Amnesty International Jahresreport 2014/15 Vorwort von Salil Shetty

Das Jahr 2014 war ein schwarzes Jahr für alle, die es wagten, für Menschenrechte einzutreten, und für Menschen auf der ganzen Welt, die erleben mussten, wie sich ihre Heimat in ein Kriegsgebiet verwandelte.

Regierungen weltweit werden nicht müde zu betonen, wie sehr ihnen der Schutz der Zivilbevölkerung am Herzen liegt. Und doch versagen die politischen Entscheidungsträger kläglich, wenn es darum geht, denjenigen Schutz zu gewähren, die ihn am dringendsten benötigen. Amnesty International ist überzeugt, dass sich diese Situation ändern kann und muss.

Das humanitäre Völkerrecht legt die Regeln für die Austragung bewaffneter Konflikte fest. Darin heisst es klipp und klar: Niemals dürfen sich Angriffe gezielt gegen Zivilpersonen richten. Es gilt der Grundsatz, jederzeit zwischen Zivilbevölkerung und Kombattanten zu unterscheiden. Für Menschen, die sich den Schrecken des Krieges gegenübersehen, ist dies ein grundlegendes Schutzprinzip.

Und dennoch werden Konflikte immer und immer wieder auf dem Rücken der Zivilbevölkerung ausgetragen. In dem Jahr, in dem sich der Völkermord in Ruanda zum 20. Mal jährte, traten politische Führungskräfte die Regeln zum Schutz der Zivilbevölkerung wiederholt mit Füssen – oder sahen einfach weg, wenn andere Akteuren sich über diese Regeln hinwegsetzten.

Wahllos gegen Wehrlose

Der UN-Sicherheitsrat hatte angesichts der Krise in Syrien bereits in den vergangenen Jahren keine wirksamen Massnahmen ergriffen, als noch Zeit gewesen wäre, unzählige Menschenleben zu retten. Dies setzte sich 2014 fort. Der Konflikt hat in den letzten vier Jahren mehr als 200000 Menschenleben gefordert. Bei den meisten Opfern handelte es sich um Zivilpersonen, die bei Angriffen der Regierungstruppen getötet wurden. Etwa 4 Mio. syrische Staatsangehörige sind mittlerweile in andere Länder geflohen. Über 7,6 Mio. Menschen befinden sich innerhalb Syriens auf der Flucht.

Der Syrien-Konflikt ist eng mit der Krise im Nachbarstaat Irak verbunden. Die bewaffnete Gruppe Islamischer Staat (IS, zuvor Islamischer Staat im Irak und Syrien/ISIS) beging in Syrien Kriegsverbrechen und im Nordirak Entführungen, Hinrichtungen und ethnische Säuberungen in grossem Ausmass. Gleichzeitig verschleppten und töteten schiitische Milizen im Irak mit der Duldung der irakischen Regierung unzählige Sunniten.

Als israelische Streitkräfte im Juli 2014 den Gazastreifen angriffen, wurden 2000 Palästinenser getötet. Auch hier handelte es sich bei den meisten Opfern, nämlich mindestens 1500 Menschen, um Zivilpersonen. Amnesty International hat einen detaillierten Bericht zu dem Konflikt veröffentlicht, aus dem hervorgeht, dass die israelische Militäroperation ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung geführt wurde und dabei Kriegsverbrechen begangen wurden. Auch die palästinensische Hamas beging Kriegsverbrechen, indem sie wahllos Raketen auf Israel abschoss und so sechs Menschen tötete.

Der Konlfikt in Nigeria rückte ins Zentrum der Weltöffentlichkeit, als Boko Haram 276 Schülerinnen entführte. Weniger Schlagzeilen machten die Gräueltaten der nigerianischen Sicherheitskräfte.

In Nigeria rückte der im Norden des Landes wütende Konflikt zwischen Regierungstruppen und der bewaffneten Gruppierung Boko Haram ins Zentrum der Weltöffentlichkeit, als Boko Haram in der Stadt Chibok 276 Schülerinnen entführte. Dies war nur eines von vielen Verbrechen, die von der bewaffneten Gruppe begangen wurden. Weniger Schlagzeilen machten die Gräueltaten der nigerianischen Sicherheitskräfte und ihrer Verbündeten gegen Personen, die man verdächtigte, Boko Haram anzugehören oder zu unterstützen. Einige dieser Taten wurden auf Video festgehalten, wie Amnesty International im August 2014 aufdeckte. Das Filmmaterial zeigte, wie Menschen getötet und in einem Massengrab verscharrt wurden.

In der Zentralafrikanischen Republik wurden trotz der Präsenz internationaler Schutztruppen bei gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen religiösen Gruppen mehr als 5000 Personen getötet. Die damit einhergehenden Fälle von Folter, Vergewaltigung und Massenmord fanden in der Öffentlichkeit kaum Beachtung. Wieder stammten die meisten Todesopfer aus der Zivilbevölkerung.

