AMNESTY INTERNATIONAL REPORT 2023/24 Länderbericht Nigeria

24. April 2024
Die Behörden belegten Medien mit Sanktionen und gingen wegen «Verleumdung» strafrechtlich gegen Journalist*innen vor. Verteidigungs- und Sicherheitskräfte setzten u. a. bei der Auflösung von Protesten exzessive Gewalt ein. Bei polizeilichen Verhören wurde Folter angewandt. Die Behörden nahmen weiterhin rechtswidrige Zwangsräumungen vor. Die Regierung ergriff keine Massnahmen, um die Auswirkungen des Klimawandels einzudämmen. Alle Konfliktparteien verstiessen gegen das Völkerrecht.

Amtliche Bezeichnung: Bundesrepublik Nigeria

Es gab Fälle von Verschwindenlassen. Sexualisierte und geschlechtsspezifische Gewalttaten waren nach wie vor weit verbreitet. Zahlreiche Männer wurden auf Grundlage des Gesetzes über das Verbot der gleichgeschlechtlichen Ehe angeklagt. Umgesiedelte Binnenvertriebene hatten keinen ausreichenden Zugang zu Lebensmitteln und grundlegenden Versorgungsleistungen.

Recht auf freie Meinungsäusserung

Rechtswidrige Angriffe und Tötungen

Folter und andere Misshandlungen

Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte

Rechtswidrige Zwangsräumungen

Recht auf eine gesunde Umwelt

Verstösse gegen das humanitäre Völkerrecht

Verschwindenlassen

Gewalt gegen Frauen und Mädchen

Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen (LGBTI*)

Rechte von Binnenvertriebenen

 

Recht auf freie Meinungsäusserung

Die nigerianische Medienaufsichtsbehörde verhängte am 14. März 2023 gegen 25 Sender Geldstrafen wegen deren Berichterstattung über die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen im Februar. Nach Ansicht der Behörde hatten die Sender gegen die Rundfunkordnung verstossen. Am 1. April 2023 ordnete die Behörde eine Geldstrafe in Höhe von 5 Mio. Nigerianischen Naira (etwa 4100 Euro) gegen den Fernsehsender Channels Television an. Grund dafür waren Äusserungen von Datti Baba-Ahmed, dem Kandidaten der Labour-Partei für das Amt des Vizepräsidenten, in einer Fernsehsendung. Am 10. Mai 2023 untersagte das Hohe Bundesgericht in Abuja der Behörde jedoch die Verhängung von Geldstrafen gegen Radio- und Fernsehsender.

In Onitsha (Bundesstaat Anambra) nahm die Polizei am 18. März 2023 Chude Franklin Nnamdi, einen Unterstützer der Labour-Partei, wegen mutmasslichen Internet-Stalkings fest und bezog sich dabei auf Paragraf 24 des Gesetzes über Internetkriminalität von 2015 (Cybercrimes [Prohibition, Prevention, etc] Act, 2015). Nnamdi hatte den Gouverneur des Bundesstaats Anambra, Charles Soludo, in den Sozialen Medien kritisiert.

Am 18. August 2023 schlossen die Behörden 25 Journalist*innen und Medienunternehmen von der Berichterstattung über Aktivitäten in der Präsidentenvilla in Abuja aus, indem sie ihnen die dafür nötige Akkreditierung entzogen. Die Massnahme wurde vage mit «Sicherheitsbedenken und Überfüllung der Pressegalerie» begründet.

Am 7. Oktober 2023 sprach die Medienaufsichtsbehörde gegen den Fernsehsender Arise TV eine «letzte Warnung» aus, weil Arise TV eine Sendung mit «unbedachten, volksverhetzenden Äusserungen (…) gegen die Legislative, die Exekutive, die Justiz und den Herrn Präsidenten» ausgestrahlt habe.

Bei einem Protest von Beschäftigten wegen ausstehender Lohn- und Rentenzahlungen am 1. November 2023 in der Gemeinde Owerri (Bundesstaat Imo) schlug die Polizei – mit Billigung der Regierung des Bundesstaats – den Präsidenten des Gewerkschaftsverbands Nigeria Labour Congress, Joe Ajaero, und verband ihm die Augen.

Journalist*innen

Die Behörden gingen weiterhin gegen Journalist*innen vor und verhängten strafrechtliche Sanktionen wegen «Verleumdung».

Im Januar 2023 wurde Agba Jalingo unter dem Vorwurf angeklagt, eine Verwandte des ehemaligen Gouverneurs des Bundesstaats Cross River, Ben Ayade, verleumdet zu haben. Am 7. Februar wurden die Investigativjournalisten Gidado Yushau und Alfred Olufemi wegen Verschwörung und Verleumdung verurteilt. Anlass war ein Bericht über Drogenmissbrauch im Bundesstaat Kwara.

