Regierungen. Multinationale Unternehmen gewinnen an Macht und Einfluss. Ihre Entscheidungen und ihre Vorgaben können nachhaltige Auswirkungen auf die Menschenrechte haben. Allzu viele Firmen nutzen zum eigenen Vorteil Gesetzeslücken aus oder arbeiten mit menschenrechtsverletzenden und oft korrupten Regierungen Hand in Hand. Die Folgen sind verheerend.
In den zurückliegenden 15 Jahren wurden durch neue internationale Investitions- und Handelsabkommen die Interessen der Wirtschaft weltweit zunehmend geschützt. Während es der Wirtschaft gelang, die Gesetze zu ihrem Vorteil zu nutzen, mussten die von dererlei Handeln der Wirtschaft nachteilig betroffenen Menschen häufig erfahren, dass man das Recht angesichts der Interessen mächtiger Unternehmen beugt.
Im Dezember 2009 jährte sich zum 25. Mal der Tag, an dem der todbringende Unfall in der Pestizidfabrik der Firma Union Carbide im indischen Bhopal geschah. Damals waren mehrere tausend Menschen gestorben. Und auch heute noch leiden schätzungsweise 100000 Menschen an den gesundheitlichen Folgen der damals ausgetretenen Chemikalien. Die Überlebenden der Katastrophe versuchen noch immer, vor Gerichten in Indien und den Vereinigten Staaten von Amerika ihr Recht auf Entschädigung einzuklagen. Auch ein Vierteljahrhundert nach dem Chemieunfall ist die Aufarbeitung bei weitem noch nicht abgeschlossen und bislang ist niemand für den Unfall oder seine Folgen zur Rechenschaft gezogen worden.
Unternehmerische Rechenschaftspflicht stellt bis heute eher eine Ausnahme dar. Bemühungen, sie herbeizuführen, scheitern oft an ineffektiven Strukturen der Rechtsprechung, an fehlendem Zugang zu sachdienlichen Informationen, an der Einflussnahme der Wirtschaft auf Gesetzesvorhaben und nicht zuletzt an Korruption und Verquickung von staatlichem und unternehmerischem Handeln. Transnationale Unternehmen sind, wie der Begriff impliziert, grenzüberschreitend tätig, doch signifikante rechtliche und gerichtliche Hindernisse, um Verfahren gegen Firmen in anderen Ländern anstrengen zu können, bestehen fort. Multinationale Unternehmen operieren in einer globalisierten Wirtschaft, während das Recht weiterhin an Staatsgrenzen gebunden ist.
Doch ungeachtet aller Schwierigkeiten versuchen Einzelpersonen wie auch Gemeinschaften, deren Leben durch die Tätigkeit transnationaler Unternehmen in Mitleidenschaft gezogen wird, auf dem Wege der Zivilklage Rechenschaft und Entschädigung einzufordern. In Nigeria konnte die Erdölindustrie 50 Jahre lang ihre Interessen ohne wirksame Kontrollmechanismen verfolgen. Das Ergebnis waren Verstösse gegen die Menschenrechte und massive Umweltschäden. Für die meisten Gemeinschaften, die durch diese Entwicklungen in ihrer Lebensqualität und in ihren Erwerbsmöglichkeiten beeinträchtigt wurden, hat sich die nigerianische Justiz als wenig hilfreich erwiesen. Ein Gericht in den Niederlanden nahm hingegen im Dezember 2009 eine Klage gegen Shell zur Verhandlung an. Die Klage war von vier Nigerianern eingereicht worden, die von Shell finanzielle Wiedergutmachung für Schäden forderten, die durch den Austritt von Erdöl verursacht worden waren.
Das Ölunternehmen Trafigura erklärte sich in einem viel beachteten Zivilrechtsprozess vor einem britischen Gericht bereit, auf aussergerichtlichem Weg insgesamt 45 Millionen USDollar an rund 30000 Menschen zu zahlen, die durch die Lagerung toxischer Abfälle auf einer Deponie in der ivorischen Hauptstadt Abidjan Schaden genommen hatten. Der Giftmüll war 2006 an Bord des von Trafigura gecharterten Schiffes Probo Koala nach Abidjan gelangt und dort an verschiedenen Stellen entsorgt worden. Später mussten mehr als 100000 Menschen wegen unterschiedlichster Beschwerden medizinisch versorgt werden. 15 Menschen sollen angeblich gestorben sein.
Aussergerichtliche Einigungen wie in dem beschriebenen Fall können Geschädigten eine gewisse Unterstützung leisten, oft beinhalten sie jedoch weder umfassende Entschädigungsleistungen noch eine eindeutige Klärung der Verantwortlichkeiten. In dem angesprochenen Fall in Côte d’Ivoire blieben entscheidende Fragen nach den Auswirkungen der Lagerung von Giftmüll auf Abfalldeponien unbeantwortet. Um Gesetzeslücken zu schliessen und Unklarheiten hinsichtlich der rechtlichen Zuständigkeit zu beseitigen, die der Straflosigkeit von Wirtschaftsunternehmen Vorschub leisten, bedarf es eines noch deutlich entschiedeneren Vorgehens. Dafür sollte sich die zunehmende Zahl der Firmen einsetzen, die sich zu ihrer Verantwortung für die Menschenrechte bekennen.
Der nächste globale Plan - Rechenschaftspflicht für alle Menschenrechte
Im September 2010 werden sich die Staatsund Regierungschefs am Sitz der Vereinten Nationen zusammenfinden, um zu überprüfen, inwieweit die Umsetzung der Millenium-Entwicklungsziele vorangeschritten ist und die darin enthaltenen Versprechen eingelöst worden sind, die Lebenssituation des ärmsten Teils der Weltbevölkerung zu verbessern. Eine Bestandsaufnahme aus heutiger Sicht lässt befürchten, dass die für 2015 angestrebten Ziele deutlich verfehlt werden. Die Folge: Mehreren hundert Millionen Menschen bleibt das Recht auf ein Leben in Würde weiterhin versagt. Die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verankerten politischen Freiheitsrechte werden ihnen ebenso wenig zugestanden wie die dort postulierten Rechte auf Nahrung, Wohnraum, Gesundheitsfürsorge, Bildung und Sicherheit. Das Ziel ist daher unverändert eine Welt, in der die Menschen ihr Leben frei von Furcht und frei von Not gestalten können. Vergleichbare Anstrengungen wie bei der Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofs und anderer weltweit greifender Mechanismen zur Herstellung von Gerechtigkeit müssen nun auch darauf verwandt werden, Verfahren zu schaffen, mit deren Hilfe mehr Rechenschaftspflicht in wirtschaftliche und politische Abläufe gebracht werden kann, bei denen nicht das gesamte Spektrum der Menschenrechte gewahrt wird. Es ist ein Umdenken erforderlich, damit die Millenium-Entwicklungsziele keine leeren Versprechen bleiben. Sie müssen als Verpflichtungen begriffen werden, die Regierungen eingegangen sind und zu erfüllen haben. Versagen Regierungen bei der Einlösung dieser Verpflichtungen, muss es wirksame rechtliche Mittel gegen ihre Untätigkeit geben.
