Mit der «Forensic Architecture-Plattform» konnte Amnesty International mit der Goldsmith University ein vollständiges Bild der Zerstörungen während der 50 Tage des Gaza-Konflikts von 2014 erstellen. Dazu wurden alle verfügbaren Satellitenbilder, Nachrichten, Filmmaterial, Tweets, Presseberichten und Pressemitteilungen usw. ausgewertet. © Forensic Architecture/Amnesty International
Mit der «Forensic Architecture-Plattform» konnte Amnesty International mit der Goldsmith University ein vollständiges Bild der Zerstörungen während der 50 Tage des Gaza-Konflikts von 2014 erstellen. Dazu wurden alle verfügbaren Satellitenbilder, Nachrichten, Filmmaterial, Tweets, Presseberichten und Pressemitteilungen usw. ausgewertet. © Forensic Architecture/Amnesty International

Menschenrechtslage im Nahen Osten und in Nordafrika 2018 Gleichgültigkeit fördert weitere Gräueltaten

Medienmitteilung 26. Februar 2019, London/Bern – Medienkontakt
Der Bericht von Amnesty International zur Menschenrechtslage im Nahen Osten und Nordafrika 2018 dokumentiert, wie das unverantwortliche Handeln der internationalen Gemeinschaft die Gewaltspirale in der Region beschleunigt. Regierungen in Ägypten, Syrien oder Saudi-Arabien konnten gegen die eigene Bevölkerung vorgehen, ohne wirkungsvolle Konsequenzen fürchten zu müssen. Einziger Lichtblick sind kleine Fortschritte der Zivilgesellschaft im Kampf für Frauenrechte und die Aufklärung früherer Menschenrechtsverletzungen.

Die internationale Gemeinschaft hat im vergangenen Jahr auf massenhafte Menschenrechtsverletzungen im Nahen Osten und Nordafrika mit grosser Gleichgültigkeit reagiert. Sie hat damit den verantwortlichen Regierungen signalisiert, dass sie ungestraft entsetzliche Menschenrechtsverletzungen begehen können. Der Amnesty-Bericht «Human rights in the Middle East and North Africa: A review of 2018» (PDF, englisch 72 Seiten)  dokumentiert, wie Regierungen in der ganzen Region die Bevölkerung skrupellos unterdrücken und brutal gegen Demonstrierende, die Zivilgesellschaft und politische Gegner vorgehen – und das häufig mit der stillschweigenden Unterstützung machtvoller Verbündeter.

Der Bericht von Amnesty International zeigt unter anderem, dass in Ägypten, dem Iran und Saudi-Arabien 2018 erheblich schärfer gegen kritische Stimmen und die Zivilgesellschaft vorgegangen wurde als zuvor. Die drei Länder sind nur Beispiele für die unangemessene internationale Reaktion auf die grassierenden Menschenrechtsverletzungen durch die Regierungen der Region.

Beispiel Saudi-Arabien

Die Ermordung des Journalisten Jamal Khashoggi im Oktober 2018 löste einen bis dahin nicht dagewesenen globalen Aufschrei in der Öffentlichkeit aus. Er veranlasste Staaten wie Dänemark und Finnland zu einer ungewohnten Reaktion: Beide Länder stellten die Waffenlieferungen nach Saudi-Arabien ein. Wichtige andere Verbündete des Königreichs, darunter die USA, Grossbritannien und Frankreich, weigerten sich dagegen, einen Rüstungsexportstopp zu verhängen – und ermöglichten es Saudi-Arabien damit, im Jemen-Konflikt weiterhin Schulen, Spitäler und die Zivilbevölkerung anzugreifen. Die internationale Gemeinschaft schaffte es nicht, die Forderungen von Menschenrechtsorganisationen nach einer unabhängigen Uno-Untersuchung des Mords durchzusetzen.

«Es bedurfte der kaltblütigen Ermordung von Jamal Khashoggi in einem Konsulat, um eine Handvoll verantwortungsvoller Länder dazu zu veranlassen, die Waffenlieferungen in ein Land einzustellen, das eine Koalition anführt, die für Kriegsverbrechen verantwortlich ist und zur humanitären Katastrophe im Jemen beigetragen hat», sagt Heba Morayef, Direktorin für den Nahen Osten und Nordafrika bei Amnesty International.  «Doch auch dem globalen Aufschrei im Fall Khashoggi folgten keine konkrete Schritte um sicherzustellen, dass die Verantwortlichen für den Mord zur Rechenschaft gezogen werden.»

Ungestraft konnten die saudi-arabischen Behörden auch Regierungskritiker, Akademiker und Menschenrechtler verfolgen, einsperren und foltern. Im Zuge einer Verhaftungswelle wurden im Mai 2018 mindestens acht Frauen ohne Anklage inhaftiert, die sich gegen das Fahrverbot für Frauen und das System der männlichen Vormundschaft gewehrt hatten. Nahezu alle saudi-arabischen Menschenrechtler sitzen im Gefängnis oder haben das Land verlassen.

