Ein Polizist versucht, einen Fotojournalisten daran zu hindern, Bilder auf einer Strasse in Peking am 13. Oktober 2020 zu machen. ©  NICOLAS ASFOURI / AFP
Ein Polizist versucht, einen Fotojournalisten daran zu hindern, Bilder auf einer Strasse in Peking am 13. Oktober 2020 zu machen. © NICOLAS ASFOURI / AFP

Amnesty International Report 2020/21 Länderbericht China

7. April 2021
Das Jahr war geprägt von einem ausserordentlich harten Vorgehen gegen Menschenrechtsverteidiger*innen und vermeintlich Andersdenkende sowie der systematischen Unterdrückung ethnischer Minderheiten. Anfang des Jahres brach in Wuhan die Corona-Pandemie aus, der in China mehr als 4600 Menschen zum Opfer fielen.

Volksrepublik China
Staatsoberhaupt: Xi Jinping
Regierungschef: Li Keqiang

Menschenrechtsverteidiger*innen

Autonome Regionen Xinjiang, Tibet und Innere Mongolei

Recht auf Gesundheit

Meinungsfreiheit

Religions- und Glaubensfreiheit

Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans- und Intergeschlechtliche (LGBTI*)

Sonderverwaltungsregion Hongkong

Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit

Meinungsfreiheit

Rechte von LGBTI*

Chinesische Bürger*innen forderten Meinungsfrei­heit und Transparenz, nachdem die staatlichen Stellen medizinisches Per­sonal wegen deren Warnungen vor dem Virus gemassregelt hatten. Vor den Ver­einten Nationen wurde China scharf kri­tisiert und aufgefordert, den sofortigen, wirksamen und ungehinderten Zugang zu Xinjiang zu gewähren. Die Meinungs­freiheit wurde nach wie vor stark be­schnitten. Ausländische Journalist*innen mussten mit ihrer Inhaftierung und Ausweisung rechnen, und ihre Anträge auf Visumsverlängerung wurden mit Verzögerung bearbeitet oder abgelehnt. Chinesische und ausländische Techno­logieunternehmen sperrten von der Re­gierung als politisch sensibel einge­stufte Inhalte, wodurch die Zensurbe­stimmungen auch ausserhalb Chinas Anwendung fanden. China erliess sein erstes Zivilgesetzbuch, zu dem Tau­sende von Eingaben aus der Bevölke­rung mit der Forderung nach der Legali­sierung der gleichgeschlechtlichen Ehe eingegangen waren. Mit der Einführung eines Gesetzes über nationale Sicher­heit in Hongkong wurde dort die Mei­nungsfreiheit beträchtlich einge­schränkt. 

Menschenrechtsverteidiger*innen

Trotz verfassungsrechtlicher Bestimmun­gen sowie internationaler Zusagen und Verpflichtungen setzte China seine uner­bittliche Verfolgung von Menschen­rechtsverteidiger*innen und politisch en­gagierten Bürger*innen fort. Diese waren das ganze Jahr über systematischer Drangsalierung und Einschüchterungen ausgesetzt, wurden willkürlich in Ge­wahrsam ohne Kontakt zur Aussenwelt ge­nommen, zu langen Haftstrafen verurteilt oder fielen dem Verschwindenlassen zum Opfer. Das Fehlen einer unabhängigen Justiz und wirksamer Garantien für ein faires Gerichtsverfahren kam bei diesen immer wiederkehrenden Menschen­rechtsverletzungen erschwerend hinzu. Vielen Menschenrechtsanwält*innen ver­wehrte man ihr Recht auf Bewegungsfrei­heit, ebenso wie das Recht, Angeklagte zu treffen und zu vertreten und Einsicht in die Fallakten zu erhalten. Menschen­rechtsverteidiger*innen und politisch en­gagierte Bürger*innen gerieten ins Visier der Staatsorgane und wurden wegen weit gefasster und vage formulierter Vergehen wie «Untergrabung der staatlichen Ord­nung» bzw. der Anstiftung dazu oder wegen «Provokation von Streit und Sabo­tage der gesellschaftlichen Ordnung» an­geklagt.