Die Rechenschaftspflicht von Regierungen würde gestärkt, wenn die Einschätzungen und Erfahrungen des in Armut lebenden Teils der Weltbevölkerung in dem Prozess Berücksichtigung fänden. Ein jeder Mensch hat Anspruch auf freien Zugang zu Informationen über Entscheidungen, die Auswirkungen auf sein Leben haben. Eine wirkliche Beteiligung der betroffenen Menschen an der Ausgestaltung der Millenium-Entwicklungsziele hat aber nicht stattgefunden. In dem Prozess muss ferner gewährleistet sein, dass Regierungen in ihrem Handeln in angemessener Weise überwacht werden, wenn sie eigenstaatliche Interessen verfolgen, die die Umsetzung der Entwicklungsziele beeinträchtigen. Es sollten alle Regierungen, vor allem aber die G20-Staaten, die für sich eine grössere Rolle in der Weltpolitik beanspruchen, darüber Rechenschaft ablegen müssen, inwieweit sie mit ihrem Handeln zu einer Verbesserung der Lebenssituation der in Armut lebenden Bevölkerungsgruppen beitragen.
Damit die Menschenrechte für alle Wirklichkeit werden, müssen wir staatliche und nichtstaatliche Akteure beharrlich an ihre gesetzlich festgeschriebenen Pflichten und Verantwortlichkeiten erinnern. Mehr als jemals zuvor schliessen sich Menschenrechtsverteidiger, basisdemokratische Organisationen, Rechtsanwälte und andere engagierte Menschen zusammen, um dieses Ziel mit vereinten Kräften anzustreben. Wo sie Berührungspunkte mit den Interessen der Machthabenden sehen, suchen sie die Zusammenarbeit. Ansonsten beharren sie darauf, dass Massnahmen ergriffen werden, die geeignet sind, individuelle ebenso wie institutionelle Verantwortung herbeizuführen. Die Menschenrechtsbewegung ist vielstimmiger und weltumspannender geworden und vernetzt sich immer besser über Grenzen und Fachbereiche hinweg. Ihr Ziel ist die Verwirklichung der Idee der Unteilbarkeit der Menschenrechte.
Mit Beginn der zweiten Dekade des 20. Jahrhunderts engagiert sich Amnesty International als Teil einer weltweiten Bewegung gemeinsam mit Gleichgesinnten für die Werte der universell gültigen Menschenrechte. Wir werden zeigen, dass alle Menschenrechte untrennbar miteinander verbunden sind und direkte Auswirkungen auf die Lebensqualität der Menschen haben. Indem wir das tun, verpflichten wir uns einer Vision von den Menschenrechten, bei der - jenseits von Staaten, bewaffneten Gruppen und Wirtschaftsunternehmen - jeder Mensch zu Veränderungen beitragen kann und dabei Rechte besitzt und Verantwortung trägt. Es ist unser gutes Recht, vom Staat und von der Gesellschaft Achtung, Schutz und Erfüllung unserer Rechte einzufordern. Zugleich stehen wir in der Pflicht, die Rechte unserer Mitmenschen zu respektieren und ein von Solidarität getragenes Handeln an den Tag zu legen. Nur so wird es gelingen, die Versprechen der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte Wirklichkeit werden zu lassen.
Zwischen Januar und Mai 2009 sassen rund 300000 Sri Lanker auf einem schmalen Streifen Land fest, eingeschlossen zwischen den sich zurückziehenden Kämpfern der Befreiungstiger von Tamil Eelam (LTTE) und vorrückenden Einheiten des srilankischen Militärs. Trotz zunehmender Meldungen über Menschenrechtsverstösse beider Konfliktparteien schritt der UN-Sicherheitsrat nicht ein. Mindestens 7000 Menschen starben, einige Quellen sprechen von bis zu 20000 Toten. Die Regierung von Sri Lanka wies die Berichte über Kriegsverbrechen ihrer Truppen ebenso zurück wie die Forderungen nach einer Untersuchung der Vorgänge durch ein internationales Gremium. Auch die Chance, eigene glaubwürdige und unabhängige Ermittlungen einzuleiten, liess sie ungenutzt. Als der UN-Menschenrechtsrat eine Sondersitzung einberief, führten Machtkämpfe dazu, dass die Mitgliedstaaten eine Resolution verabschiedeten, in der die Regierung Sri Lankas zu ihren Erfolgen gegen die LTTE beglückwünscht wurde. Obwohl im Verlauf des Jahres weitere Beweise für Kriegsverbrechen und andere Straftaten ans Tageslicht gelangten, war bis Ende 2009 noch keiner der dafür mutmasslich Verantwortlichen vor Gericht gestellt worden.
Ein noch umfassenderes Versagen bei der juristischen Aufarbeitung von Menschenrechtsverbrechen ist kaum vorstellbar.
Wenn ich darüber nachdenke, kommen mir Sätze in den Sinn, die ich im Vorwort zum Amnesty International Jahresbericht 1992 gelesen habe. Darin werden die Staaten aufgeführt, in denen führende Politiker und ranghohe Militärs sicher sein konnten, für in ihrem Auftrag begangene oder von ihnen geduldete Verbrechen wie Tötungen, «Verschwindenlassen» von Menschen oder systematische Vergewaltigungen und andere Folter nicht zur Verantwortung gezogen zu werden. Eines der unrühmlichsten Beispiele war damals Sri Lanka. Dort sind in den Jahren 1988-1990 im Zuge der Niederschlagung von Aufständen Zehntausende Menschen dem «Verschwindenlassen» oder staatlichem Mord zum Opfer gefallen.
Die Frage liegt auf der Hand: Hat sich in den letzten beiden Jahrzehnten etwas verändert? Ein Blick auf Sri Lanka, Kolumbien oder den Gazastreifen legt die Antwort nahe: nein, nicht wirklich. Warum also überhaupt weitermachen, nicht nachlassen, Rechenschaft zu fordern? Weil in den zurückliegenden knapp 20 Jahren trotz aller vorhandenen und neu entstandenen Herausforderungen Fortschritte bei der Überwindung der Straflosigkeit erzielt worden sind. Für Menschenrechtsverletzer ist es weitaus schwieriger geworden, sich der strafrechtlichen Verantwortung für die von ihnen verübten Verbrechen zu entziehen.
Noch aber reichen die gesetzlichen Bestimmungen bei weitem nicht aus. In einigen Fällen ist eine Überprüfung der Sachverhalte nicht möglich, in anderen Fällen verstreicht viel zu viel Zeit, bis der Gerechtigkeit Genüge getan wird. Doch es sind auch positive Entwicklungen festzustellen. Die Forderungen nach Verantwortung und Rechenschaft beschränken sich nicht mehr allein auf den Aspekt der Entschädigung bei Folter oder Tötungsdelikten, sondern beziehen sich zunehmend auch auf die Verweigerung grundlegender Menschenrechte wie Nahrung, Bildung, Wohnraum und Gesundheit.
Erfolge auf dem Weg hin zu grösserer Rechenschaftspflicht
Rechenschaftspflicht bedeutet, Verantwortung für Handlungen oder unterlassene Handlungen mit unmittelbaren Folgen für Dritte übernehmen zu müssen. Das Konzept ist umfassend: So spricht man beispielsweise von politischer Verantwortung, eine Messlatte dafür sind Wahlen, oder auch von moralischer Verantwortung, die an den Wertvorstellungen einer Gesellschaft gemessen werden kann.
