Im Februar 2022 marschierte Russland in die Ukraine ein und brachte militärische Zerstörung über ein friedliches Land und seine Bevölkerung. Innerhalb weniger Monate wurden zivile Infrastruktureinrichtungen zerstört, Tausende Menschen getötet und viele weitere verletzt. Russlands Vorgehen beschleunigte die weltweite Energiekrise und trug zur Schwächung der Systeme zur Lebensmittelproduktion und -verteilung bei. Dies führte zu einer weltweiten Nahrungsmittelkrise, unter der ärmere Länder und rassistisch diskriminierte Menschen nach wie vor besonders stark zu leiden haben.
Der Einmarsch war kaum eine Woche her, da kündigte der Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs eine Untersuchung der in der Ukraine begangenen Kriegsverbrechen an. Am 2. März stimmte eine überwältigende Mehrheit der Mitgliedstaaten in der UN-Generalversammlung dafür, den Einmarsch Russlands als Akt der Aggression zu verurteilen. Währenddessen öffneten europäische Länder, die die Aufnahme von Flüchtlingen lange verweigert hatten, ihre Grenzen für schutzsuchende Ukrainer*innen.
Während des gesamten Jahres 2022 wurden internationale Forderungen nach Gerechtigkeit und nach Unterstützung für die Untersuchung von Kriegsverbrechen laut. Dem war es möglicherweise zu verdanken, dass die UN-Mitgliedstaaten in der Generalversammlung eine Resolution verabschiedeten, um dem Gebrauch des Vetorechts im UN-Sicherheitsrat entgegenzuwirken. Das Vetorecht gilt als eine der Hauptursachen für die systemische Schwäche der UN.
Könnte Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine also auch als Weckruf im weiteren Sinne dienen, wie es diese UN-Resolution deutlich macht? Könnte er dazu führen, dass die Welt hinter den Menschenrechten und universellen Werten zusammensteht?
Noch mehr, noch tödlichere Konflikte
Der verheerende Krieg in Äthiopien ging auch 2022 weiter. Er forderte Schätzungen zufolge Hunderttausende Menschenleben und ist damit einer der tödlichsten Konflikte der neueren Zeit. Doch dieses Blutbad spielte sich grösstenteils ausserhalb unseres Blickfelds ab, als Teil einer weitgehend unsichtbaren Kampagne ethnischer Säuberungen gegen die Bevölkerung in West-Tigray.
Für Palästinenser*innen im Westjordanland war 2022 das tödlichste Jahr des letzten Jahrzehnts: Mindestens 151 Menschen, darunter Dutzende Kinder, wurden von israelischen Streitkräften getötet, meist im Zusammenhang mit immer häufigeren militärischen Razzien und Festnahmen. In Myanmar ging das Militär systematisch gegen Zivilpersonen aus den Bevölkerungsgruppen der Karen und Karenni vor, was zu Hunderten Toten und mindestens 150.000 Vertriebenen führte. Auch in Ländern wie Haiti, Mali, Venezuela und dem Jemen litten die Menschen unter bewaffneten Konflikten und systemischer Gewalt sowie den damit einhergehenden Menschenrechtsverletzungen.
Mehr Klimakatastrophen, mehr Öl, weniger Wiedergutmachung
Die verheerenden Konsequenzen der ungebremsten Klimakrise traten 2022 überdeutlich zutage. Überschwemmungen, Dürren, Hitzewellen und Brände führten zu Todesfällen, der Zerstörung von Unterkünften und Lebensgrundlagen sowie immer stärkerer Ernährungsunsicherheit.
Doch selbst angesichts dieser Katastrophen konnten sich die Staats- und Regierungschef*innen bei der Weltklimakonferenz in Ägypten nicht auf die Durchführung der Massnahmen einigen, die erforderlich sind, um den weltweiten Temperaturanstieg auf maximal 1,5 C zu begrenzen. Darüber hinaus weigerten sich die Staaten, gegen die Hauptursache der globalen Erwärmung vorzugehen: die Erzeugung und Nutzung fossiler Brennstoffe.
Die globale Zusammenarbeit zur Eindämmung des Temperaturanstiegs blieb erfolglos und es gelang nicht, in den Verhandlungen wichtige Zusagen für den Ausstieg aus allen fossilen Brennstoffen zu erreichen. Einen Durchbruch gab es bei der finanziellen Unterstützung von Ländern, die von Klimakatastrophen am stärksten betroffen sind: Die Einrichtung eines Entschädigungsfonds ist ein Hoffnungsschimmer für die Menschen, die die Klimakrise an vorderster Front erleben müssen. Der Fonds ist jedoch noch keineswegs einsatzbereit, und die jährlichen 100 Milliarden US-Dollar, die die reichen Länder den Entwicklungsländern seit 2009 versprochen haben, müssen erst noch bereitgestellt werden.