Am 18. April 2023 griff ein Polizist den Fotojournalisten Benedict Uwalaka tätlich an, weil er über einen Protest von Mitgliedern der Luftfahrtgewerkschaft im Bundesstaat Lagos berichtet hatte.

Der gewaltlose politische Gefangene Omoyele Sowore musste sich weiterhin vor dem Hohen Bundesgericht in Abuja wegen konstruierter Anklagen wie Landesverrat verantworten, weil er 2019 unter dem Hashtag #RevolutionNow zu einer Protestveranstaltung aufgerufen hatte.  

Rechtswidrige Angriffe und Tötungen

Die Sicherheitskräfte setzten exzessive Gewalt ein, u. a. bei der Auflösung friedlicher Proteste und Versammlungen.

Im Bundesstaat Delta erschoss ein Polizist am 5. April 2023 Onyeka Ibe, weil dieser sich geweigert hatte, ein Bestechungsgeld in Höhe von 100 Nigerianischen Naira (etwa 0,10 Euro) zu bezahlen.

Am 29. Juni 2023 erschossen Soldaten drei Jugendliche, die in der Gemeinde Afokpella (Bundesstaat Edo, Bezirk Etsako) gegen Erpressung und Unterbeschäftigung protestierten.

Laut einem Aktenvermerk der Regierung vom 19. Juli 2023, der an die Öffentlichkeit drang, hielt die Regierung des Bundesstaats Lagos die sterblichen Überreste von 103 Menschen, die während der #EndSARS-Proteste im Oktober 2020 getötet worden waren, unter Verschluss und plante, diese heimlich in einem Massengrab zu bestatten. Am 10. Oktober 2023 gab die Regierung des Bundesstaats Lagos bekannt, die Bestattung sei verschoben worden.

Am 6. September 2023 setzten bewaffnete Polizist*innen Tränengas und exzessive Gewalt gegen Studierende der Universität Lagos ein, die gegen eine Erhöhung der Studiengebühren von 19'000 Nigerianischen Naira (etwa 18 Euro) auf 190'000 Nigerianische Naira (etwa 180 Euro) protestierten. Die Polizei nahm Olorunfemi Adeyeye und sechs weitere Studierende fest, schlug sie und drohte, sie umzubringen.

Am 9. Oktober 2023 verurteilte ein Hohes Gericht in Lagos den Polizisten Drambi Vandi wegen der Tötung von Omobolanle Raheem zum Tod durch Erhängen. Er hatte die Frau am 25. Dezember 2022 erschossen, nachdem er versucht hatte, ihr Auto auf der Schnellstrasse von Lekki nach Epe anzuhalten.

Folter und andere Misshandlungen

Am 30. Juli 2023 starb in Kaduna (Bundesstaat Kaduna) Faiz Abdullahi in Polizeigewahrsam, nachdem man ihn bei einem Verhör gefoltert hatte. In Yola (Bundesstaat Adamawa) nahm die Polizei am 5. August 2023 den 17-jährigen Schüler Abdullahi Tukur Abba in Gewahrsam. Er starb später in einem Krankenhaus an den Folgen der Folter während des Verhörs.

Wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte

Am 29. Mai 2023 gab Präsident Bola Tinubu die Abschaffung der Treibstoffsubvention bekannt. Ihr Wegfall hatte einen starken Anstieg der Lebensmittelpreise und Lebenshaltungskosten zur Folge.

Am 2. August 2023 streikten Mitglieder des Gewerkschaftsverbands Nigeria Labour Congress u. a. wegen niedriger Löhne und weil den Universitätsdozent*innen seit acht Monaten kein Gehalt gezahlt worden war. Am 1. Oktober kündigte Präsident Tinubu an, der monatliche Mindestlohn werde vorübergehend um 25'000 Nigerianische Naira (etwa 24 Euro) erhöht.

Rechtswidrige Zwangsräumungen

Die Behörden nahmen weiterhin rechtswidrige Zwangsräumungen vor, ohne die Betroffenen mit ausreichend Vorlauf darüber zu informieren oder sie angemessen zu entschädigen. Ausserdem stellten die Behörden keine Alternativunterkünfte bereit, weshalb Hunderte Menschen obdachlos wurden. Am 21. und 22. Mai 2023 zerstörten Sicherheitskräfte und Angehörige der Behörde für Stadtplanung und Entwicklung im Bundesstaat Kaduna Gebäude, die Unterstützer*innen der Islamischen Bewegung von Nigeria (Islamic Movement of Nigeria) gehörten. Am 27. Juli 2023 wurden durch den Abriss von mehr als 250 Häusern in mehreren Vierteln der Stadt Oworonshoki (Bundesstaat Lagos) über 12'000 Menschen obdachlos.