Mit der Verankerung internationaler Menschenrechtsstandards wird in erster Linie das Ziel verfolgt, die Verantwortung für die Menschenrechte festzuschreiben. Wir brauchen eine Definition der Rechte, die den Menschen zustehen, und ihr Schutz muss gesetzlich verankert werden. Den Regierungen fällt hier eine besondere Verantwortung zu.
Wer in seinen Rechten verletzt worden ist, hat Anspruch auf Wahrheit und Gerechtigkeit. Aus diesem Anspruch leitet sich die Forderung ab, die für Menschenrechtsverletzungen Verantwortlichen nicht straffrei davonkommen zu lassen. Opfern und ihren Familien steht das Recht zu, dass das ihnen zugefügte Leid anerkannt und die Täter zur Rechenschaft gezogen werden. Wenn man den Betroffenen Wiedergutmachung gewähren will, ist es ebenso wichtig zu erfahren, wer ihnen Leid angetan hat und warum, wie die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen.
Wo für begangenes Unrecht Rechenschaft eingefordert wird, öffnet sich auch der Blick nach vorne. Ein solches Vorgehen dient nicht nur der Abschreckung vor zukünftigen Straftaten, sondern kann eine Reform nationaler und internationaler Institutionen einleiten. Wirksame Rechenschaftsmechanismen helfen Staaten ihr politisches und gesetzgeberisches Handeln zu verbessern, und ermöglichen es, daraus resultierende Veränderungen im Leben der Menschen zu verfolgen.
In den zurückliegenden zwei Jahrzehnten ist es dank einer weltweiten Kampagne gelungen, der internationalen Rechtsprechung eine wichtige Rolle zuzuweisen. So wurde 1998 der Internationale Strafgerichtshof (International Criminal Court) ins Lebens gerufen. Er entstand in Anlehnung an zwei ebenfalls internationale Gerichte, vor denen Verfahren wegen Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien und in Ruanda verhandelt worden waren.
Einen Wendepunkt markierte der Internationale Strafgerichtshof 2009, indem er einen Haftbefehl gegen einen noch amtierenden Staatschef ausstellte. Es handelte sich um den sudanesischen Präsidenten Omar al-Bashir, dem Verbrechen gegen die Menschlichkeit (Mord, Völkermord, Zwangsumsiedlungen, Folter und Vergewaltigung) sowie Kriegsverbrechen gegen Zivilpersonen in zwei Fällen zur Last gelegt wurden.
Bis Ende 2009 hatte die Anklagebehörde des Internationalen Strafgerichtshofs auf Bitten der Regierungen von Uganda, der Demokratischen Republik Kongo und der Zentralafrikanischen Republik Ermittlungen zu dort mutmasslich verübten Verbrechen aufgenommen. Der UN-Sicherheitsrat bat um eine Prüfung der Vorgänge in der sudanesischen Provinz Darfur. In einem Antrag an die Vorverfahrenskammer wurde zudem um Ermittlungen im Zusammenhang mit Vorfällen in Kenia ersucht. Der Internationale Strafgerichtshof liess dem Anführer einer bewaffneten Gruppe in Darfur eine Vorladung zukommen und stellte Haftbefehle gegen einen Milizenchef, ein ranghohes Regierungsmitglied und den sudanesischen Präsidenten aus. Weitere Haftbefehle ergingen gegen die Anführer bewaffneter Gruppen in Uganda, der Demokratischen Republik Kongo und der Zentralafrikanischen Republik. Damit wurde dem Grundsatz Rechnung getragen, dass Personen, die mutmasslich für Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantwortlich sind, in gleicher Weise und unabhängig von ihrer Funktion als Mitglied einer Regierung oder einer nichtstaatlichen Gruppierung vor dem Gesetz zur Rechenschaft gezogen werden müssen.
In den zurückliegenden Jahren hat der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs seine Tätigkeit auch auf Länder ausserhalb des afrikanischen Kontinents ausgeweitet - auf Afghanistan, Kolumbien, Georgien sowie auf den Gazastreifen und Südisrael im Zusammenhang mit den dortigen Konflikten in den Jahren 2008 und 2009.
Bis Ende 2009 hatten 110 Staaten das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs ratifiziert und damit den Anstoss für innerstaatliche Gesetzesreformen gegeben. Mit solchen Reformen soll die Möglichkeit geschaffen werden, dass Tatverdächtige, sofern sie im Heimatstaat nicht strafverfolgt werden - und auch nur dann -, im Ausland vor Gericht gebracht werden können. Im Jahr 2009 erfuhr die Weiterentwicklung der universellen Gerichtsbarkeit zwar einige Rückschläge, beispielsweise durch die Verabschiedung einer gesetzlichen Bestimmung in Spanien, die den Anwendungsbereich der universellen Gerichtsbarkeit einschränkt. Andererseits haben Rechtsanwälte vor nationalen Gerichten Amerikas, Europas und Asiens Verfahren angestrengt, von denen einige zurzeit verhandelt werden. Zwei südafrikanische Nichtregierungsorganisationen fochten im Dezember vor Gericht die Entscheidung der Behörden ihres Landes an, bei einigen in Simbabwe verübten Verbrechen gegen die Menschlichkeit keine Ermittlungen aufzunehmen. Bei den mutmasslichen Tätern handelte es sich um Personen, die immer wieder nach Südafrika einreisten. Bis Ende 2009 waren in mehr als 40 Staaten Gesetze in Kraft getreten, welche die universelle Gerichtsbarkeit bei Verbrechen gegen das Völkerrecht anerkannten oder stärkten. Dadurch wurde die Straflosigkeit zumindest ein Stück weit durchbrochen.
Die genannten Ermittlungs- und Strafverfahren haben bei Regierungen und in der Öffentlichkeit zu einer veränderten Wahrnehmung solcher Verbrechen geführt. Immer mehr setzt sich die Erkenntnis durch, dass es sich dabei um schwere Verbrechen handelt, die aufgeklärt und geahndet werden müssen, und nicht um politische Differenzen, die auf diplomatischem Wege beigelegt werden können. Nach der Festnahme des früheren chilenischen Präsidenten Augusto Pinochet 1998 in London bin ich gemeinsam mit meinen Kolleginnen und Kollegen entschlossen dafür eingetreten, dass er vor Gericht gestellt wird. Daher ermutigt mich dieses Umdenken nun ganz besonders.
Überall in den Ländern Lateinamerikas beginnen Regierungen und Gerichte, lange Zeit durch Amnestiegesetze blockierte Ermittlungen zur Aufklärung von Verbrechen wieder aufzurollen. Solche Entwicklungen zeigen, dass die Zivilgesellschaft ungeachtet zahlreicher Amnestien und anderer Massnahmen zur Vereitelung strafrechtlicher Schritte auch Jahrzehnte nach den Ereignissen nicht nachlässt, Hindernisse aus dem Weg zu räumen, welche der Wahrheitsfindung, der Gerechtigkeit und der Wiedergutmachung im Wege stehen.