Zahlreiche prominente Menschen­rechtsverteidiger*innen und engagierte Bürger*innen wurden weiterhin willkür­lich festgehalten, weil sie im Dezember 2019 an einer privaten Versammlung in Xiamen, in der Provinz Fujian, teilgenom­men hatten. Am 23. März brachten UN-Menschenrechtsexpert*innen ihre grosse Sorge um den früheren Menschenrechts­anwalt Ding Jiaxi und andere Menschen­rechtsverteidiger zum Ausdruck, die nach Einschätzung der Vereinten Natio­nen dem Verschwindenlassen zum Opfer gefallen sind. Am 19. Juni wurden die Juristen Xu Zhiyong und Ding Jiaxi nach sechsmonatiger Haft ohne Kontakt zur Aussenwelt wegen «Anstiftung zur Unter­grabung der staatlichen Ordnung» for­mell verhaftet und unter «Hausarrest an einem festgelegten Ort» gestellt, ohne Zugang zu ihren Familien und Rechtsbei­ständen ihrer Wahl zu erhalten. Am 24. Februar wurde der Hongkonger Buch­händler Gui Minhai nach einem Geheim­prozess wegen «illegaler Preisgabe von Geheimdienstinformationen an ausländi­sche Stellen» zu zehn Jahren Haft verur­teilt. Cheng Yuan, Liu Yongze und Wu Gejianxiong, die mit ihren Aktionen Dis­kriminierung angeprangert hatten, stan­den zwischen dem 31. August und dem 4.September wegen «Untergrabung der staatlichen Ordnung» in einem geheimen Verfahren vor Gericht, nachdem sie zuvor mehr als ein Jahr ohne Kontakt zur Au­ssenwelt in Haft verbracht hatten. Die drei Männer wurden allein aus dem Grund willkürlich inhaftiert, weil sie sich für die Rechte von Randgruppen und be­sonders schutzbedürftigen Menschen eingesetzt haben.

Huang Qi, Gründer und Leiter des Menschenrechtsportals «64 Tianwang» in Sichuan, durfte am 17. September schliesslich mit seiner Mutter sprechen, das erste Mal seit seiner Inhaftierung vor mehr als vier Jahren. Sein Gesundheits­zustand hat sich Berichten zufolge seit seiner Verurteilung zu zwölf Jahren Ge­fängnis im Januar 2019 verschlechtert, und er wies demnach Symptome von Un­terernährung auf. Der wegen Spionage angeklagte australische Schriftsteller und Blogger Yang Hengjun, der seit dem 30.Dezember 2019 ohne Kontakt zur Aussenwelt in Haft gehalten wird, durfte am 31. August schliesslich einen konsula­rischen Vertreter Australiens und seinen Anwalt sehen. Er hat Berichten zufolge über 300 Verhöre über sich ergehen las­sen müssen und streitet weiterhin alle Anschuldigungen gegen ihn ab.

Fünf Jahre nach dem beispiellosen Vorgehen gegen Menschenrechtsverteidi­ger*innen und Rechtsanwält*innen, das als «Razzia 709» bekannt wurde, sind viele Anwält*innenweiterhin im Gefäng­nis oder werden ständig observiert. Am 17.Juni wurde der Menschenrechtsan­walt Yu Wensheng unter Ausschluss der Öffentlichkeit vor Gericht gestellt und wegen angeblicher «Anstiftung zur Unter­grabung der staatlichen Ordnung» zu vier Jahren Haft verurteilt, nachdem er 18 Monate lang ohne Kontakt zur Aussen­welt in Gewahrsam gehalten worden war. Nach Angaben seines Rechtsbeistands wurde Yu Wensheng in der Haft gefoltert, und sein Gesundheitszustand hat sich drastisch verschlechtert. Der Menschen­rechtsanwalt Jiang Tianyong, den man 2019 nach Verbüssung einer zweijährigen Haftstrafe wegen «Anstiftung zur Unter­grabung der staatlichen Ordnung « frei­gelassen hatte, wurde zusammen mit sei­nen Eltern nach wie vor streng über­wacht. Der Menschenrechtsanwalt Wang Quanzhang wurde am 4.April nach mehr als vier Jahren Gefängnis wegen «Unter­grabung der staatlichen Ordnung» auf freien Fuss gesetzt und war Ende April wieder bei seiner Familie. Er war nach Angaben seines Anwalts gefoltert wor­den.