Recht auf eine gesunde Umwelt

Die Behörden ergriffen 2023 keine geeigneten Massnahmen, um die Auswirkungen heftiger Regenfälle und Überschwemmungen, die durch den Klimawandel verschärft wurden, einzudämmen. Bei Überschwemmungen in Abuja starben im Juni 2023 vier Personen, 166 Häuser standen unter Wasser. In der Gemeinde Agege (Bundesstaat Lagos) kamen acht Menschen durch Hochwasser ums Leben.

Im August wurden in der Gemeinde Cheledi (Bundesstaat Bauchi) mehr als 700 Häuser und Bauernhöfe durch Hochwasser zerstört. In fünf Gemeinden des Bundesstaats Niger waren Häuser und Ackerland so stark überschwemmt, dass die Einwohner*innen flüchten mussten. Im Bezirk Ogbaru (Bundesstaat Anambra) waren landwirtschaftliche Betriebe von schweren Überschwemmungen betroffen, die dazu führten, dass auf einer Geflügelfarm mehr als 25.000 Tiere starben.

Im Nigerdelta bestanden die von der Erdölindustrie verursachten Verschmutzungen und Umweltschäden fort. Die von Shell durchgeführten Reinigungsmassnahmen waren unzureichend, und der Konzern hatte noch immer nicht erklärt, was er gegen die von ihm verursachte Umweltverschmutzung in nigerianischen Gemeinden unternehmen werde.

Verstösse gegen das humanitäre Völkerrecht

Menschenrechtsverstösse bewaffneter Gruppen

Die Menschenrechtsverstösse bewaffneter Gruppen hielten auch 2023 an. Im Nordosten Nigerias waren die bewaffneten Gruppen Boko Haram und Islamischer Staat Provinz Westafrika aktiv, im Nordwesten und im Zentrum Angreifer, die vor Ort als «Banditen» bezeichnet wurden, und im Südosten des Landes unbekannte Bewaffnete. Am 23. Januar 2023 enthaupteten Unbekannte im Bundesstaat Imo den Bezirksverwalter Christopher Ohizu. Am 5. und 6. April 2023 töteten Unbekannte mindestens 46 Menschen im Dorf Umogidi (Bundesstaat Benue).

Boko-Haram-Kämpfer verschleppten am 22. August 2023 mehr als 40 Frauen und Mädchen im Bezirk Mafa (Bundesstaat Borno). Bei einem Angriff auf Sicherheitskräfte am 19. September 2023 im Bezirk Ehime Mbano (Bundesstaat Imo) töteten Unbekannte etwa acht Angehörige der Armee, der Polizei und des Sicherheits- und Zivilschutzkorps (Nigeria Security and Civil Defence Corps).

Am 24. Dezember 2023 überfielen bewaffnete Gruppen 20 Ortschaften in den Bezirken Bokkos und Barkin Ladi im Bundesstaat Plateau. Dabei wurden mehr als 190 Menschen getötet und Dutzende verletzt und vertrieben.

Angriffe auf Bildungseinrichtungen

Die staatlichen Stellen unternahmen nichts, um Bildungseinrichtungen vor Angriffen und Entführungen zu schützen. Im Januar 2023 entführten Bewaffnete sechs Schüler*innen im Alter von vier bis sechs Jahren aus der LGEA-Grundschule in der Stadt Alwaza (Bundesstaat Nasarawa). Im März 2023 griffen Hirten das Gymnasium in Alaropo Nla (Bundesstaat Oyo) an und verletzten dabei Schüler*innen und Lehrkräfte. Im Bundesstaat Zamfara entführten am 22. September 2023 Bewaffnete 30 Schülerinnen aus Wohnheimen der Bundesuniversität in Gusau. Am 4. Oktober 2023 entführten Bewaffnete fünf Studentinnen bei einem Angriff auf die Bundesuniversität im Bezirk Dutsin-Ma (Bundesstaat Katsina).

Am 9. Oktober 2023 verschleppten Unbekannte die vier Studentinnen Rahila Hanya, Josephine Gershon, Rosemary Samuel und Goodness Samuel aus der Universität des Bundesstaats Nasarawa in Angwan Ka'are.

Rechtswidrige Angriffe und Tötungen durch Sicherheitskräfte

Verteidigungs- und Sicherheitskräfte verübten bei ihren Einsätzen gegen bewaffnete Gruppen Menschenrechtsverletzungen.