Eines der wegweisenden Urteile des Jahres 2009 erging im April, als der ehemalige peruanische Präsident Alberto Fujimori wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit schuldig gesprochen wurde. Man zog ihn zur Verantwortung für drei Fälle aus den frühen 1990er Jahren, bei denen Todesschwadronen des Militärs Menschen verschleppt, gefoltert und getötet hatten. Das Urteil hatte für die Angehörigen grosse Bedeutung. Der Oberste Gerichtshof von Uruguay befand in einem Urteil vom Oktober das im Land geltende Amnestiegesetz als unvereinbar mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen des Staates Uruguay und erklärte es deshalb für null und nichtig. Und als das Jahr zu Ende ging, begann die Staatsanwaltschaft in Argentinien in einem der wichtigsten Prozesse seit Ende der von 1976 bis 1983 dauernden Militärdiktatur mit der Beweisführung gegen 17 Angehörige der Streitkräfte und der Polizei, die angeklagt waren, im berüchtigten Marineschulungszentrum Escuela Mecánica de la Armada für Folterungen, Tötungen und das «Verschwindenlassen» von Menschen verantwortlich gewesen zu sein.
Der Wunsch nach Gerechtigkeit reichte jedoch weit über Lateinamerika hinaus. Im afrikanischen Sierra Leone wurde der Prozess der Aufarbeitung der Vergangenheit und der Versöhnung fortgesetzt. Der Sondergerichtshof für Sierra Leone brachte mit einer Ausnahme sämtliche Verfahren zum Abschluss. Lediglich der Prozess gegen den ehemaligen liberianischen Präsidenten Charles Taylor war Ende 2009 noch anhängig. In Asien begann ein Gerichtsverfahren gegen den auch als «Duch» bekannten Kaing Guek Eav, einen der berüchtigtsten Anführer der Roten Khmer. Die Anklage gegen ihn lautete, vor mehr als 30 Jahren Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen zu haben. Kaing Guek Eav war Direktor des Gefängnisses S-21 gewesen, in dem zwischen April 1975 und Januar 1979 mindestens 14000 Menschen gefoltert und anschliessend getötet worden sein sollen. Der Prozess gegen Kaing Guek Eav war das erste Verfahren vor den »Ausserordentlichen Kammern der Kambodschanischen Gerichte«. Diese Kammern sind ein Provisorium und müssen sobald wie möglich von regulären Gerichten abgelöst werden. Doch sie schaffen derzeit zumindest Anlaufstellen, an die sich Überlebende wenden können, um eine Anerkennung des ihnen zugefügten Leids zu erwirken.
Im Jahr 2009 mussten selbst einflussreiche Länder erkennen, dass sie nicht über dem Gesetz stehen. Während in einigen europäischen Staaten den im «Krieg gegen den Terror» verübten Menschenrechtsverletzungen nur halbherzig nachgegangen wurde, sprach im November ein italienisches Gericht 22 Mitarbeiter des US-Geheimdienstes CIA, einen Offizier der US-Luftwaffe und zwei Mitarbeiter der italienischen Geheimdienste schuldig, im Februar 2003 auf einer Strasse in Mailand Usama Mustafa Hassan Nasr (besser bekannt unter dem Namen Abu Omar) verschleppt zu haben. Der Mann war anschliessend nach Ägypten gebracht worden, wo er 14 Monate in geheimer Haft gehalten und während dieser Zeit nach eigenen Angaben gefoltert wurde. Dass der Prozess stattfand, ist weitgehend der Staatsanwaltschaft Mailand zu verdanken, die sich dem Druck der italienischen Regierung, das Verfahren einzustellen, nicht beugte, obwohl die beschuldigten US-amerikanischen Bürger weder im Prozess anwesend waren noch verhaftet wurden.
Selbst in Staaten, die die Gerichtsbarkeit des Internationalen Strafgerichtshofs nicht akzeptieren, hat allein die Existenz dieses Gerichts die Frage der Rechenschaftspflicht verstärkt in den Blickpunkt gerückt. Der UN-Menschenrechtsrat setzte unter Vorsitz des südafrikanischen Richters Richard Goldstone, vormals Ankläger an dem Internationalen Strafgerichtshof für Ruanda und dem Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien, eine unabhängige Untersuchungskommission ein. Aufgabe der Kommission war es, Berichten über Menschenrechtsverletzungen im Zuge des 22 Tage währenden Konflikts zu Beginn des Jahres in Gaza und dem Süden Israels nachzugehen. Der Bericht kam zu dem Schluss, dass sowohl die israelischen Streitkräfte als auch die Hamas (und weitere palästinensische Gruppen) Kriegsverbrechen und möglicherweise auch Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen haben. Das entspricht den Erkenntnissen der Vertreter von Amnesty International, die Gaza und den Süden Israels während und unmittelbar nach dem Konflikt besuchten.
In dem Goldstone-Bericht heisst es: «Die anhaltende Straflosigkeit hat zu einer Krise der Justiz geführt. » Für den Fall, dass die beiden Seiten es nicht selbst in die Hand nehmen, Ermittlungen durchzuführen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen, sollte laut Goldstone-Bericht der UN-Sicherheitsrat seine Vollmachten wahrnehmen und den Fall an den Internationalen Strafgerichtshof verweisen. Im November 2009 setzte die UN-Generalversammlung Israel und den Palästinensern eine Frist von drei Monaten, um ihre Bereitschaft und Fähigkeit zur Durchführung von Ermittlungen unter Beweis zu stellen, die internationalen Standards gerecht werden.
Nach den Vorgängen am 28. September 2009 in der guineischen Hauptstadt Conakry, als die Sicherheitskräfte bei der Niederschlagung einer friedlichen Demonstration in einem Sportstadion Frauen öffentlich vergewaltigten und mehr als 150 Menschen töteten, setzten die Vereinten Nationen unverzüglich eine internationale Untersuchungskommission ein. Die Kommission kam im Dezember zu dem Ergebnis, dass Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen worden waren. Sie verwies den Vorgang zu weiteren Ermittlungen an den Internationalen
Strafgerichtshof, der eine Voruntersuchung einleitete. In den zurückliegenden zwei Jahrzehnten haben eine Reihe von Staaten nach Jahren politischer Repression oder bewaffneter Konflikte unterschiedliche Formen einer «Übergangsjustiz» geschaffen, um ihre Vergangenheit aufzuarbeiten. Im Berichtszeitraum waren in Liberia, auf den Salomonen sowie in Marokko und der Westsahara Wahrheits- und Versöhnungskommissionen tätig. Die Kommission in Marokko ist übrigens die einzige in Nordafrika und dem Nahen Osten, die auf diese Weise Verbrechen früherer Jahre aufzuklären versucht, wenngleich ohne eine strafrechtliche Aufarbeitung. Amnesty International begleitet diesen Prozess mit der Bereitstellung von Fakten und Unterlagen aus jahrzehntelanger Ermittlungstätigkeit. Als wir diese zusammenstellten, wurde deutlich, dass eine auf Gerechtigkeit fussende Versöhnung nur gelingen kann, wenn ihr Wahrheit und die Klärung von Verantwortlichkeiten zugrunde liegen. Es besteht die Versuchung, die Vergangenheit auf sich beruhen zu lassen. Wenn wir jedoch Täter mit ihren Verbrechen ungestraft davonkommen lassen, schaffen wir nur einen brüchigen und meist nicht tragfähigen Frieden.
