Amnesty International Report 2021/22 Länderbericht Afghanistan

1. April 2022
Die am Konflikt in Afghanistan beteiligten Parteien begingen weiterhin ungestraft schwere Verletzungen des humanitären Völkerrechts, einschliesslich Kriegsverbrechen, sowie andere schwere Menschenrechtsverletzungen und -verstösse.

Amtliche Bezeichnung: Islamische Republik Afghanistan

Staats- und Regierungschef: Mohammad Hassan Akhund
(löste im September 2021 Mohammad Ashraf Ghani im Amt ab)

Hintergrund

Wahllose Angriffe und rechtswidrige Tötungen

Zwangsumsiedlungen und Vertreibungen

Rechte von Flüchtlingen und Migrant*innen

Rechte von Frauen und Mädchen
Rechte auf politische Teilhabe und Arbeit
Recht auf Bildung
Sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt

Menschenrechtsverteidiger*innen

Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen (LGBTI*)

Rechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit

Recht auf Gesundheit

Straflosigkeit

Die Zahl wahlloser und gezielter Tötungen erreichte eine bislang nicht gekannte Höhe. Menschenrechtsverteidiger*innen, Aktivistinnen, Journalist*innen, Mitarbeiter*innen des Gesundheitswesens und humanitärer Organisationen sowie Angehörige religiöser und ethnischer Minderheiten wurden zum Ziel von Angriffen durch die Taliban und nichtstaatliche Akteure. Während der Machtübernahme durch die Taliban kam es zu einer Welle von Vergeltungstötungen. Tausende Menschen, vor allem Angehörige der schiitischen Minderheit der Hazara, wurden vertrieben. Die begrenzten Verbesserungen hinsichtlich der Rechte der Frauen wurden unter der Herrschaft der Taliban weitgehend zurückgenommen, die Rechte auf Versammlungsfreiheit und freie Meinungsäusserung dramatisch beschnitten. Der Zugang zur Gesundheitsversorgung, der durch die Coronapandemie bereits stark beeinträchtigt war, verschlechterte sich nach der Aussetzung internationaler Hilfe weiter.

Hintergrund

Mit dem Abzug aller internationalen Truppen, dem Zusammenbruch der Regierung und der Übernahme des Landes durch die Taliban nahm der Konflikt in Afghanistan eine dramatische Wende.

Am 14. April 2021 kündigte US-Präsident Biden an, die im Land verbleibenden US-Truppen bis zum 11. September 2021 abzuziehen. Mit einer auf diese Ankündigung folgenden Militäroffensive eroberten die Taliban eine Provinz nach der anderen und erreichten am 15. August die Hauptstadt Kabul. Daraufhin brach die Regierung zusammen und Präsident Mohammad Ashraf Ghani verliess das Land. Anfang September gaben die Taliban erste Vertreter ihrer Übergangsregierung bekannt.

Der endgültige Abzug der US- und NATO-Truppen wurde angesichts des Vormarschs der Taliban auf den 31. August vorgezogen und war von einer Evakuierungsaktion begleitet. Unter chaotischen Bedingungen wurden vom Flughafen Kabul etwa 123'000 Menschen ausser Landes geflogen, darunter Tausende afghanische Staatsangehörige, die Vergeltungsmassnahmen der Taliban befürchten mussten.

Die ohnehin schon prekäre humanitäre Lage verschlechterte sich aufgrund des Konflikts, der Dürre und der Coronapandemie in der zweiten Jahreshälfte weiter. Hinzu kam eine Wirtschaftskrise, die sich durch die Aussetzung der ausländischen Finanzhilfen, das Einfrieren von Regierungsvermögen und die internationalen Sanktionen gegen die Taliban noch verschärfte. Im Dezember 2021 warnten die Vereinten Nationen, dass in Afghanistan etwa 23 Millionen Menschen von akuter Ernährungsunsicherheit und Hunger betroffen seien, darunter mehr als drei Millionen Kinder, die durch schwere Unterernährung vom Tod bedroht seien.