Autonome Regionen Xinjiang, Tibet und Innere Mongolei

Unter dem Vorwand der Bekämpfung von Separatismus, Extremismus und Terroris­mus in der Uigurischen Autonomen Re­gion Xinjiang und der Autonomen Region Tibet hielten die schweren und weitrei­chenden Repressionen gegen ethnische Minderheiten unvermindert an. Die Ein- und Ausreise nach bzw. aus Tibet blieben stark eingeschränkt, und zwar insbeson­dere für Journalist*innen, Wissenschaft­ler*innen und Vertreter*innen von Men­schenrechtsorganisationen, was es ex­trem schwierig machte, die Menschen­rechtslage in der Region zu überprüfen und zu dokumentieren. Seit 2017 wur­den in Xinjiang schätzungsweise eine Million oder noch mehr Uigur*innen, Ka­sach*innen und Angehörige anderer überwiegend muslimischer Volksgruppen willkürlich und ohne Gerichtsverfahren inhaftiert und in Einrichtungen zur «Um­erziehung» politischer Indoktrination und kultureller Zwangsassimilation unterzo­gen. Das volle Ausmass der Menschen­rechtsverletzungen zu dokumentieren, war aufgrund fehlender öffentlich zu­gänglicher Daten und des beschränkten Zugangs zu der Region nach wie vor nicht möglich. Obwohl die staatlichen Stellen zunächst die Existenz der Lager geleugnet hatten, bezeichneten sie sie später als «Berufsbildungsstätten». Auf Satellitenbildern ist zu sehen, dass im Laufe des Jahres immer mehr Lager er­richtet worden sind.

Der seit 2017 verschollene promi­nente uigurische Historiker und Verleger Iminjan Seydin tauchte plötzlich wieder auf und lobte die chinesische Regierung in einem Video, das Anfang Mai von einer staatlichen englischsprachigen Zeitung veröffentlicht wurde. Die allem Anschein nach vorformulierten Äusserungen sollten wohl dazu dienen, die öffentliche Aus­sage seiner Tochter über seine willkürli­che Inhaftierung zu diskreditieren. Von Ekpar Asat, einem uigurischen Unterneh­mer und Philanthropen, fehlte seit 2016 jede Spur, nachdem er von der Teilnahme an einem Schulungsprogramm des US-Aussenministeriums für Führungskräfte nach Xinjiang zurückgekehrt war. Im Ja­nuar entdeckte seine Schwester, dass er insgeheim wegen «Anstiftung zu ethnisch motiviertem Hass und Diskriminierung» zu 15 Jahren Gefängnis verurteilt worden war.

Von dem seit Januar inhaftierten ui­gurischen Fotomodell Merdan Ghappar hatte man seit März nichts mehr gesehen oder gehört, als Nachrichten und Bilder von ihm, die über seine schlechten Haft­bedingungen Auskunft geben, in den so­zialen Medien auftauchten. Die Uigurin Mahira Yakub, die für eine Versicherung arbeitete, wurde im Januar wegen «mate­rieller Unterstützung terroristischer Akti­vitäten» angeklagt, weil sie Geld an ihre Eltern in Australien überwiesen hatte. Laut ihrer Schwester diente das im Jahr 2013 überwiesene Geld dazu, ihren El­tern beim Kauf eines Hauses zu helfen. Der kasachische Schriftsteller Nagyz Mu­hammed wurde im September wegen «Separatismus» im Zusammenhang mit einem Abendessen zu lebenslanger Haft verurteilt, zu dem er sich vor rund zehn Jahren am kasachi schen Unabhängig­keitstag mit Freund*in nen eingefunden hatte.

Immer mehr Uigur*innen im Ausland forderten von den staatlichen Stellen Be­weise, dass ihre verschollenen Angehöri­gen in Xinjiang noch am Leben sind. Im Ausland lebende Uigur*innen wurden Berichten zufolge von diplomatischen Vertretungen Chinas im jeweiligen Land ihres Aufenthalts darauf hingewiesen, dass sie ihren chinesischen Pass nur er­neuern könnten, wenn sie nach Xinjiang zurückkehrten. Botschaften und Agent*in nen der Volksrepublik China schikanierten und schüchterten in der Diaspora lebende Uigur*innen und Ange­hörige anderer Minderheiten auf der gan­zen Welt ein. Um den Aktivitäten der im Ausland lebenden Uigur*innen Einhalt zu gebieten und sie zum Schweigen zu bringen, nahmen die örtlichen Behörden in Xinjiang Berichten zufolge deren dort lebende Angehörige ins Visier. Zahlreiche Uigur*innen, die sich im Ausland aufhal­ten, wurden von chinesischen Sicher­heitsbeamt*innen über Kurznachrichten­dienste kontaktiert und aufgefordert, In­formationen wie ihre Ausweisnummer und die ihrer Ehepartner*innen und An­gaben über ihren Wohnort sowie Passfo­tos zu übermitteln. Andere erhielten Be­richten zufolge wiederholt Anrufe vom chinesischen Staatssicherheitsdienst, in denen sie aufgefordert wurden, Informa­tionen über andere uigurische Gemein­schaften im Ausland zu sammeln und diese auszuspionieren.