Macht und politische Einflussnahme - Hindernisse auf dem Weg zu Gerechtigkeit
Die Möglichkeit, dass Verbrechen gegen das Völkerrecht vor Gericht geahndet werden, ist heute greifbarer als jemals zuvor. Ein Blick zurück auf das Jahr 2009 zeigt jedoch, dass noch zwei grosse Hindernisse beseitigt werden müssen, wenn sich unsere Hoffnung auf Rechenschaftspflicht für das ganze Spektrum an Menschenrechtsverletzungen erfüllen soll. Eines der Hindernisse liegt darin begründet, dass mächtige Staaten nach wie vor für sich beanspruchen, über dem Gesetz zu stehen und keiner wirksamen Kontrolle durch die internationale Gemeinschaft zu unterliegen. Das zweite Hindernis besteht darin, dass solche Regierungen das Recht manipulieren und nach politischen Zweckmässigkeitserwägungen darüber entscheiden, ob sie das Handeln ihrer Verbündeten vor internationaler Kontrolle abschirmen oder von ihnen Rechenschaft einfordern. Mit einem solchen Vorgehen liefern sie anderen Ländern oder Staatenblöcken einen Vorwand, das Recht in ähnlicher Weise politisch zu instrumentalisieren.
Bis Ende 2009 hatten 110 Länder das Römische Statut des Internationalen Strafgerichtshofs ratifiziert, darunter aber nur zwölf der G20-Staaten. Zu den Ländern, die sich dem Vertragswerk noch nicht angeschlossen hatten, zählten die Volksrepublik China, Indien, Indonesien, die Russische Föderation, die Türkei und die USA. Damit verschliessen sich diese Länder gegenüber internationalen Bemühungen um Gerechtigkeit, möglicherweise torpedieren sie solche Bestrebungen sogar vorsätzlich.
Die USA haben sich der Rechtsprechung des Internationalen Strafgerichtshofs nicht unterworfen. Damit lastet auf ihnen deutlich weniger Druck von aussen, im Zuge der Terrorismusbekämpfung verübte Menschenrechtsverletzungen aufzuarbeiten. Präsident Barack Obama sandte bei seinem Amtsantritt vielversprechende Signale aus. Er ordnete die Schliessung der Hafteinrichtung in Guantánamo Bay innerhalb eines Jahres an und sagte zu, das Programm der geheimen Inhaftierungen ebenso zu beenden wie die Praxis der «erweiterten Verhörmethoden». Ende 2009 sassen jedoch in Guantánamo weiterhin Menschen ein. Und bei der strafrechtlichen Aufarbeitung der dort verübten Menschenrechtsverletzungen und anderer im «Krieg gegen den Terror» begangener Verbrechen zeichneten sich nur zaghafte Fortschritte ab.
Auch die Volksrepublik China war und ist bemüht, ihr Handeln internationaler Beobachtung zu entziehen. Im Juli 2009 kam es dort zu gewalttätigen Ausschreitungen, nachdem die Polizei in Urumqi in der Autonomen Region Xinjiang zunächst friedliche Proteste der Uiguren niedergeschlagen hatte. Die Regierung schränkte die Berichterstattung aus dem Gebiet ein und liess friedliche Protestteilnehmende verhaften, von denen anschliessend viele in Schnellverfahren zum Tode verurteilt wurden. Neun der Verurteilten wurden wenig später hingerichtet. Im Dezember ergingen 13 weitere Todesurteile. Im selben Monat fanden erneut 94 Festnahmen statt. Nach den Zwischenfällen durften Journalisten das Gebiet zwar für kurze Zeit und durch Kontrollen überwacht bereisen, dies ersetzt jedoch keinesfalls eine internationale Überprüfung der Vorgänge vor Ort. Ein Antrag des UN-Sonderberichterstatters über Folter auf Einreise nach Xinjiang blieb unbeantwortet. Solange sich die Regierung hinter einen Schleier der Geheimhaltung zurückzieht und zu Hinrichtungen greift, klingen ihre Beteuerungen, für Rechenschaftspflicht sorgen zu wollen, wenig glaubwürdig.
Eine von der Europäischen Union veranlasste unabhängige Untersuchung der Vorgänge während des Konflikts zwischen Georgien und Russland im Jahr 2008 kam zu dem Ergebnis, dass alle Beteiligten gegen die Menschenrechte und das humanitäre Völkerrecht verstossen hatten und bislang weder die Russische Föderation noch Georgien die mutmasslichen Täter vor Gericht gebracht haben. In dem Untersuchungsbericht wird darauf verwiesen, dass bei Drucklegung rund 26000 Menschen noch nicht nach Hause hatten zurückkehren können. Es zeichnete sich mit zunehmender Deutlichkeit ab, dass die Russische Föderation entschlossen war, ihre mächtige Position zu nutzen, um ihre eigenen Soldaten und die abtrünnigen georgischen Regionen Südossetien und Abchasien vor internationalen Kontrollen zu schützen. Die Russische Föderation lehnte vehement eine Verlängerung der Mandate zweier Beobachtermissionen ab, die von den Vereinten Nationen und von der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa entsandt worden waren. Es verblieb nur noch eine Mission der Europäischen Union in Georgien, die jedoch keinen Zugang zu jenen Regionen hatte, in denen Russland oder die Defacto- Behörden Südossetiens und Abchasiens Kontrollbefugnisse ausübten.
Indonesien, ein weiteres Mitglied der G20-Staaten, hat nach mehr als zehn Jahren immer noch nicht begonnen, Rechenschaft über Menschenrechtsverletzungen in Timor- Leste abzulegen, die dort in den 24 Jahren indonesischer Besatzung und im Zuge des von den Vereinten Nationen geförderten Unabhängigkeitsreferendums begangen worden sind. Obwohl im Laufe des zurückliegenden Jahrzehnts auf nationaler wie internationaler Ebene mehrere Initiativen auf den Weg gebracht worden sind, um Gerechtigkeit herbeizuführen, befinden sich die meisten der mutmasslich für Verbrechen gegen die Menschlichkeit verantwortlichen Personen nach wie vor auf freiem Fuss. Die Gerichtsverfahren derjenigen, die angeklagt wurden, endeten alle mit Freisprüchen.
Das zweite Hindernis, die Einflussnahme der Politik auf die internationale Rechtsprechung, lässt das Streben nach Rechenschaftspflicht zu einem nachrangigen Ziel verkommen, das hinter der Unterstützung der Bündnispartner und der Schwächung der gegnerischen Seite zurückzustehen hat. Die USA und Staaten der Europäischen Union haben beispielsweise ihre Stimmen im UN-Sicherheitsrat dazu verwandt, Israel davor zu schützen, konsequent Rechenschaft für das Vorgehen im Gazastreifen abzulegen. In ebenso einseitiger Weise beschloss der UN-Menschenrechtsrat daraufhin, nur die von Israel mutmasslich verübten Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen. Richter Richard Goldstone, dem anschliessend die Leitung dieser Untersuchung übertragen wurde, bestand jedoch dankenswerterweise darauf, dass die UN-Erkundungsmission Menschenrechtsverstössen sowohl der israelischen Seite als auch der Hamas nachging. Ebenfalls im UN-Menschenrechtsrat stimmte nicht ein einziges asiatisches oder afrikanisches Land gegen die Resolution, die der Art der Kriegsführung der srilankischen Regierung gegen die LTTE Beifall zollte.