Unterdessen konnten die sechs grössten westlichen Ölkonzerne im Jahr 2022 rekordverdächtige Vorsteuergewinne von über 200 Milliarden US-Dollar verbuchen. Diese ausserordentlichen Profite sind nicht allein darauf zurückzuführen, dass der russische Einmarsch in die Ukraine die Energiepreise in die Höhe getrieben hat; sie zeugen auch davon, in welchem Ausmass die fossile Brennstoffindustrie wissentlich die Augen vor den Schäden verschliesst, die ihr Geschäftsmodell dem Weltklima und der Umwelt zufügt, und wie sehr sie sich Forderungen widersetzt, für diese Schäden aufzukommen und sie zu beheben.
Doppelmoral
Die Coronapandemie und der Ukrainekrieg enthüllten eine ernüchternde Doppelmoral. Wohlhabende Staaten horteten Impfstoffe und schwächten multilaterale Verteilungssysteme, was zu stärkerer Ungleichheit beitrug. Es gab wenig Anzeichen dafür, dass sich dieser Trend 2022 umkehren würde. Wohlhabende Länder unternahmen nichts, um Entwicklungsländer von ihrer erdrückenden Schuldenlast zu befreien.
Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine ist auch ein Krieg gegen universelle Werte und die multilateralen Systeme, die zum Schutz dieser Werte gedacht sind. Wenn die westliche Welt diesen Kampf für universelle Werte gewinnen will, darf sie nicht gleichzeitig vergleichbare Aggressionen in anderen Ländern hinnehmen, nur weil ihre Interessen auf dem Spiel stehen. Deutlich wurde die Doppelmoral des Westens im lauten Schweigen zu den Menschenrechtsverletzungen in Saudi-Arabien und Ägypten sowie in den inkonsequenten Reaktionen auf die schwerwiegenden Auswirkungen anderer Konflikte auf die Menschenrechte, einige davon Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Auch der Schutz von Flüchtlingen, die vor diesen Konflikten flohen, liess stark zu wünschen übrig.
In Israel und den besetzten palästinensischen Gebieten wurde das Apartheidsystem 2022 weiter verfestigt. Mehrere aufeinanderfolgende israelische Regierungen leiteten Massnahmen ein, um noch mehr Palästinenser*innen aus ihren Häusern zu vertreiben, illegale Siedlungen auszuweiten und bestehende Siedlungen und Aussenposten im besetzten Westjordanland zu legalisieren. Anstatt ein Ende dieses Systems der Unterdrückung zu fordern, gingen einige westliche Regierungen dazu über, diejenigen anzugreifen, die das Apartheidsystem Israels anprangerten.
Derartige Beispiele machten dem Rest der Welt einmal mehr deutlich, dass die Rückendeckung für die Menschenrechte durch den Westen selektiv und von Eigeninteressen geprägt ist.
Die Tore der EU, die für Ukrainer*innen, die vor dem russischen Angriffskrieg flohen, geöffnet waren, blieben für jene geschlossen, die vor Krieg und Repression in Afghanistan und Syrien flohen. Die USA wiesen zwischen September 2021 und Mai 2022 mehr als 25.000 Haitianer*innen aus. Viele dieser Menschen wurden inhaftiert und Folter und anderen Misshandlungen ausgesetzt, die rassistisch und migrationsfeindlich motiviert waren und in der systemischen Diskriminierung Schwarzer Menschen gründeten.
Derartige Beispiele machten dem Rest der Welt einmal mehr deutlich, dass die Rückendeckung für die Menschenrechte durch den Westen selektiv und von Eigeninteressen geprägt ist. Das hatte zur Folge, dass die Ukraine nicht in allen Teilen der Welt Unterstützung erfuhr. Von dieser Doppelmoral profitieren jedoch nicht nur westliche Mächte. Obwohl in China massive Menschenrechtsverletzungen gegen die Uigur*innen und andere muslimische Minderheiten begangen wurden, die Verbrechen gegen die Menschlichkeit darstellen, scheuten die Generalversammlung und der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen weiterhin davor zurück, diese völkerrechtlichen Verbrechen öffentlich anzuprangern.
Innerstaatlicher Rechtsschutz
Dem Argument, die Reaktion der Welt auf den russischen Angriffskrieg würde eine neue Ära für ein wertebasiertes internationales System und die Rechtsstaatlichkeit einläuten, steht die spürbare Verschlechterung des innerstaatlichen Schutzes der Menschenrechte gegenüber.
In Brasilien, Kanada, Schweden, Tansania, Vietnam und anderswo wurden die Rechte indigener Gemeinschaften verletzt, weil die Behörden sie nicht vor der Enteignung ihres angestammten Landes durch Konzerne oder den Staat schützten.