Beispiel Iran

Amnesty International bezeichnet 2018 als «Jahr der Schande» für den Iran: Sicherheitskräfte inhaftierten allein im vergangenen Jahr bei einer Welle von Massenprotesten mehr als 7.000 Demonstranten, Studierende, Journalisten, Umweltschützer, Arbeiter, Menschenrechtler sowie Frauenrechtlerinnen, die gegen den diskriminierenden Verhüllungszwang durch den Hidschab protestierten. Viele Festnahmen waren wollkommen willkürlich. In iranischen Gefängnissen kommt es immer noch zu Misshandlungen und Folter, viele Aktivisten und Medienvertreter wurden als Strafe für angebliche Vergehen ausgepeitscht.

Amnesty kritisiert die Reaktion Europas auf diese Menschenrechtsverletzungen: Die Antwort der EU, die einen Menschenrechtsdialog mit dem Iran führt, fiel schwach und sehr verhalten aus.

Beispiel Ägypten

Heute ist Ägypten ein gefährlicherer Ort für friedliche Kritiker als zu irgendeinem anderen Zeitpunkt in der jüngeren Geschichte des Landes.

Im Vorfeld der Präsidentschaftswahlen im März 2018 haben die Behörden ihr hartes Durchgreifen gegen kritische Stimmen intensiviert. Die Sicherheitskräfte nahmen mindestens 113 Menschen in Gewahrsam, die friedlich die Regierung kritisiert hatten. Ausserdem setzten die staatlichen Stellen neue Gesetze in Kraft, die die Arbeit unabhängiger Medien behinderten. Zwei Frauen wurden festgenommen, weil sie sich auf Facebook gegen sexuelle Übergriffe gewehrt hatten. Eine von ihnen, Amal Fathy, wurde zu zwei Jahren Haft verurteilt.

Länder wie Frankreich und die USA belieferten Ägypten weiterhin mit Waffen. Das Land nutzte sie in seinem anhaltenden Schlag gegen die Menschenrechte zur Unterdrückung im eigenen Land.

Rüstungsexporte

«Verbündete der Regierungen in der Region haben immer wieder lukrative Geschäftsabschlüsse, Sicherheitskooperationen und milliardenschwere Waffengeschäfte den Menschenrechten vorgezogen. Damit leisten sie Menschenrechtsverstössen Vorschub und schaffen ein Klima, in dem sich die Regierungen im Nahen Osten und Nordafrika unangreifbar fühlen und sich über dem Gesetz sehen», sagte Philip Luther, Direktor für Research und Lobbyarbeit für den Nahen Osten und Nordafrika bei Amnesty International.

«Es ist Zeit, dass die Welt in die Fussstapfen von Ländern wie Dänemark, Finnland, den Niederlanden und Norwegen tritt, die die Einstellung von Waffenverkäufen nach Saudi-Arabien angekündigt und damit ein deutliches Signal gegeben haben, dass es Konsequenzen hat, die Menschenrechte zu missachten.»

Amnesty International fordert jeden Staat dazu auf, keine Waffen und Rüstungsgüter mehr an Länder zu liefern, die am Jemen-Konflikt beteiligt sind – und zwar so lange, bis keine Gefahr mehr besteht, dass mit diesen Waffen schwere Verstösse gegen das humanitäre Völkerrecht und internationale Menschenrechtsnormen begangen oder ermöglicht werden. Amnesty fordert ausserdem Uno-Untersuchungskommissionen zu den Menschenrechtsverletzungen in Syrien und im Jemen sowie ein Syrien-Sondertribunal am Internationalen Strafgerichtshof.

Unterdrückte Meinungsfreiheit

Da in der gesamten Region Naher Osten und Nordafrika die Regierungen für ihr Handeln keine Rechenschaft ablegen müssen, können sie ohne Einschränkung friedliche Kritiker inhaftieren, die Aktivitäten der Zivilgesellschaft einschränken und gegen Protestierende, die ihre Rechte einfordern, unverhältnismässige Gewalt anwenden.

In den Vereinigten Arabischen Emiraten erhielt der bekannte Aktivist Ahmed Mansoor eine zehnjährige Haftstrafe, in Bahrain wurde Nabeel Rajab zu fünf Jahren Gefängnis verurteilt. Beide Männer hatten in den Sozialen Medien ihre kritischen Überzeugungen zum Ausdruck gebracht.

«In fast allen Ländern der Region Naher Osten und Nordafrika zeigten die Regierungen keinerlei Respekt für die Rechte auf Meinungs-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit», sagt Heba Morayef.

«Protestierende, die auf die Strasse gingen, um gegen Unterdrückung zu demonstrieren, und andere Menschen, die es wagten, Kritik an den Regierenden zu äussern, zahlen einen hohen Preis. Einige von ihnen müssen für Jahre ins Gefängnis, nur weil sie ihre Meinung gesagt haben, denn die Behörden verhängen extrem harte Strafen, um Aktivisten einzuschüchtern und zum Schweigen zu bringen.»