Die fehlende Bereitschaft einflussreicher Staaten, ihr eigenes Handeln und das ihrer politischen Verbündeten an allgemeingültigen Massstäben zu messen, kann leicht von anderen als Rechtfertigung benutzt werden, gleichfalls doppelte Standards anzulegen und falsch verstandener «regionaler Solidarität» einen höheren Stellenwert beizumessen als der Solidarität mit den Opfern von Menschenrechtsverletzungen. Die anfängliche Reaktion der afrikanischen Staaten auf die Entscheidung des Internationalen Strafgerichtshofs, einen Haftbefehl gegen den sudanesischen Präsidenten Omar al-Bashir auszustellen, hat dies deutlich gezeigt. Ungeachtet der Schwere der gegen al- Bashir erhobenen Vorwürfe forderte die Afrikanische Union (AU) auf ihrem Gipfeltreffen im Juli unter dem Vorsitz Libyens den UN-Sicherheitsrat erneut auf, das Verfahren gegen den Staatschef einzustellen. Die AU-Mitgliedstaaten beschlossen bei diesem Treffen, dass sie hinsichtlich der Festnahme und Überstellung von al-Bashir nicht mit dem Internationalen Gerichtshof zusammenarbeiten würden. An die Afrikanische Kommission erging die Bitte, ein Vorbereitungstreffen einzuberufen, um Änderungen am Römischen Statut diskutieren und anschliessend der im Jahr 2010 anberaumten Überprüfungskonferenz vorlegen zu können. Nachdem Präsident al-Bashir unbehelligt Länder hatte bereisen können, die nicht zu den Vertragsstaaten des Römischen Statuts zählen, wurde er auch zu Besuchen in die Türkei sowie nach Nigeria, Uganda und Venezuela eingeladen. Nach heftigen Protesten der Zivilgesellschaft begann sich das Blatt dann doch zu wenden. Südafrika erklärte, es werde seine Verpflichtungen aus dem Römischen Statut erfüllen. Die Regierungen in Brasilien, Senegal und Botsuana taten kund, Präsident al- Bashir verhaften zu wollen, sollte er in ihre Länder einreisen. Ende 2009 war al-Bashir weiterhin ein freier Mann und hielt an seinen Vorwürfen fest, das Verfahren gegen ihn sei politisch motiviert und richte sich gegen Afrika. Für Hunderttausende von Vertriebenen in Darfur hält angesichts des drohenden Wiederaufflammens des Krieges im Süden des Sudan und dem damit einhergehenden Leid der Alptraum von Gewalt und erneuten Übergriffen an.
Vor uns liegende Herausforderungen
Die Hindernisse auf dem Weg hin zu umfassender Rechenschaftspflicht für Gräueltaten, die im Zuge von Konflikten oder politischer Repression begangen werden, sind heute noch sehr real. Doch niemand stellt mehr den Grundsatz in Frage, dass Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und das «Verschwindenlassen» von Menschen geahndet werden müssen. Wenn jedoch die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte in massiver Weise verletzt werden, mangelt es an vergleichbarem Einsatz, Recht und Rechenschaftspflicht durchzusetzen. Viele werden sagen, das lasse sich nicht vergleichen. Sicher, die Massaker an Zivilpersonen sind etwas völlig anderes als die Verweigerung des Rechts auf Bildung, aber auch solche Missstände sind ein Verstoss gegen das Völkerrecht und wirken sich nachteilig auf die Lebenssituation der Menschen aus. Deshalb muss die Einhaltung der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte ebenfalls international überwacht werden.
Die Herausforderung besteht darin, die politisch Verantwortlichen davon zu überzeugen, dass ebenso wie der Konflikt in Darfur auch solche Missstände eine Menschenrechtskrise darstellen.
Werfen wir einen Blick auf das Recht auf Gesundheit und insbesondere auf die hohe Müttersterblichkeit. Jahr für Jahr verlieren weltweit mehr als eine halbe Million Frauen durch Komplikationen in der Schwangerschaft ihr Leben. Das Ausmass der Müttersterblichkeit in Ländern wie Sierra Leone, Peru, Burkina Faso und Nicaragua - um nur einige Länder zu nennen, die 2009 im Fokus der Arbeit von Amnesty International standen - ist eine direkte Folge der in den genannten Ländern begangenen Menschenrechtsverletzungen. Die Regierungen in Sierra Leone und Burkina Faso, davon konnte ich mich vor Ort überzeugen, haben das Problem durchaus erkannt und Gegenmassnahmen ergriffen. Doch müssen sie gemeinsam mit der Zivilgesellschaft grössere Anstrengungen unternehmen, um die der Müttersterblichkeit zugrundeliegenden Ursachen zu beseitigen. Dazu zählen unter anderem die Diskriminierung aufgrund des Geschlechts und die Frühverheiratung von Mädchen, die Verweigerung sexueller und reproduktiver Rechte sowie der nicht ausreichende Zugang zu medizinischer Grundversorgung. Bei der Bewältigung dieser Probleme müssen die genannten Länder von der internationalen Gemeinschaft unterstützt werden.
Ausreichende finanzielle Mittel sind eine unverzichtbare Bedingung für die Umsetzung einiger Aspekte der wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte. Daher wird in den internationalen Menschenrechtsstandards die «fortschreitende Umsetzung» dieser Aspekte «unter maximaler Nutzung aller vorhandenen Ressourcen» gefordert. Dennoch dürfen Regierungen mangelnde finanzielle Mittel nicht einfach als Entschuldigung für fehlende Fortschritte anführen. Am Ausmass der Müttersterblichkeit lässt sich nämlich nicht die wirtschaftliche Lage eines Landes ablesen. Die Müttersterblichkeit in Angola liegt beispielsweise deutlich über der in Mosambik, obwohl Mosambik viel ärmer ist als Angola. Auch Guatemala weist ein mehr als doppelt so hohes Bruttoinlandsprodukt pro Kopf wie Nicaragua auf, und dennoch liegt dort die Müttersterblichkeit über der von Nicaragua. Und wie sieht es beim Recht auf Wohnen aus? Im Jahr 2009 hat Amnesty International auf das Schicksal Zehntausender von Menschen aufmerksam gemacht, die nach der Vertreibung aus ihren Wohnungen in der tschadischen Hauptstadt N’Djamena obdachlos waren. Auch im Grossraum der ägyptischen Hauptstadt Kairo lebten die Bewohner von Elendsvierteln in der ständigen Gefahr, unter dem Geröll von Erdrutschen begraben zu werden, weil die Behörden ihnen keine alternativen Wohnmöglichkeiten anboten. In der kenianischen Hauptstadt Nairobi beteiligte sich Amnesty International an Protestmärschen der Bewohner von Slums wie dem von Kibera, dem grössten auf dem afrikanischen Kontinent. Die Teilnehmenden forderten die Einlösung ihrer Rechte auf angemessene Unterkunft und auf Grundleistungen. Der Konflikt der Jahre 2008 und 2009 im Gazastreifen ging mit der massiven Zerstörung von Häusern und der andauernden Abriegelung der Region einher, weshalb dorthin kein Baumaterial geliefert werden konnte. Die Blockade des Gazastreifens trifft die Wehrlosesten am härtesten und stellt eine Form der Kollektivstrafe dar, die im Völkerrecht als Verbrechen definiert ist.