Im Juni 2020 übten 50 unabhängige UN-Menschenrechtsexpert*innen scharfe Kritik an China wegen der Unterdrückung religiöser und ethnischer Minderheiten, zu der es unter anderem in Xinjiang und Tibet gekommen ist. Am 6. Oktober gaben 39 UN-Mitgliedstaaten eine ge­meinsame Erklärung ab, in der sie ihre grosse Besorgnis über die Menschen­rechtslage in Xinjiang, Hongkong und an­deren Landesteilen zum Ausdruck brach­ten und China aufforderten, unabhängi­gen Beobachter*innen, einschliesslich des UN-Hochkommissariats für Men­schenrechte und der zuständigen UN-Sonderverfahren, umgehend einen wirk­samen und ungehinderten Zugang zu Xinjiang zu gewähren. Unter Ausnutzung seines wachsenden politischen und wirt­schaftlichen Einflusses und seiner immer gewichtigeren Rolle innerhalb der Verein­ten Nationen suchte China weiterhin nach Wegen, wie es etablierte Menschen­rechtsmechanismen untergraben kann.

In einzelnen Regionen der Inneren Mongolei kam es zu Protesten gegen eine neue «zweisprachige Bildungspolitik», die darauf abzielt, die Unterrichtsspra­che in mehreren Fächern während der neun Jahre umfassenden Schulpflicht schrittweise von Mongolisch auf Hoch­chinesisch umzustellen. Medienberich­ten zufolge wurden Hunderte von Men­schen, darunter Schüler*innen, Eltern, Lehrer*innen, schwangere Frauen und Kinder, wegen «Provokation von Streit und Sabotage der gesellschaftlichen Ord­nung» festgenommen, nur weil sie an friedlichen Protesten teilgenommen oder Informationen über Proteste im Internet verbreitet hatten. Der Menschenrechts­anwalt Hu Baolong wurde Berichten zu­folge unter dem Vorwurf der «Weiterlei­tung von Staatsgeheimnissen ins Aus­land» formell verhaftet.

Recht auf Gesundheit

Durch die staatliche Zensur wurde der Austausch lebenswichtiger Informationen in den ersten Wochen des Corona-Aus­bruchs in Wuhan behindert. In der An­fangsphase der Epidemie wurden Journa­list*innen und Bürger*innen, die eigene Recherchen angestellt hatten, sowie das Gesundheitspersonal daran gehindert, über den Ausbruch zu berichten. Die ört­lichen Behörden gaben später zu, dass sie Informationen zurückgehalten und somit die Öffentlichkeit daran gehindert hatten, rechtzeitig notwendige Informa­tionen über das Virus zu erhalten. Bis zum 21. Februar gab es nach Angaben des Ministeriums für öffentliche Sicher­heit bereits mehr als 5511 strafrechtli­che Ermittlungsverfahren gegen Perso­nen, die Informationen im Zusammen­hang mit dem Covid-19-Ausbruch veröf­fentlicht hatten, und zwar wegen der «Er­findung und absichtlichen Verbreitung falscher und schädlicher Informationen».

Obwohl Gesundheitsexpert*innen Ende Dezember 2019 wegen des Virus Alarm geschlagen hatten, wurde eine koordi­nierte Reaktion durch das Versäumnis der Regierung, sofort zu reagieren, und durch die gezielte Verfolgung derjenigen, die ihre Stimme erhoben, hinausgezö­gert.

Durch die allumfassende Anwendung von Beschattungsmassnahmen und tech­nologischer Überwachung im Namen der öffentlichen Gesundheit und Sicherheit geriet die Gesellschaft immer mehr in den Würgegriff des Staates. Jede Pro­vinzregierung setzte Hunderttausende von kommunalen Bediensteten ein, damit sie über einzelne Zellen wachen, in die ihre Stadtteile aufgeteilt wurden, und Abriegelungsmassnahmen durchset­zen. Vielen Bewohner*innen, die ent­sprechende Dokumente nicht vorweisen konnten oder kurzzeitig verreist waren, wurde der Zutritt zu ihren eigenen Woh­nungen verweigert. Im April wurden in Guangzhou (Kanton) und an anderen Orten lebende Afrikaner*innen im Zu­sammenhang mit der Corona-Pandemie diskriminiert, indem man sie aus ihren Wohnungen oder Hotels vertrieben und ihnen das Betreten von Restaurants un­tersagt hat.