Bewaffnete Konflikte: die Zivilbevölkerung als Zielscheibe

In Libyen, Syrien und im Jemen wurden auch 2018 Kriegsverbrechen und andere schwere Verletzungen des Völkerrechts begangen. Im Irak und in Syrien sind die bewaffneten Kampfhandlungen zwar zurückgegangen, doch die Zahl der zivilen Opfer bleibt hoch, etwa zwei Millionen Menschen sind weiterhin Vertriebene im eigenen Land.

In Syrien begingen Regierungstruppen auch weiterhin Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit: Es kam zu gezielten Attacken auf die Zivilbevölkerung und Spitäler durch Artillerie und Luftangriffe, dabei wurde auch verbotene Streumunition eingesetzt. Gleichzeitig trugen Russland und China durch eine Blockadepolitik im Uno-Sicherheitsrat dazu bei, dass die Verantwortlichen für diese Verbrechen nicht zur Rechenschaft gezogen wurden.

Doch auch die US-geführten Koalitionstruppen töteten Hunderte und verletzten Tausende Zivilpersonen, während ihrer Offensive gegen den IS in Rakka. Dabei verübten die Truppen auch Angriffe, die gegen das humanitäre Völkerrecht verstossen. Sowohl in Syrien als auch im Irak gaben die Beteiligten nur sehr zögerlich zu, dass es während der Einsätze zivile Todesopfer gab.

Auch zur Lage in Libyen hat die internationale Gemeinschaft keinen wirksamen Rechenschaftsmechanismus installiert, beispielsweise im Uno-Menschenrechtsrat. Dies hat die Konfliktparteien dazu ermutigt, unter völliger Missachtung des Völkerrechts weitere Menschenrechtsverstösse zu begehen.

«Es gibt keinen internationalen Druck, dass die Konfliktparteien, die Kriegsverbrechen und andere Verstösse gegen das Völkerrecht begehen, zur Rechenschaft gezogen werden. Das führt schon viel zu lange dazu, dass die Verantwortlichen für die Gräueltaten im Nahen Osten und Nordafrika straffrei ausgehen. Die Rechenschaftspflicht ist wesentlich – nicht nur, damit den Opfern dieser Verbrechen Gerechtigkeit zuteil wird, sondern auch, weil dies die endlose Gewaltspirale unterbrechen und somit weitere Opfer verhindern würde», sagt Philip Luther.

Kleine Hoffnungsschimmer für die Menschenrechte

Trotz weit verbreiteter Unterdrückung und zahlreicher Menschenrechtsverletzungen gab es im Jahr 2018 auch einige kleine Verbesserungen bezüglich der Rechte von Frauen sowie von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen (LGBTI).

In den Maghreb-Staaten Algerien, Marokko und Tunesien traten mehrere Gesetze zur Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen in Kraft. Die Palästinensische Autonomiebehörde im Westjordanland folgte dem Beispiel einiger anderer Länder wie Jordanien und Libanon und hob eine Regel auf, die mutmasslichen Vergewaltigern Straffreiheit versprach, wenn sie ihre Opfer heiraten.

In Saudi-Arabien hoben die Behörden endlich das Fahrverbot für Frauen auf – allerdings inhaftierten sie gleichzeitig viele der Menschenrechtsverteidigerinnen, die sich dafür eingesetzt hatten.

In weiten Teilen der Region werden gleichgeschlechtliche Beziehungen auch weiterhin kriminalisiert. Allerdings konnte eine gut organisierte Zivilgesellschaft in zwei Ländern kleine Erfolge in Sachen LGBTI-Rechte erzielen: In Tunesien wurde dem Parlament ein Gesetzentwurf vorgelegt, der die Legalisierung gleichgeschlechtlicher Beziehungen vorsieht, und im Libanon entschied ein Gericht, dass einvernehmlicher gleichgeschlechtlicher Sex keine Straftat darstellt.

Beide Länder ergriffen ausserdem Massnahmen, um auch die Verantwortlichen für bereits begangene Menschenrechtsverletzungen zur Rechenschaft ziehen zu können. Im Libanon trug das jahrelange Engagement der Zivilgesellschaft Früchte: Das Parlament verabschiedete ein Gesetz, das die Bildung einer Kommission vorsieht, die mehrere Tausend Fälle des Verschwindenlassens während des Bürgerkriegs untersuchen soll. Und in Tunesien hat sich die Wahrheitskommission erfolgreich gegen wiederholte Versuche der Behörden gewehrt, ihre Arbeit zu behindern.

«Vor dem Hintergrund einer allgegenwärtigen Repression haben einige Regierungen kleine Schritte vorwärts gemacht. Die erzielten Verbesserungen sind vor allem den mutigen Menschenrechtsverteidigerinnen und -verteidiger im Nahen Osten und Nordafrika zu verdanken. Sie werden diejenigen, die ihre Freiheit riskieren und sich gegen die Tyrannei wehren, daran erinnern, dass ihre Arbeit der Grundstein für die Veränderungen der kommenden Jahre ist», sagt Heba Morayef.