Menschen, die in Situationen wie den zuvor beschriebenen leben, haben vor allem eines gemeinsam: ihre Armut. In Armut lebende Gruppen der Bevölkerung erfahren meist schwerste Diskriminierung. Es liegt auf der Hand, dass insbesondere sie des Schutzes ihrer Rechte aus der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte bedürfen. Diskriminierung ist ein Hauptgrund für Armut und spiegelt sich häufig in der Art und Weise wider, wie Regierungen Gelder vergeben und Politik betreiben. Weltweit sind vor allem Frauen von Armut und Diskriminierung sowohl durch den Gesetzgeber als auch in der Praxis betroffen. Es darf nicht das Vorrecht von Männern oder von wohlhabenden Menschen sein, in sicheren Häusern zu wohnen oder auf sicheren Strassen zur Schule oder zum Arbeitsplatz zu gelangen.
Es gibt einige positive Entwicklungen auf dem Weg, die Verweigerung grundlegender wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte anzufechten. Zunehmend werden nationale Gerichte tätig, um diese Rechte zu schützen und von den Regierungen eine Änderung ihrer Politik einzufordern, um sicherzustellen, dass Grundrechte wie die auf Gesundheit, Wohnen, Bildung und Nahrung gewahrt werden. Und sie werden durch internationale Abkommen und Institutionen angespornt, den eingeschlagenen Weg weiter zu gehen.
Im November 2009 sprach der Gerichtshof der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft (ECOWAS) mit Sitz in der nigerianischen Hauptstadt Abuja ein wegweisendes Urteil. Die Richter erklärten, dass allen Nigerianern ein vor Gericht einklagbares Recht auf Bildung zusteht - als Menschenrecht und als vom Gesetzgeber geschaffenes Recht. Einwände der Regierung, bei der Bildung handele es sich nicht um einen einklagbaren Rechtsanspruch, sondern lediglich um eine politische Vorgabe der Regierung, wiesen die Richter zurück.
Ein weiteres Beispiel findet sich in Rumänien. In der dortigen Stadt Miercurea Ciuc lebt eine Gruppe von Roma seit 2004 in Metallcontainern und selbst errichteten Hütten in unmittelbarer Nähe einer Kläranlage, nachdem sie ein verfallenes Gebäude im Zentrum der Stadt räumen mussten. Als die Roma mit Unterstützung von Nichtregierungsorganisationen alle innerstaatlichen Rechtsmittel ausgeschöpft hatten und zu ihren Gunsten gesprochene Urteile nicht umgesetzt wurden, wandten sie sich wiederum mit Unterstützung rumänischer Nichtregierungsorganisationen im Dezember 2008 an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.
Als im September 2009 das Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte zur Zeichnung aufgelegt wurde, verbesserten sich die Aussichten auf Rechenschaftspflicht auch über Staatsgrenzen hinweg erheblich. In dem Protokoll ist erstmals ein individuelles Beschwerderecht festgelegt worden. Es gibt zudem innerstaatlichen Bemühungen Auftrieb, den Opfern von Menschenrechtsverletzungen auch in ihrem Heimatland eine effektive Möglichkeit der Wiedergutmachung an die Hand zu geben.
Die Nahrungsmittel-, Energie- und Finanzkrisen, durch die nach Schätzungen Millionen von Menschen in die Armut getrieben wurden, haben ein weiteres Mal die Notwendigkeit verdeutlicht, dass für die Verweigerung grundlegender wirtschaftlicher, sozialer und kultureller Rechte Rechenschaft abgelegt werden muss. Die Wahrung des gesamten Spektrums der Menschenrechte muss ein integraler Bestandteil aller Initiativen zur Bewältigung von Krisensituationen sein.
Die Verantwortung für die Zuspitzung von Krisen tragen nicht allein Regierungen. Multinationale Unternehmen gewinnen an Macht und Einfluss. Ihre Entscheidungen und ihre Vorgaben können nachhaltige Auswirkungen auf die Menschenrechte haben. Allzu viele Firmen nutzen zum eigenen Vorteil Gesetzeslücken aus oder arbeiten mit menschenrechtsverletzenden und oft korrupten Regierungen Hand in Hand. Die Folgen sind verheerend.
In den zurückliegenden 15 Jahren wurden durch neue internationale Investitions- und Handelsabkommen die Interessen der Wirtschaft weltweit zunehmend geschützt. Während es der Wirtschaft gelang, die Gesetze zu ihrem Vorteil zu nutzen, mussten die von dererlei Handeln der Wirtschaft nachteilig betroffenen Menschen häufig erfahren, dass man das Recht angesichts der Interessen mächtiger Unternehmen beugt.
Im Dezember 2009 jährte sich zum 25. Mal der Tag, an dem der todbringende Unfall in der Pestizidfabrik der Firma Union Carbide im indischen Bhopal geschah. Damals waren mehrere tausend Menschen gestorben. Und auch heute noch leiden schätzungsweise 100000 Menschen an den gesundheitlichen Folgen der damals ausgetretenen Chemikalien. Die Überlebenden der Katastrophe versuchen noch immer, vor Gerichten in Indien und den Vereinigten Staaten von Amerika ihr Recht auf Entschädigung einzuklagen. Auch ein Vierteljahrhundert nach dem Chemieunfall ist die Aufarbeitung bei weitem noch nicht abgeschlossen und bislang ist niemand für den Unfall oder seine Folgen zur Rechenschaft gezogen worden.
Unternehmerische Rechenschaftspflicht stellt bis heute eher eine Ausnahme dar. Bemühungen, sie herbeizuführen, scheitern oft an ineffektiven Strukturen der Rechtsprechung, an fehlendem Zugang zu sachdienlichen Informationen, an der Einflussnahme der Wirtschaft auf Gesetzesvorhaben und nicht zuletzt an Korruption und Verquickung von staatlichem und unternehmerischem Handeln. Transnationale Unternehmen sind, wie der Begriff impliziert, grenzüberschreitend tätig, doch signifikante rechtliche und gerichtliche Hindernisse, um Verfahren gegen Firmen in anderen Ländern anstrengen zu können, bestehen fort. Multinationale Unternehmen operieren in einer globalisierten Wirtschaft, während das Recht weiterhin an Staatsgrenzen gebunden ist.
Doch ungeachtet aller Schwierigkeiten versuchen Einzelpersonen wie auch Gemeinschaften, deren Leben durch die Tätigkeit transnationaler Unternehmen in Mitleidenschaft gezogen wird, auf dem Wege der Zivilklage Rechenschaft und Entschädigung einzufordern. In Nigeria konnte die Erdölindustrie 50 Jahre lang ihre Interessen ohne wirksame Kontrollmechanismen verfolgen. Das Ergebnis waren Verstösse gegen die Menschenrechte und massive Umweltschäden. Für die meisten Gemeinschaften, die durch diese Entwicklungen in ihrer Lebensqualität und in ihren Erwerbsmöglichkeiten beeinträchtigt wurden, hat sich die nigerianische Justiz als wenig hilfreich erwiesen. Ein Gericht in den Niederlanden nahm hingegen im Dezember 2009 eine Klage gegen Shell zur Verhandlung an. Die Klage war von vier Nigerianern eingereicht worden, die von Shell finanzielle Wiedergutmachung für Schäden forderten, die durch den Austritt von Erdöl verursacht worden waren.