Auch im Südsudan, dem jüngsten Staat der Welt, lieferten sich Regierungstruppen und Oppositionskräfte bewaffnete Auseinandersetzungen, in deren Folge bereits Zehntausende Zivilpersonen getötet und 2 Mio. Menschen vertrieben wurden. Beide Konfliktparteien haben dabei Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit begangen.

Versagen der Weltgemeinschaft

Wie dieser Report zur weltweiten Lage der Menschenrechte deutlich zeigt, sind diese Beispiele nur die Spitze des Eisbergs. Manche mögen sagen, dass man einfach nichts tun kann, dass Kriege immer auf dem Rücken der Zivilbevölkerung ausgetragen wurden und sich das auch nicht ändern wird.

Doch das stimmt so nicht. Menschenrechtsverletzungen an Zivilpersonen müssen geahndet und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. In dieser Hinsicht wurden bereits praktische Schritte eingeleitet: Amnesty International begrüsst den Vorschlag für einen Verhaltenskodex für die Mitgliedstaaten des UN-Sicherheitsrates, freiwillig auf Einlegen eines Vetos zu verzichten, wenn dadurch der Sicherheitsrat in Situationen von Völkermord, Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit in seinem Handlungsvermögen blockiert würde. Etwa 40 Länder haben sich bereits für einen solchen Kodex ausgesprochen. Dies wäre ein wichtiger erster Schritt, der viele Menschenleben retten könnte.

Tausende Flüchtlinge kommen beim Versuch ums Leben, über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen. Die mangelnde Unterstützung einiger EU-Staaten für Such- und Rettungseinsätze hat zu diesen skandalösen Todeszahlen beigetragen.

Die Weltgemeinschaft muss sich jedoch nicht nur vorwerfen lassen, ungeheure Schreckenstaten nicht verhindert zu haben. Auch den Millionen von Menschen, die vor Gewalt in ihren Heimatdörfern und -städten fliehen mussten, wurde die nötige Hilfe verwehrt. Diejenigen Regierungen, die die Versäumnisse anderer Länder gerne am lautesten anprangern, zeigen sich sehr zurückhaltend, wenn es darum geht, Flüchtlingen wichtige Unterstützung zu gewähren – sowohl finanziell als auch durch die Aufnahme in ihrem Land. Weniger als 2% der syrischen Flüchtlinge waren Ende 2014 in Drittländern aufgenommen worden. Diese Zahl muss 2015 massiv erhöhen werden. Und in der Zwischenzeit kommen unzählige Flüchtlinge und Migranten bei dem verzweifelten Versuch ums Leben, über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen. Die mangelnde Unterstützung einiger EU-Staaten für Such- und Rettungseinsätze hat zu diesen skandalösen Todeszahlen beigetragen.

Als weiterer Schritt hin zum Schutz der Zivilbevölkerung in Konfliktzeiten wären stärkere Einschränkungen für den Einsatz von Explosionswaffen in dicht besiedelten Gebieten denkbar. In der Ukraine hätte eine solche Massnahme viele Leben retten können: Dort nahmen sowohl prorussische Separatisten – die trotz anderslautender Beteuerungen aus Moskau mutmasslich von Russland unterstützt werden – als auch Kiew nahestehende Kräfte Wohngegenden unter Beschuss.

Damit die Regeln zum Schutz der Zivilbevölkerung ihre Wirkung entfalten können, muss dafür gesorgt werden, dass die für Verstösse Verantwortlichen auch tatsächlich zur Rechenschaft gezogen und vor Gericht gestellt werden. Amnesty International begrüsst daher die Entscheidung des UN-Menschenrechtsrats in Genf, eine internationale Untersuchung von Menschenrechtsverletzungen und -verstössen einzuleiten, die während des Konflikts in Sri Lanka begangen worden sein sollen. Dort waren in den letzten Monaten des bewaffneten Konflikts im Jahr 2009 Zehntausende Zivilpersonen getötet worden. Amnesty International setzt sich seit fünf Jahren für eine solche Untersuchung ein. Ein derartiger Rechenschaftsmechanismus ist ein wichtiger Schritt hin zu Gerechtigkeit.

In anderen Bereichen Bereichen existierte hinsichtlich der Menschenrechte weiterhin Verbesserungsbedarf. In Mexiko sind im September 43 Studenten dem Verschwindenlassen zum Opfer gefallen. Sie gehören damit zu den mehr als 22000 Menschen, die seit 2006 in Mexiko verschwunden sind. Die meisten von ihnen wurden Berichten zufolge von kriminellen Banden verschleppt. Viele andere sollen jedoch von Angehörigen der Polizei oder des Militärs entführt worden sein, die in manchen Fällen mit kriminellen Banden gemeinsame Sache machten. Die wenigen Opfer, deren Leichen später gefunden wurden, wiesen Spuren von Folter und anderen Misshandlungen auf. Diese Verbrechen wurden weder auf bundesstaatlicher noch auf Bundesebene angemessen untersucht, um eine mögliche Beteiligung von Staatsbeamten festzustellen und den Betroffenen wie auch deren Familien wirksame Rechtsbehelfe zur Verfügung zu stellen. Die Regierung hat hier nicht angemessen reagiert, sondern sogar noch den Versuch unternommen, die schlimme Menschenrechtslage zu vertuschen. Nach wie vor herrscht in Mexiko ein hohes Mass an Straflosigkeit und Korruption, und die Befugnisse des Militärs werden immer weiter ausgedehnt.

