Die brasilianische Landlosenbewegung MST (Movimento dos Trabalhadores
Rurias Sem Terra) ist 1984 gegründet worden. Das Hauptziel war damals
der Kampf um Land, aber wir wussten immer, dass wir auch andere
Grundrechte wie Bildung und Gesundheit einfordern mussten. Wir besetzen
und bebauen Land, bauen aber auch Schulen und organisieren den
Unterricht. Die Landlosenbewegung hat es sehr vielen Kindern und
Erwachsenen ermöglicht, lesen, schreiben und rechnen zu lernen. Bis
heute haben über 400000 Familien mit Hilfe von MST Land erhalten.
200000 Familien, die der Bewegung angehören, leben aber trotzdem unter
prekären Verhältnissen in Zelten an Strassenrändern.
Als Luís Inácio Lula da Silva zum Präsidenten Brasiliens gewählt wurde,
waren unsere Erwartungen gross. Wir haben seinen Wahlkampf unterstützt.
Lula war ja auch einer ohne Land und ohne Haus. Wir erwarteten, dass
der Grossgrundbesitz jetzt auch von der Regierung bekämpft werden
würde. Der Entwurf für eine Agrarreform, an dem auch MST mitgearbeitet
hat, sah die Ansiedlung von einer Million Familien während der
vierjährigen Amtszeit Lulas vor. Im Plan, den die Regierung Lula
schliesslich vorlegte, war aber nur noch die Ansiedlung von 400000
Familien vorgesehen. Als Grund für die Reduktion wurden fehlende
finanzielle Mittel angegeben.
Effektiv erhielten im Jahr
2003 schliesslich nur 37000 Familien Land, im gleichen Jahr wurden aber
auch über 35000 Familien, also fast gleich viele, in Landkonflikten von
ihrem Land vertrieben. Im vergangenen Jahr wurden gemäss Lula 60000
Familien angesiedelt. In Wirklichkeit waren das aber keine
Neuansiedlungen. Es ging um die Legalisierung von bereits angesiedelten
Familien.
Klar, dass wir über diese Entwicklung masslos
enttäuscht waren. Im Gespräch versuchten wir, Lula die Bedeutung der
Landreform klar zu machen. In Brasilien leben 60 von 180 Millionen
Menschen unter unwürdigen Bedingungen. Aber es gibt auch riesige
Flächen staatlichen Landes und Grossgrundbesitz, die brach liegen.
Gemäss der brasilianischen Verfassung kann brach liegendes Land
enteignet werden. Natürlich steht Lula unter gewaltigem Druck.
Grossgrundbesitzer und Vertreter des Agrobusiness sind im Parlament
immer noch sehr einflussreich. Aber Lula ist der Präsident dieses
Landes und hat eine grosse Machtfülle. Wir erwarten von ihm die
Umsetzung der Agrarreform.
Wir fordern von Lula auch, dass
er die Prioritäten im Bereich der Schuldenrückzahlungen anders setzt.
Eine seiner ersten Amtshandlungen war die Bestätigung, dass er den
Schuldendienst im bisherigen Umfang fortsetzen werde. Das ist
angesichts der Millionen von BrasilianerInnen, die Hunger leiden,
fragwürdig. Wir sind der Meinung, dass der Schuldenabbau in einem
langsameren Rhythmus erfolgen sollte, damit genügend finanzielle Mittel
für den Binnenmarkt frei werden.
Unsere Bewegung wird mit
aller Kraft weiter für ihre Ziele kämpfen. Lula hat uns die Ansiedlung
von 400000 Familien versprochen, und wir lassen nicht locker, bis wir
diese Ansiedlungen erhalten. Wir sind eine starke Bewegung, die schon
viel erreicht hat, und wir werden unsere Stärke im Juni mit einem
grossen, landesweiten Demonstrationsmarsch der Landlosenbewegung auf
die Hauptstadt Brasilia demonstrieren.
Erschienen im Magazin AMNESTIE! vom Mai 2005
Herausgegeben von Amnesty International, Schweizer Sektion¨