Das Ölunternehmen Trafigura erklärte sich in einem viel beachteten Zivilrechtsprozess vor einem britischen Gericht bereit, auf aussergerichtlichem Weg insgesamt 45 Millionen USDollar an rund 30000 Menschen zu zahlen, die durch die Lagerung toxischer Abfälle auf einer Deponie in der ivorischen Hauptstadt Abidjan Schaden genommen hatten. Der Giftmüll war 2006 an Bord des von Trafigura gecharterten Schiffes Probo Koala nach Abidjan gelangt und dort an verschiedenen Stellen entsorgt worden. Später mussten mehr als 100000 Menschen wegen unterschiedlichster Beschwerden medizinisch versorgt werden. Es hiess, für 15 Menschen sei jede Hilfe zu spät gekommen.
Aussergerichtliche Einigungen wie in dem beschriebenen Fall können Geschädigten eine gewisse Unterstützung leisten, oft beinhalten sie jedoch weder umfassende Entschädigungsleistungen noch eine eindeutige Klärung der Verantwortlichkeiten. In dem angesprochenen Fall in Côte d’Ivoire blieben entscheidende Fragen nach den Auswirkungen der Lagerung von Giftmüll auf Abfalldeponien unbeantwortet. Um Gesetzeslücken zu schliessen und Unklarheiten hinsichtlich der rechtlichen Zuständigkeit zu beseitigen, die der Straflosigkeit von Wirtschaftsunternehmen Vorschub leisten, bedarf es eines noch deutlich entschiedeneren Vorgehens. Dafür sollte sich die zunehmende Zahl der Firmen einsetzen, die sich zu ihrer Verantwortung für die Menschenrechte bekennen.
Der nächste globale Plan - Rechenschaftspflicht für alle Menschenrechte
Im September 2010 werden sich die Staatsund Regierungschefs am Sitz der Vereinten Nationen zusammenfinden, um zu überprüfen, inwieweit die Umsetzung der Millenium-Entwicklungsziele vorangeschritten ist und die darin enthaltenen Versprechen eingelöst worden sind, die Lebenssituation des ärmsten Teils der Weltbevölkerung zu verbessern. Eine Bestandsaufnahme aus heutiger Sicht lässt befürchten, dass die für 2015 angestrebten Ziele deutlich verfehlt werden. Die Folge: Mehreren hundert Millionen Menschen bleibt das Recht auf ein Leben in Würde weiterhin versagt. Die in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte verankerten politischen Freiheitsrechte werden ihnen ebenso wenig zugestanden wie die dort postulierten Rechte auf Nahrung, Wohnraum, Gesundheitsfürsorge, Bildung und Sicherheit. Das Ziel ist daher unverändert eine Welt, in der die Menschen ihr Leben frei von Furcht und frei von Not gestalten können. Vergleichbare Anstrengungen wie bei der Einrichtung des Internationalen Strafgerichtshofs und anderer weltweit greifender Mechanismen zur Herstellung von Gerechtigkeit müssen nun auch darauf verwandt werden, Verfahren zu schaffen, mit deren Hilfe mehr Rechenschaftspflicht in wirtschaftliche und politische Abläufe gebracht werden kann, bei denen nicht das gesamte Spektrum der Menschenrechte gewahrt wird. Es ist ein Umdenken erforderlich, damit die Millenium-Entwicklungsziele keine leeren Versprechen bleiben. Sie müssen als Verpflichtungen begriffen werden, die Regierungen eingegangen sind und zu erfüllen haben. Versagen Regierungen bei der Einlösung dieser Verpflichtungen, muss es wirksame rechtliche Mittel gegen ihre Untätigkeit geben.
Die Rechenschaftspflicht von Regierungen würde gestärkt, wenn die Einschätzungen und Erfahrungen des in Armut lebenden Teils der Weltbevölkerung in dem Prozess Berücksichtigung fänden. Ein jeder Mensch hat Anspruch auf freien Zugang zu Informationen über Entscheidungen, die Auswirkungen auf sein Leben haben. Eine wirkliche Beteiligung der betroffenen Menschen an der Ausgestaltung der Millenium-Entwicklungsziele hat aber nicht stattgefunden. In dem Prozess muss ferner gewährleistet sein, dass Regierungen in ihrem Handeln in angemessener Weise überwacht werden, wenn sie eigenstaatliche Interessen verfolgen, die die Umsetzung der Entwicklungsziele beeinträchtigen. Es sollten alle Regierungen, vor allem aber die G20-Staaten, die für sich eine grössere Rolle in der Weltpolitik beanspruchen, darüber Rechenschaft ablegen müssen, inwieweit sie mit ihrem Handeln zu einer Verbesserung der Lebenssituation der in Armut lebenden Bevölkerungsgruppen beitragen.
Damit die Menschenrechte für alle Wirklichkeit werden, müssen wir staatliche und nichtstaatliche Akteure beharrlich an ihre gesetzlich festgeschriebenen Pflichten und Verantwortlichkeiten erinnern. Mehr als jemals zuvor schliessen sich Menschenrechtsverteidiger, basisdemokratische Organisationen, Rechtsanwälte und andere engagierte Menschen zusammen, um dieses Ziel mit vereinten Kräften anzustreben. Wo sie Berührungspunkte mit den Interessen der Machthabenden sehen, suchen sie die Zusammenarbeit. Ansonsten beharren sie darauf, dass Massnahmen ergriffen werden, die geeignet sind, individuelle ebenso wie institutionelle Verantwortung herbeizuführen. Die Menschenrechtsbewegung ist vielstimmiger und weltumspannender geworden und vernetzt sich immer besser über Grenzen und Fachbereiche hinweg. Ihr Ziel ist die Verwirklichung der Idee der Unteilbarkeit der Menschenrechte.
Mit Beginn der zweiten Dekade des 20. Jahrhunderts engagiert sich Amnesty International als Teil einer weltweiten Bewegung gemeinsam mit Gleichgesinnten für die Werte der universell gültigen Menschenrechte. Wir werden zeigen, dass alle Menschenrechte untrennbar miteinander verbunden sind und direkte Auswirkungen auf die Lebensqualität der Menschen haben. Indem wir das tun, verpflichten wir uns einer Vision von den Menschenrechten, bei der - jenseits von Staaten, bewaffneten Gruppen und Wirtschaftsunternehmen - jeder Mensch zu Veränderungen beitragen kann und dabei Rechte besitzt und Verantwortung trägt. Es ist unser gutes Recht, vom Staat und von der Gesellschaft Achtung, Schutz und Erfüllung unserer Rechte einzufordern. Zugleich stehen wir in der Pflicht, die Rechte unserer Mitmenschen zu respektieren und ein von Solidarität getragenes Handeln an den Tag zu legen. Nur so wird es gelingen, die Versprechen der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte Wirklichkeit werden zu lassen.