Meinungsfreiheit

Das Internet wurde weiterhin zensiert, unter anderem mit dem Ziel, Informatio­nen über die Corona-Pandemie und ex­treme Abriegelungsmassnahmen zu unter­drücken. In Wuhan, dem Epizentrum der Pandemie, wurden medizinisches Perso­nal und engagierte Bürger*innen von den Behörden wegen «falscher Äusserungen» und «schwerer Störung der gesellschaftli­chen Ordnung» schikaniert. Der Arzt Li Wenliang, einer von acht Personen, die versuchten, Alarm zu schlagen, bevor der Ausbruch bekanntgegeben wurde, wurde vier Tage, nachdem er eine Warnmeldung in einer Chat-Gruppe verschickt hatte, in der er seinen Kolleg*innen riet, persönli­che Schutzausrüstung zu tragen, um einer Infektion vorzubeugen, von der ört­lichen Polizei zurechtgewiesen. Als er dann an Covid-19 starb, löste dies im In­ternet landesweite Empörung und Trauer aus, und es wurden Forderungen nach Meinungsfreiheit und einem Ende der Zensur laut. Die Behörden blockierten Hunderte von Kombinationen bestimmter Schlüsselwörter in den sozialen Medien und Kurznachrichtdiensten. Kommentare von Andersdenkenden im Internet, sensi­ble Hashtags im Zusammenhang mit dem Ausbruch der Pandemie und Forde­rungen nach Redefreiheit wurden schnell gelöscht. Durchgesickerte Nachrichten deuteten darauf hin, dass der «Verbrei­tung von Gerüchten» beschuldigte Perso­nen von den staatlichen Stellen angewie­sen wurden, ihre Social-Media-Konten und Beiträge zu löschen.

Personen, die Details über den Covid-19-Ausbruch offenlegten, wurden von den Staatsorganen festgenommen oder anderweitig bestraft. Zahlreiche Journa­list*innen und politisch engagierte Bür­ger*innen wurden dem Vernehmen nach drangsaliert und über länger Zeit ohne Kontakt zur Aussenwelt in Gewahrsam ge­halten, nur weil sie Informationen über die Corona-Pandemie in den sozialen Medien veröffentlicht hatten. Der Men­schenrechtsverteidiger Chen Mei und zwei weitere an dem durch Crowdsour­cing finanzierten Vorhaben «Termi­nus2049» beteiligte Personen wurden am 19.April von der Polizei in Peking festgenommen. Der Kontakt zu ihren Fa­milien wurde ihnen verwehrt, nur weil sie öffentliche Informationen über die Pan­demie gesammelt und archiviert hatten. Der unerschrockene Anwalt und als inof­fizieller Journalist tätige Chen Qiushi und der in Wuhan lebende Fang Bin sind seit Anfang Februar verschollen, nachdem sie über den Ausbruch der Krankheit berich­tet und Bildmaterial aus Krankenhäusern in Wuhan veröffentlicht hatten. Ihr ge­nauer Aufenthaltsort konnte nicht in Er­fahrung gebracht werden. Am 28.De­zember wurde Zhang Zhan, die sich ebenfalls als inoffizielle Reporterin betä­tigt hatte, wegen ihrer Berichterstattung über die Corona-Pandemie in Wuhan zu vier Jahren Haft verurteilt. Mehr als drei Monate lang war sie ohne Unterbrechung gefesselt. Berichten zufolge wurde sie zudem gefoltert und von Amtspersonen zwangsernährt, nachdem sie in einen Hungerstreik getreten war.

Im Laufe des Jahres drohte mehreren ausländischen Journalist*innen die Aus­weisung, während anderen die Verlänge­rung ihres Visums verschleppt oder ver­weigert wurde. Das chinesische Aussen­ministerium entzog für US-Mediengrup­pen tätigen amerikanischen Journa ­list*in nen die Akkreditierung und wies sie aus dem Land. Im August wurde die australische Journalistin Cheng Lei wegen des Verdachts der «Gefährdung der nationalen Sicherheit» «an einem festgelegten Ort unter Hausarrest» ge­stellt. Zwei weitere australische Journa­listen verliessen das Land, nachdem sie zunächst an der Ausreise gehindert und von Angehörigen der Sicherheitsdienste verhört worden waren.