Am 24. Januar 2023 wurden im Bezirk Rukubi (Bundesstaat Nasarawa) bei einem Drohnenangriff, für den mutmasslich die nigerianische Luftwaffe verantwortlich war, zahlreiche Zivilpersonen getötet. Am 25. Januar starben bei einem Angriff der nigerianischen Luftwaffe im Bundesstaat Niger mindestens 21 Zivilpersonen. Im September griffen Sicherheitskräfte die Gemeinde Umualumaku (Bezirk Ehime Mbano, Bundesstaat Imo) an und setzten mehrere Häuser und Fahrzeuge in Brand. Es handelte sich dabei um einen Vergeltungsschlag für die Tötung von Angehörigen des Sicherheits- und Zivilschutzkorps, der Polizei und der Armee (siehe «Menschenrechtsverstösse bewaffneter Gruppen»). Am 3. Dezember 2023 tötete das Militär bei einem Drohnenangriff versehentlich mehr als 120 Menschen, die in der Ortschaft Tudun Biri im Bundesstaat Kaduna an einer religiösen Veranstaltung teilnahmen.

Verschwindenlassen

Der 22-jährige Maduabuchi Obinwa blieb auch 2023 «verschwunden». Sicherheitskräfte der Kriminalpolizei des Bundestaats Anambra aus der Stadt Awkuzu hatten am 24. April 2022 sein Haus in Ekwulobia gestürmt und ihn entführt. Weiterhin unbekannt waren am Jahresende auch Schicksal und Verbleib von Obiora Agbasimalo, den Bewaffnete am 18. September 2021 entführt hatten. Er hatte für das Amt des Gouverneurs im Bundesstaat Anambra kandidiert und war auf dem Weg zu einer Wahlkampfveranstaltung in Azia verschleppt worden. Auch das Ehepaar Sunday und Calista Ifedi war 2023 immer noch «verschwunden». Sicherheitskräfte hatten die beiden am 23. November 2021 aus ihrem Haus in Enugu abgeführt, weil sie nach Ansicht der Behörden der Separatistengruppe Indigenous People of Biafra angehörten.

Gewalt gegen Frauen und Mädchen

Von Januar bis Oktober 2023 wurden nach Angaben der Frauenministerin 24.720 Fälle sexualisierter und geschlechtsspezifischer Gewalt gemeldet, darunter 975 Todesfälle. Am 15. Juni 2023 vergewaltigte John Akpo in Irabi (Bundesstaat Benue) eine Frau, die im achten Monat schwanger war. Am 22. Juni 2023 nahm die Polizei Chukwuemeka Orji wegen der Vergewaltigung einer 13-jährigen Hausangestellten in Aba (Bundesstaat Abia) fest.

Am 14. Juli 2023 wurde der verstümmelte Leichnam der 32-jährigen Dorcas Shangev in Makurdi (Bundesstaat Benue) gefunden. In Awka (Bundesstaat Anambra) wurde die 27-jährige Chinyere Awuda am 15. Juli 2023 zu Tode geprügelt und in den nicht mehr genutzten Pool eines Hotels geworfen.

Rechte von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans- und Intergeschlechtlichen (LGBTI*)

Am 27. August 2023 nahm die Polizei auf der Hochzeit zweier schwuler Männer im Bundesstaat Delta 69 Männer fest. Sie wurden am 4. September vor einem Hohen Gericht im Bundesstaat Delta auf der Grundlage des Gesetzes über das Verbot der gleichgeschlechtlichen Ehe angeklagt und blieben in Haft. Am 19. September gewährte man ihnen eine Freilassung gegen Kaution, allerdings mit harten Auflagen, und ihre Strafverfahren wurden fortgeführt. Am 22. Oktober 2023 wurden 59 Männer und 17 Frauen im Einkaufszentrum Duwa-Plaza in Gombe, der Hauptstadt des gleichnamigen Bundesstaats, festgenommen, weil sie eine Geburtstagsfeier für Homosexuelle abgehalten und eine Hochzeit für Homosexuelle geplant haben sollen.

Rechte von Binnenvertriebenen

Im Nordosten Nigerias gab es 2023 nach wie vor mehr als 2,4 Mio. Binnenvertriebene. Die Regierung des Bundesstaats Borno schloss im Juli 2023 vier Lager und siedelte 11.000 Familien anderswo an. Die meisten der umgesiedelten Binnenvertriebenen hatten weder genug zu essen noch Zugang zu grundlegenden Versorgungsleistungen. Am 6. Oktober 2023 erklärte die Ministerin für humanitäre Angelegenheiten und Armutsbekämpfung, Dr. Betta Edu, 40 Wohneinheiten für bezugsfertig, die im Bundesstaat Zamfara für umgesiedelte Binnenvertriebene gebaut worden waren.

 

Veröffentlichungen von Amnesty International