Der Oberste Gerichtshof der USA hob eine langjährige verfassungsrechtliche Garantie für den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen auf und gefährdete so für Millionen Frauen, Mädchen und andere Menschen die Ausübung wesentlicher Rechte, darunter die Rechte auf Leben, Sicherheit und Nichtdiskriminierung. In Afghanistan erliessen die Taliban drakonische Einschränkungen und verweigerten Frauen und Mädchen die Rechte auf Bildung, Arbeit und Selbstbestimmung, während sie öffentlich verkündeten, dass Frauen den Männern untergeordnet seien. Im Iran starb die Kurdin Jina Mahsa Amini im Gewahrsam der „Sittenpolizei“, nachdem ihr vorgeworfen worden war, ihr Kopftuch nicht wie vorgeschrieben getragen zu haben. Ihr Tod löste landesweite Proteste aus, bei denen viele weitere Frauen und Mädchen verletzt, inhaftiert und getötet wurden.
Unsere Rechte, zu protestieren und uns frei zu äussern, wurden 2022 in rasantem Tempo untergraben.
Unsere Rechte, zu protestieren und uns frei zu äussern, wurden 2022 in rasantem Tempo untergraben. Russische Medienunternehmen mussten sich vor Gericht verantworten und ihre Pforten schliessen, weil sie den Krieg in der Ukraine erwähnt hatten. In Afghanistan, Äthiopien, Myanmar, Russland und vielen weiteren Ländern weltweit wurden Journalist*innen in Haft genommen. Technologie wurde vielerorts als Waffe eingesetzt, um Menschen zum Schweigen zu bringen, öffentliche Versammlungen zu verhindern oder Fehlinformationen zu verbreiten. Friedliche Protestierende sahen sich einem stetig wachsenden Arsenal an Waffen gegenüber: von Schlagstöcken, Tränengas und Gummigeschossen bis hin zu scharfer Munition, wie wir im Iran, in Peru und in Sri Lanka sehen konnten. In Grossbritannien sorgten neue Gesetze dafür, dass die Polizei stärkere Befugnisse erhielt und das Recht auf friedlichen Protest eingeschränkt wurde.
Wir haben beeindruckende Akte des Widerstands erlebt: von afghanischen Frauen, die auf die Strasse gingen, um gegen die Taliban-Herrschaft zu protestieren, bis hin zu iranischen Frauen, die Videos veröffentlichten, in denen sie sich die Haare abschnitten, um gegen die diskriminierenden Verschleierungsgesetze ihres Landes zu protestieren. Es ist ein gewisser Trost, dass sich trotz dieser Unterdrückung Tausende Menschen zusammentaten, um Briefe zu schreiben, Petitionen zu unterzeichnen und auf die Strasse zu gehen. Dies sollte den Machthabenden eine Mahnung sein, dass uns unser Recht nicht genommen werden kann, Veränderungen zu fordern und uns frei und gemeinsam zu versammeln.
Schlussfolgerung
Das Jahr 2022 war möglicherweise ein Wendepunkt für die internationale Ordnung. In jedem Fall kam es zu einer Wiederbelebung des Atlantischen Bündnisses und zu einer Zusammenarbeit zwischen den USA und anderen westlichen Mächten, wie sie noch vor einem Jahr, nach dem chaotischen Abzug aus Afghanistan 2021, kaum vorstellbar gewesen wäre.
Keine Wende gab es jedoch auf der Seite der Menschenrechte. Der Verfall setzte sich vielmehr ungehindert fort. Russlands Angriffskrieg führte zur weiteren Destabilisierung eines internationalen multilateralen Systems, das wegen der jahrzehntelangen ungestraften Missachtung des Völkerrechts durch mächtige Staaten bereits geschwächt war. Der Krieg zog Ressourcen und Aufmerksamkeit von der Klimakrise ab und lenkte auch von anderen langjährigen Konflikten und menschlichem Leid weltweit ab.
Die Reaktion des Westens auf den russischen Einmarsch in die Ukraine unterstrich zudem die eigene Doppelmoral, da sie im Gegensatz stand zu früheren folgenlosen Reaktionen auf zahlreiche andere Verstösse gegen die UN-Charta. Das wiederum fachte Instabilität und Straflosigkeit weiter an.
Wenn Russlands Angriffskrieg für die Zukunft der Welt eines zeigt, dann ist es die Bedeutung einer wirkungsvollen und konsequent angewandten Ordnung, die auf Regeln basiert und international gültig ist. Jene, die die Koalition zur Unterstützung der Ukraine anführen, müssen sich verstärkt und gemeinsam mit anderen um ein neuerliches Bekenntnis zu einem internationalen System bemühen, das der Mehrheit der Weltbevölkerung zugutekommt.
Im Jahr 2023 begehen wir den 75. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte – ein Dokument, das aus der Asche eines Weltkriegs geschaffen wurde. Wollen wir abwarten, bis die Welt erneut in Flammen steht, um die Freiheiten und Grundsätze, die auf Kosten von Millionen von Menschenleben errungen wurden, wirklich zu leben? Das Jahr 2023 muss ein Wendepunkt für die Wahrung der Menschenrechte werden. Alles andere wäre ein Verrat der Mächtigen, der die Welt an den Abgrund führen könnte.