Wahllose Angriffe und rechtswidrige Tötungen

Tausende Zivilpersonen wurden 2021 bei wahllosen Angriffen mit improvisierten Sprengsätzen und bei Luftangriffen durch die Präsident Ghani unterstehenden Regierungstruppen sowie durch nichtstaatliche Kräfte getötet oder verletzt. Nach Angaben der Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) erreichte die Zahl der zivilen Opfer in der ersten Jahreshälfte 2021 ein Rekordniveau, wobei es mit Beginn des Abzugs der internationalen Streitkräfte im Mai zu einem sprunghaften Anstieg kam. Bis Juni wurden 5183 Zivilpersonen getötet oder verletzt, darunter 2409 Frauen und Kinder. Mehr als zwei Drittel (68 Prozent) der Opfer wurden den Taliban und anderen nichtstaatlichen Akteuren zugeschrieben, 25 Prozent den afghanischen Sicherheitskräften (Afghan National Defence and Security Forces – ANDSF) und anderen regierungsnahen Kräften. Am 29. August kamen bei einem US-Drohnenangriff in Kabul zehn Mitglieder einer Familie ums Leben, darunter sieben Kinder. Das US-Verteidigungsministerium räumte später ein, einen Fehler begangen zu haben, und bot den Angehörigen der Getöteten eine finanzielle Entschädigung an.

Das ganze Jahr über verübten nichtstaatliche Gruppen gezielte Anschläge auf Zivilpersonen und zivile Objekte. Bei einem Bombenanschlag auf die Sayed-ul-Shuhada-Oberschule im Westen Kabuls wurden am 8. Mai 2021 mehr als 230 Menschen verletzt oder getötet. Bei den Opfern handelte es sich fast ausschliesslich um Mädchen. Am 26. August verübte die bewaffnete Gruppe Islamischer Staat – Provinz Chorasan (IS-K) vor dem Flughafen von Kabul einen Selbstmordanschlag, bei dem mindestens 380 Menschen ums Leben kamen, die meisten von ihnen Afghan*innen, die das Land verlassen wollten. Berichten zufolge wurden im Oktober 2021 bei drei Anschlägen, einem auf die Eid-Gah-Moschee in Kabul und zwei weiteren auf schiitische Hazara-Moscheen in den Städten Kandahar und Kundus, Dutzende Menschen getötet und Hunderte verletzt.

Die Taliban und andere bewaffnete Kräfte waren im Laufe des Jahres für die gezielte Tötung zahlreicher Menschen verantwortlich, darunter Menschenrechtsverteidiger*innen, Aktivistinnen, Mitarbeiter*innen humanitärer Organisationen und des Gesundheitswesens, Journalist*innen, ehemalige Regierungsbedienstete und Mitglieder der Sicherheitskräfte. Besonders gefährdet waren Angehörige religiöser und ethnischer Minderheiten.

Während ihrer Offensive und nach ihrer Machtübernahme verübten die Taliban Vergeltungstötungen und aussergerichtliche Hinrichtungen an Menschen, die mit der früheren Regierung in Verbindung standen, darunter auch Angehörige der ANDSF. Am 19. Juli 2021 entführten und töteten die Taliban zwei Söhne des ehemaligen Mitglieds des Provinzrats von Kandahar, Fida Mohammad Afghan. Auch ehemalige Angehörige der Polizei, insbesondere Frauen, wurden zur Zielscheibe.

Ebenfalls im Juli töteten Angehörige der Taliban im Dorf Mundarakht (Bezirk Malistan, Provinz Ghazni) neun Hazara-Männer. Am 30. August richteten die Taliban im Dorf Kahor (Bezirk Khidir, Provinz Daykundi) neun Angehörige der ANDSF, die sich bereits ergeben hatten , aussergerichtlich hin und töteten zwei Zivilpersonen, die aus dem Dorf zu fliehen versuchten, darunter ein 17-jähriges Mädchen. Alle waren Angehörige der ethnischen Minderheit der Hazara.

Am 4. September 2021 wurde in der Provinz Ghor die ehemalige Polizistin Banu Negar vor den Augen ihrer Kinder von Taliban-Kämpfern mit Schlägen misshandelt und dann erschossen. Weitere 100 ehemalige Sicherheitskräfte wurden zwischen Mitte August und Ende Dezember von den Taliban verschleppt oder getötet.

Zwangsumsiedlungen und Vertreibungen

Zwischen Januar und Dezember 2021 wurden etwa 682'031 Menschen durch Kampfhandlungen vertrieben, zusätzlich zu den 4 Millionen Menschen, die bereits durch bewaffnete Auseinandersetzungen und Naturkatastrophen zum Verlassen ihrer Wohnorte gezwungen waren.