Im April 2020 legten die staatlichen Stellen neue strenge Beschränkungen für wissenschaftliche Abhandlungen über die Suche nach dem Ursprung des Co­rona-Virus fest, die nun einer vom Staats­rat ernannten Arbeitsgruppe zur Geneh­migung vorgelegt werden müssen. Am 13. Juli wurde der Juraprofessor Xu Zhangrun, der Kritik an der Reaktion der Regierung auf den Ausbruch der Corona-Pandemie öffentlich kundgetan hatte, nach sechs Tagen Haft freigelassen. Wie es heisst, verlor er einen Tag nach seiner Haftentlassung seine Stelle an der Tsing­hua-Universität. Am 19.August kündigte die Universität Peking neue Regeln für die Teilnahme an Webinaren und Konfe­renzen im Internet an, die von Einrich­tungen im Ausland bzw. in Hongkong oder Macao organisiert werden. Laut der Mitteilung müssen die Teilnehmer*innen 15 Tage vor einer Veranstaltung eine Ge­nehmigung beantragen und einholen.

Chinas Zensur und Überwachung er­streckte sich 2020 auch über die Gren­zen des Landes hinaus. Unter Einhaltung der strengen inländischen Zensurvorga­ben blockierten und zensierten chinesi­sche Technologie-Unternehmen, die au­sserhalb Chinas tätig sind, Inhalte, die als «politisch sensibel» gelten, darunter Themen, die sich auf ethnische Minder­heiten, politische Unruhen und Kritik an der chinesischen Regierung beziehen. Am 12. Juni 2020 räumte das US-Unter­nehmen Zoom, das Software für Video­konferenzen anbietet, ein, dass es gemäss der Forderung der chinesischen Regie­rung die Konten von ausserhalb Chinas le­benden Menschenrechtsverteidiger*in­nen gesperrt hat, und deutete an, dass es fortan Videokonferenzen, die von der chi­nesischen Regierung als «illegal» be­trachtet werden, blockieren werde. Das Videoportal TikTok löschte zahlreiche Videos, die von im Ausland lebenden Uigur*innen verbreitet wurden, um damit auf ihre verschollenen Angehörigen auf­merksam zu machen. An die Öffentlich­keit gelangten internen Dokumenten ist zu entnehmen, dass TikTok Modera­tor*innen angewiesen hat, Videos zu zen­sieren, die «politisch sensible» Themen wie Falun Gong oder die blutige Nieder­schlagung der Proteste auf dem Tianan­men-Platz im Jahr 1989 zum Inhalt hat­ten.

Religions- und Glaubensfreiheit

Mit am 1.Februar 2020 in Kraft getrete­nen Verordnungen wurde festgelegt, dass religiöse Gruppen «der Führung der Kom­munistischen Partei Chinas folgen, (…) die Richtung einer Sinisierung der Reli­gion beibehalten und die grundlegenden sozialistischen Werte hochhalten» müs­sen. Die Regierung war bestrebt, reli­giöse Lehren und Praktiken mit der Staatsideologie in Einklang zu bringen und die Kontrolle sowohl über staatlich anerkannte als auch nicht registrierte re­ligiöse Gruppen umfassend zu verstär­ken. In Berichten wurde die Zerstörung Tausender kultureller und religiöser Stät­ten, vor allem im Nordwesten Chinas, do­kumentiert. Besonders schlimm war die staatliche Unterdrückung der Religion weiterhin in Xinjiang und Tibet. Men­schen wurden willkürlich wegen gewöhn­licher religiöser Praktiken inhaftiert, die von den Behörden gemäss den «Verord­nungen zur Entradikalisierung» als «An­zeichen von Extremismus» angesehen wurden.

Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans- und Intergeschlechtliche (LGBTI)