Wie so häufig haben Protestierende auch angesichts von Drohungen und Gewalt grossen Mut bewiesen.

Auch 2014 wurden in vielen Ländern NGOs in ihrer Arbeit behindert und die Zivilgesellschaft unterdrückt – was auf paradoxe Weise die Bedeutung zivilgesellschaftlichen Engagements sichtbar macht. In Russland wurde das „Gesetz über ausländische Agenten“ verabschiedet, das eine Registrierungspflicht für bestimmte NGOs vorsieht und in seiner Begrifflichkeit an die Rhetorik des Kalten Krieges erinnert. In Ägypten berief man sich auf das unter dem ehemaligen Präsidenten Hosni Mubarak erlassene Vereinigungsgesetz, um vehement gegen NGOs vorzugehen und zu signalisieren, dass die Regierung keine abweichenden Meinungen duldet. Einige Menschenrechtsorganisationen mussten sich aus Furcht vor Repressalien aus der Arbeitsgruppe für die Allgemeine Regelmässige Überprüfung der ägyptischen Menschenrechtsbilanz durch die Vereinten Nationen zurückziehen. Wie so häufig haben Protestierende auch angesichts von Drohungen und Gewalt grossen Mut bewiesen. In Hongkong beteiligten sich Zehntausende Menschen trotz behördlicher Drohungen und exzessiver und willkürlicher Gewaltanwendung durch die Polizei an der sogenannten Regenschirm-Revolution und nahmen so ihre grundlegenden Rechte auf freie Meinungsäusserung und Versammlungsfreiheit wahr: Mit gelben Regenschirmen, dem Symbol der Demokratiebewegung in der chinesischen Sonderverwaltungszone, forderten die Demonstrierenden eine umfassende Wahlreform.

Menschenrechtsorganisationen wird oftmals vorgeworfen, zu ehrgeizig und idealistisch zu sein. Doch wir dürfen nicht vergessen, dass wir tatsächlich Ausserordentliches erreichen können. Am 24. Dezember 2014 trat der internationale Waffenhandelsvertrag in Kraft, nachdem 50 Staaten ihn ratifiziert hatten.

Amnesty International und andere Organisationen setzen sich seit 20 Jahren für einen solchen Vertrag ein. Immer wieder hiess es, dass ein derartiges Abkommen unmöglich zu erzielen sei. Doch nun ist dieser Vertrag in Kraft und wird in Zukunft Waffenlieferungen an Staaten verbieten, wenn der Verdacht besteht, dass sie dort für Menschenrechtsverletzungen eingesetzt werden könnten. Er hat das Potenzial, viel zu bewirken – nun muss nur noch für eine wirksame Umsetzung gesorgt werden.

Kampf gegen Folter

Vor 30 Jahren wurde die UN-Antifolterkonvention verabschiedet – ein weiteres Übereinkommen, für das sich Amnesty International jahrelang eingesetzt hatte und einer der Gründe, weshalb die Organisation 1977 den Friedensnobelpreis erhielt.

Einerseits war dieser Jahrestag ein Grund zum Feiern. Andererseits erinnerte er auch daran, dass Folter auf der ganzen Welt nach wie vor weit verbreitet ist. Aus diesem Grund startete Amnesty International 2014 die internationale Kampagne „Stop Folter“.

Die Botschaft der Kampagne wurde im Dezember 2014 besonders relevant, als der US-Senat einen Bericht veröffentlichte, aus dem hervorging, dass die USA seit den Anschlägen vom 11. September 2001 routinemässig Folterpraktiken angewendet haben. Und offenbar waren die Verantwortlichen, die immerhin eine Straftat begangen hatten, dennoch nach wie vor der Ansicht, sich für nichts schämen zu müssen.

Ob in Washington oder Damaskus, in Abuja oder Colombo: In vielen Teilen der Welt haben politische Entscheidungsträger abscheuliche Menschenrechtsverletzungen mit der Gewährleistung der „nationalen Sicherheit“ gerechtfertigt. Das Gegenteil ist jedoch der Fall. Diese Verletzungen der Menschenrechte sind einer der Gründe, weshalb wir heute in einer solch gefährlichen Welt leben. Ohne Menschenrechte kann es keine Sicherheit geben.

Wir haben schon häufig erlebt, dass es auch und vielleicht gerade in Zeiten, in denen es schlecht um die Menschenrechte bestellt zu sein scheint, möglich ist, bemerkenswerte Veränderungen herbeizuführen. Daher dürfen wir trotz all der Rückschläge, die wir 2014 erlebten, nicht die Hoffnung verlieren. Unsere Aufgabe ist es, uns weiterhin mit aller Kraft für eine bessere Zukunft einzusetzen.