In den Provinzen Daykundi und Helmand vertrieben die Taliban Tausende Menschen aus ihren Häusern und von ihrem Land. Auch Bewohner*innen der Provinzen Balkh, Kandahar, Kundus und Urusgan waren von Vertreibung bedroht. Besonders betroffen waren Hazara-Gemeinschaften und Menschen, die mit der früheren Regierung in Verbindung standen. Im Juni befahlen die Taliban den tadschikischen Einwohner*innen von Bagh-e Sherkat in der Provinz Kundus, die Stadt zu verlassen, offenbar aus Rache für deren Unterstützung der Regierung von Präsident Ghani. Ende September wurden in den Ortschaften Kindir und Tagabdar im (Bezirk Gizab, Provinz Daykundi) mehr als 740 Hazara-Familien aus ihren Häusern und von ihrem Land vertrieben.

Rechte von Flüchtlingen und Migrant*innen

Mit der Machtübernahme der Taliban stieg die Zahl der afghanischen Flüchtlinge in den Nachbarländern an. Nachdem die Evakuierung über den Flughafen Kabul eingestellt wurde, versuchten Tausende von verzweifelten Afghan*innen, auf dem Landweg nach Pakistan und in den Iran zu gelangen. Zehntausende erreichten Pakistan, bevor am 2. September 2021 die Grenzen des Landes für die meisten Afghan*innen geschlossen wurden. Nur der Grenzübergang Torkham blieb noch für diejenigen offen, die im Besitz von entsprechenden Passierscheinen waren. Im November 2021 meldete die humanitäre Organisation Norwegischer Flüchtlingsrat, dass täglich 4000 bis 5000 Afghan*innen die Grenze zum Iran überquerten.

Das Recht der Afghan*innen, in Drittländern Asyl zu suchen, wurde durch von den Taliban verhängte Ausreisebeschränkungen beeinträchtigt. Davon waren auch Menschen betroffen, die Vergeltungsmassnahmen durch die Taliban befürchten mussten. Unter anderem war es den Betroffenen häufig unmöglich, Pässe oder Visa zu erhalten. Es gab Befürchtungen, dass die Einreisebeschränkungen der Nachbarländer Afghan*innen dazu zwingen könnten, mithilfe von Schleuser*innen über riskante Routen und ohne offizielle Papiere in andere Länder einzureisen, was sie einer erhöhten Gefahr von Menschenrechtsverletzungen aussetzen würde.

Rechte von Frauen und Mädchen

Schon vor der Machtübernahme durch die Taliban waren Frauen und Mädchen in Afghanistan geschlechtsspezifischer Diskriminierung und Gewalt ausgesetzt. Nach der Machtübernahme verloren sie viele ihrer grundlegenden Menschenrechte. Trotz der Zusicherungen der Taliban, die Rechte der Frauen zu achten, wurden jegliche in den vorangegangenen zwei Jahrzehnten erzielten Fortschritte rasch wieder zunichtegemacht.

Rechte auf politische Teilhabe und Arbeit

In der letzten Runde der gescheiterten Friedensgespräche waren Frauen stark unterrepräsentiert: In der Regierungsdelegation gab es nur vier Frauen, in der Taliban-Delegation überhaupt keine. Unter der Regierung von Präsident Ghani waren vier Kabinettsposten von Frauen besetzt, in der Übergangsregierung der Taliban gab es keine einzige Frau. Kurz nach ihrer Machtübernahme lösten die Taliban das Ministerium für Frauenangelegenheiten und die entsprechenden Provinzbüros auf.

Im August 2021 erklärte ein Taliban-Sprecher gegenüber Reporter*innen, Frauen sollten erst dann wieder zur Arbeit gehen, wenn „angemessene Verfahren“ eingerichtet seien, um ihre „Sicherheit zu gewährleisten“. Im September wurden die in den Ministerien beschäftigten Frauen aufgefordert, zu Hause zu bleiben, während ihre männlichen Kollegen die Arbeit wieder aufnahmen. Berichten zufolge durften Frauen in verschiedenen Teilen des Landes ihren Arbeitsplatz nicht betreten oder wurden wieder nach Hause geschickt – ausgenommen hiervon waren Frauen, die im Passamt, am Flughafen von Kabul und im Gesundheitssektor arbeiteten. In manchen Fällen sollen Taliban-Kämpfer die Frauen von der Arbeit nach Hause gebracht und ihnen erklärt haben, dass sie durch ihre männlichen Verwandten ersetzt würden.