Am 13.August kündigte Shanghai Pride, Chinas grösstes und am längsten beste­hendes LGBTI-Festival, angesichts der schrumpfenden Betätigungsmöglichkei­ten für die LGBTI*-Gemeinschaft an, alle Aktivitäten einzustellen. Menschen, die sich für die Rechte von LGBTI einsetzen, wurden schikaniert, weil sie sich gegen Diskriminierung und Homofeindlichkeit aussprachen. Internetplattformen, ein­schliesslich Mikroblogs und Online-Maga­zinen, blockierten und entfernten LGBTI*-bezogene Inhalte und Hashtags. Trotz dieser Widrigkeiten und des zunehmen­den Drucks kämpften zu den LGBTI*-Ge­meinschaften gehörende Personen weiter für ihre Rechte. Eine Studentin hat Be­richten zufolge eine offizielle Beschwerde über Verweise auf Schwule und Lesben in einem von der Regierung genehmigten Lehrbuch eingereicht, wonach diese an einer «gängigen psychosexuellen Stö­rung» litten. Das Gericht wies die Klage im August ab, obwohl China «Homose­xualität» seit 2001 nicht mehr als psy­chische Störung einstuft. Am 28. Mai verabschiedete der Nationale Volkskon­gress (NVK) sein erstes Zivilgesetzbuch, zu dessen Entwurf 213'634 Kommen­tare aus der Öffentlichkeit zum Kapitel über die Ehe eingegangen waren. Obwohl ein Sprecher des Nationalen Volkskon­gresses (NPC) eine grosse Zahl von Forde­rungen nach der Einführung der gleich­geschlechtlichen Ehe bestätigte, wurde diese nach dem Zivilgesetzbuch, das am 1. Januar 2021 in Kraft trat, noch nicht legalisiert.

Sonderverwaltungsregion Hongkong

Chinas oberstes Legislativorgan verab­schiedete das weit gefasste Gesetz der Volksrepublik China zur Wahrung der na­tionalen Sicherheit in der Sonderverwal­tungsregion Hongkong (das Gesetz zur nationalen Sicherheit). Die Regierung von Hongkong ging immer schärfer gegen Anhänger*innen der Demokratiebewe­gung und führende Oppositionelle vor und nutzte die nationale Sicherheit als Vorwand, um im Bereich der Medien und der Bildung einzuschreiten. Das Recht auf Versammlungsfreiheit in friedlicher Form wurde durch die offenkundig will­kürliche Durchsetzung von Vorschriften der räumlichen Distanzierung im Zusam­menhang mit der Corona-Pandemie wei­ter beschnitten.

Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit

Die Massnahmen zur Unterdrückung des Rechts auf friedliche Versammlung wur­den auch nach den Protesten im Jahr 2019 fortgesetzt. Nur drei Stunden nach dem Beginn einer Kundgebung am Neu­jahrstag erklärte die Polizei eine geneh­migte Demonstration für «rechtswidrig» und gab den Organisator*innen und Zehntausenden von weitgehend friedli­chen Demonstrierenden 30 Minuten Zeit, sich zu zerstreuen. Die Polizei setzte dann Tränengas und Wasserwerfer gegen die Demonstrant*innen ein und nahm 287 Personen fest, darunter drei Menschenrechtsbeobachter*innen.

Am 18.April verhafteten die Behör­den 15 prominente Wortführer*innen und Aktivist*innen der Demokratiebewe­gung wegen Verstosses gegen die «Verord­nung zum Schutz der öffentlichen Ord­nung», ein Gesetz, das häufig eingesetzt wird, um weitgehend friedliche Proteste zu verbieten und zu beenden. Den Fest­genommenen wurde vorgeworfen, «nicht genehmigte Versammlungen» organisiert und an diesen teilgenommen zu haben, die mehr als sechs Monate vor ihrer Fest­nahme stattgefunden hatten.

Das Recht auf friedliche Versamm­lungsfreiheit wurde weiter beschnitten, nachdem die Behörden als Reaktion auf die Corona-Pandemie Vorschriften der räumlichen Distanzierung erlassen hat­ten. Im März erliess die Regierung die Verordnung zur Prävention und Kontrolle von Krankheiten (Verbot von Gruppenver­sammlungen), mit der öffentliche Ver­sammlungen von mehr als vier Personen verboten wurden. Das Verbot wurde mehrmals überarbeitet und galt zum Jah­resende für Versammlungen von mehr als zwei Personen.

Die Behörden verboten daraufhin mindestens 14 Protestkundgebungen mit Verweis auf die Corona-Pandemie. Dazu gehörte das komplette Verbot der jährli­chen Mahnwache zum Gedenken an die Ereignisse vom 4.Juni 1989 auf dem Tiananmen-Platz und des Protestmar­sches am 1. Juli. Dies geschah, obwohl die Organisator*innen beider Kundge­bungen zugesagt hatten, die Abstandsre­geln einzuhalten, und den Behörden de­taillierte Pläne für entsprechende Vor­beugemassnahmen vorgelegt hatten. Es war das erste Mal, dass die Regierung diese beiden jedes Jahr stattfindenden Protestdemonstrationen verboten hat. Trotz des Verbots versammelten sich Tau­sende zum Gedenken an den 4. Juni an dem historischen Ort der Kundgebung. Gegen 26 Aktivist*innen wurde wegen einer «nicht genehmigten Versammlung» Anklage erhoben, weil sie sich an der Mahnwache beteiligt hatten.