Anwältinnen, Richterinnen und Staatsanwältinnen bekamen faktisch Berufsverbot und mussten untertauchen. Sie hatten Repressalien von Männern zu befürchten, die sie wegen häuslicher und anderer geschlechtsspezifischer Gewalt zu Haftstrafen verurteilt hatten und die von den Taliban aus dem Gefängnis entlassen wurden. Es gab Berichte über ehemalige Häftlinge und Taliban-Kämpfer, die die Häuser von Richterinnen plünderten.

Recht auf Bildung

Nach der Machtübernahme erklärten die Taliban, es müsse erst ein „sicheres Lernumfeld“ geschaffen werden, ehe Frauen und Mädchen wieder zur Schule gehen könnten. Jungen durften ab Mitte September wieder die Schule besuchen, für Mädchen blieb die Situation jedoch unklar. Ende 2021 waren die meisten weiterführenden Schulen für Mädchen noch immer geschlossen, mit Ausnahme der Provinzen Kundus, Balkh und Sar-e Pul. Einschüchterungsversuche und Schikanen gegenüber Lehrer*innen und Schüler*innen führten dazu, dass selbst dort, wo Schulen und andere Bildungseinrichtungen geöffnet waren, nur wenige Kinder – und noch weniger Mädchen – den Unterricht besuchten.

Sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt

Gewalt gegen Frauen und Mädchen war noch immer weitverbreitet, wurde aber kaum angezeigt. Die allermeisten Fälle gingen straffrei aus. Zwischen Januar und Juni 2021 registrierte das Ministerium für Frauenangelegenheiten 1.518 Fälle von Gewalt gegen Frauen, darunter 33 Morde. Schläge, Belästigung, Zwangsprostitution, Verweigerung von Unterhaltszahlungen sowie Zwangs- und Frühverheiratungen waren nach wie vor die häufigsten Formen von Gewalt gegen Frauen. Für die zweite Jahreshälfte lagen keine amtlichen Daten vor.

Ab August 2021 wurden die rechtlichen und anderweitigen Unterstützungsmechanismen für Frauen schrittweise abgeschafft und die Notunterkünfte für Frauen geschlossen. In der Folge eskalierte die Gewalt gegen Frauen weiter. Der Entzug dieser institutionellen und rechtlichen Unterstützung durch die Taliban erhöhte für Frauen das Risiko von Gewalt und liess sie gleichzeitig aus Angst vor den Konsequenzen davor zurückschrecken, derartige Fälle zu melden.

Menschenrechtsverteidiger*innen

Menschenrechtsverteidiger*innen wurden zum Ziel von Einschüchterungen, Schikanen, Drohungen, Gewalt und gezielten Tötungen. Die Ende 2020 begonnene Zunahme solcher Angriffe setzte sich im Jahr 2021 fort. Nach Angaben des Afghan Human Rights Defenders Committee wurden zwischen September 2020 und Mai 2021 mindestens 17 Menschenrechtsverteidiger*innen getötet, und Hunderte weitere erhielten Drohungen.

Ab Ende August 2021 besetzten die Taliban alle 14 Büros der Unabhängigen Menschenrechtskommission Afghanistans, sodass ihre Mitarbeiter*innen gezwungen waren, das Land zu verlassen oder unterzutauchen. Berichten zufolge durchsuchten Taliban-Kämpfer Häuser auf der Suche nach Menschenrechtsverteidiger*innen und Journalist*innen. NGO-Mitarbeiter*innen und ihre Familien wurden mit Schlägen misshandelt.

Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen (LGBTI*)

Am 29. Oktober 2021 erklärte der Taliban-Sprecher des Finanzministeriums, dass die Rechte von LGBTI* im Rahmen der Scharia nicht anerkannt würden. Im afghanischen Strafgesetzbuch waren einvernehmliche gleichgeschlechtliche sexuelle Beziehungen weiterhin unter Strafe gestellt.

Rechte auf Meinungs- und Versammlungsfreiheit

Die Taliban lösten in ganz Afghanistan friedliche Proteste u. a. unter Einsatz von Tränengas, Elektroschockwaffen und Schusswaffen gewaltsam  auf und schlugen Demonstrierende mit Peitschen und Kabeln. Am 4. September 2021 wurde eine Demonstration in Kabul von Spezialkräften der Taliban aufgelöst, an der etwa 100 Frauen teilgenommen hatten, die die Achtung der Frauenrechte und die Einbeziehung von Frauen in die neue Regierung forderten. Dabei sollen Tränengas und Elektroschockwaffen zum Einsatz gekommen sein. Die Demonstrantinnen wurden mit Schlägen misshandelt. Am 7. September erschossen die Taliban den zivilgesellschaftlich engagierten Omid Sharifi und den Lehrer Bashir Ahmad Bayat, als diese in der Provinz Herat gegen die Taliban protestierten. Acht weitere Demonstrierende wurden verletzt. Am 8. September 2021 erliess das nun von den Taliban kontrollierte Innenministerium eine Anordnung, die alle Demonstrationen und Versammlungen in Afghanistan bis zur Veröffentlichung von „Richtlinien zu Demonstrationen“ untersagte.

Trotz ihrer Zusicherungen, die Meinungsfreiheit zu respektieren, schränkten die Taliban die Medienfreiheit stark ein. Journalist*innen wurden inhaftiert und geschlagen und ihre Ausrüstung beschlagnahmt, vor allem wenn sie über Proteste berichteten. Insbesondere weibliche Medienschaffende wurden eingeschüchtert, bedroht und schikaniert, sodass viele von ihnen gezwungen waren, unterzutauchen oder das Land zu verlassen. Es gab Hausdurchsuchungen bei Journalist*innen, insbesondere bei denen, die für westliche Medien arbeiteten. Am 20. August 2021 brachen Angehörige der Taliban in das Haus eines Journalisten ein, der für die Deutsche Welle arbeitete. Da sie ihn nicht zu Hause antrafen, töteten sie eines seiner Familienmitglieder und verletzten ein weiteres. Bis Ende Oktober 2021 wurden mehr als 200 Medienanstalten geschlossen. Das afghanische Sicherheitskomitee für Journalist*innen gab bekannt, dass zwischen November 2020 und November 2021 mindestens zwölf Journalist*innen getötet und 230 tätlich angegriffen wurden.

Recht auf Gesundheit

Das ohnehin schwache Gesundheitssystem wurde im August 2021 durch die Aussetzung der internationalen Gelder für das Sehatmandi-Projekt weiter geschwächt. Bis November mussten 3000 Gesundheitseinrichtungen aus Geldmangel schliessen. Das von mehreren Geberorganisationen finanzierte Sehatmandi-Projekt war die wichtigste Finanzquelle für eine hochwertige Gesundheitsversorgung, Ernährungsprogramme und Leistungen im Bereich Familienplanung in ganz Afghanistan. Im September 2021 warnte die WHO vor einer rapiden Verschlechterung der Gesundheitssituation, einschliesslich einer Zunahme von Masern-, Durchfall- und Polio-Erkrankungen bei Kindern.

Aufgrund der mangelhaften Vorbereitung auf Notfälle und des schlechten Zustands der öffentlichen Gesundheitsinfrastruktur war Afghanistan schlecht auf den Anstieg der Coronainfektionen zur Jahresmitte vorbereitet. Besonders gefährdet waren Binnenvertriebene, die in überfüllten Unterkünften mit unzureichendem Zugang zu Wasser, sanitären Anlagen und Gesundheitseinrichtungen lebten. Bis zum 15. November 2021 gab es mindestens 7293 Todesfälle durch Covid‑19. Etwa sieben Prozent der Bevölkerung waren geimpft.

Das ganze Jahr über kam es zu Angriffen auf Gesundheitseinrichtungen und Beschäftigte des Gesundheitswesens. In den ersten sechs Monaten des Jahres wurden in der Provinz Nangarhar neun Polio-Impfhelfer*innen erschossen. Im Oktober 2021 sagten die Taliban zu, die Wiederaufnahme einer landesweiten Polio-Impfkampagne zu unterstützen und den Einsatz von Frauen als Impfhelferinnen zu ermöglichen. Ausserdem erklärten sie, für die Sicherheit aller Beschäftigten des Gesundheitswesens mit direktem Kontakt zu Patient*innen sorgen zu wollen.

Straflosigkeit

Am 27. September 2021 kündigte der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH) an, die Ermittlungen zu den in Afghanistan begangenen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit wieder aufzunehmen, bezog sich dabei jedoch nur auf die mutmasslichen Straftaten der Taliban und der Mitglieder des IS-K. Die Entscheidung, die Untersuchung möglicher Kriegsverbrechen der Nationalen Sicherheitsdirektion, der ANDSF, der US-Streitkräfte und des US-Geheimdienstes CIA zu „depriorisieren“, barg das Risiko einer weiteren Zementierung der Straflosigkeit und einer Untergrabung der Legitimität des IStGH.

Veröffentlichungen von Amnesty International