Bis zum 4.Dezember hatte die Hong­konger Polizei mindestens 7164 Geldbu­ssen im Rahmen des Verbots öffentlicher Versammlungen verhängt. Das neue Ver­bot wurde häufig gegen friedliche De­monstrierende angewandt, auch wenn sie die Vorschriften zur Wahrung des Ab­stands befolgt hatten. Journalist*innen, die über Proteste berichteten, wurden ebenfalls mit einer Geldstrafe belegt, ob­wohl die Verordnung eine Ausnahmerege­lung für Personen vorsieht, die im Rah­men ihrer beruflichen Tätigkeit daran teilnehmen. 

Etwa 9000 Krankenhausbeschäftigte traten im Februar in den Streik, weil die Regierung Grenzkontrollen als Reaktion auf die Corona-Pandemie erst mit Verzö­gerung eingeführt hatte. Die für die Krankenhäuser zuständige Behörde ver­langte später von den Personen, die sich am Streik beteiligt hatten, die Angabe von Gründen für ihr «Fernbleiben von der Arbeit» und drohte mit Vergeltungsmass­nahmen, womit Ärzt*innen davor abge­schreckt werden sollten, sich zu organi­sieren und zu streiken. 

Meinungsfreiheit 

Die nationale Sicherheit wurde als Vor­wand benutzt, um die Meinungsfreiheit zu beschneiden. Unter den extrem vagen Bestimmungen des Gesetzes zur nationa­len Sicherheit, das am 30. Juni ohne jede sinnvolle Konsultation verabschie­det wurde und am nächsten Tag in Kraft trat, kann praktisch alles als Bedrohung der «nationalen Sicherheit» angesehen werden. Das Gesetz, mit dem die Behör­den nun neue Gründe anführen können, um friedliche Aktivitäten zu verfolgen, hat einschneidende Auswirkungen auf die frelen, der Gründung ausländi­scher Organisationen, die zur Unabhän­gigkeit Hongkongs aufrufen, oder der Un­terstützung bie Meinungsäusserung. Bis zum Jahresende nahmen die Behörden 34 Personen wegen des Anbringens poli­tischer Paroestimmter politischer Grup­pen fest. Die Behörden wandten ausser­dem die extraterritoriale Bestimmung des Gesetzes an und stellten Haftbefehle gegen acht politisch engagierte Bürger aus, die sich ausserhalb Hongkongs auf­halten.

Am 10. August wurde Jimmy Lai, Ei­gentümer der pro-demokratischen Zei­tung «Apple Daily», wegen «geheimer Absprachen mit einem ausländischen Land oder externen Elementen» verhaf­tet. Die Polizei führte eine Razzia in den Redaktionsräumen der Zeitung durch und durchsuchte Unterlagen, offensicht­lich unter Missachtung der für Journa­list*innen geltenden Sonderregeln zum Schutz ihrer Quellen. Jimmy Lai blieb in Haft, nachdem die Staatsanwaltschaft gegen eine zunächst gewährte Freilas­sung gegen Kaution Rechtsmittel einge­legt hatte.

Am 6. Oktober entzogen die Behörden einem Grundschullehrer seine Lehrzulas­sung, weil er «die Idee der Unabhängig­keit Hongkongs verbreitet» hatte. Berich­ten zufolge hatte er an seine Schüler ein Arbeitsblatt mit Fragen wie «Was ist Re­defreiheit?» und «Was sind Gründe für ein Eintreten für Hongkongs Unabhän­gigkeit?» ausgeteilt.

Rechte von LGBTI*

Am 4. März entschied das Gericht der ersten Instanz (High Court), dass gleich­geschlechtliche Paare, die im Ausland geheiratet hatten, das gleiche Recht haben, sich um staatliche Mietwohnun­gen zu bewerben. Am 18.September sprach dasselbe Gericht verheirateten gleichgeschlechtlichen Paaren gleiche Rechte in Bezug auf das Erbe und die Erbfolge zu, wenn ein*e Ehepartner*in ohne Testament stirbt. In einem separa­ten Urteil vom selben Tag entschied das Gericht jedoch, dass es verfassungsge­mäss sei, gleichgeschlechtlichen Paaren das Recht zu verweigern, in Hongkong zu heiraten.