In Osijek, einem Vorort von Sarajevo, ist die kleine Schule frisch
renoviert, eine neue Moschee wird gebaut. Ein paar Minuten davon
entfernt wohnt die Familie Omerovic – Mutter Adila mit ihrer Tochter
Fahreta (18) und Sohn Nihad (17). «Es ist kein gutes Leben», sagt Adila
Omerovic mit Tränen in den Augen.
Das Haus, in dem sie seit zwei Wochen gemeinsam mit ihren Kin-dern
lebt, ist halb fertig, ein Rohbau, der Ofen in der Küche heizt nur
notdürftig. Ein Serbe habe ihnen das Haus verkauft, erzählt Adila
Omerovic, 15 000 Franken müsse sie dafür bezahlen, in Raten. «Wir haben
einen Kredit aufgenommen, sind jetzt hoch verschuldet», sagt die
Mutter. Sie hat keine Ahnung, wie sie das Geld je zurückzahlen oder die
nächste Rate finanzieren soll.
Keine Arbeit
Wie so viele andere Menschen in Sarajevo hat sie wenig Chancen, eine
Arbeit zu finden. Die Familie lebt von den nicht ganz 300 Franken
Witwenrente, die Adila Omerovic, deren Mann im Krieg umgekommen ist,
monatlich erhält. Dazu kommen noch etwa 38 Franken Stipendien, die
Fahreta mit ihrem Bruder Nihad teilt – und die Unterstützung aus der
Schweiz. Das kleine Unterstützungskomitee in La Chaux-de-Fonds hat Geld
gesammelt, 4000 Franken, die in kleinen Beträgen nach Sarajevo
geschickt werden. «Bitte sagt den Menschen in La Chaux-de-Fonds, dass
wir sehr dankbar sind für ihre Hilfe. Ohne sie könnten wir hier nicht
überleben.»
Am 1. April 1999 kam die Familie illegal in die Schweiz, am 6. Juli
2004 musste sie das Land wieder verlassen. Alle Initiativen und
Petitionen nützten nichts. Die Exekutiven von Le Locle und La
Chaux-de-Fonds, die Lehrer von Fahreta und Nihad und die Schulen und
die Klassenkameradinnen und -kameraden hatten sich mit grossem
Engagement für die Familie eingesetzt. In nur zwei Tagen hatten sie
mehr als 5000 Unterschriften gesammelt. Alles vergeblich. Gesetz blieb
Gesetz: Die Familie Omerovic musste ausreisen. 300 Franken pro Person
erhielten sie auf dem Flughafen. Das wars. Keine Unterstützung bei der
Reintegration, kein Rückkehrprogramm, von dem sie Hilfe erhalten hätten.
«Zum Glück war mein Onkel zu dieser Zeit in Sarajevo», erzählt Fahreta
Omerovic. «Er hat uns am Flughafen abgeholt, uns sein Haus zur
Verfügung gestellt und uns alles erklärt.»
Der Anfang war schwer, auch in der Schule. Fahreta und Nihad, die zehn
Jahre lang in Deutschland und in der Schweiz gelebt hatten, konnten
ihre Muttersprache weder korrekt reden noch schreiben. Latein,
Englisch, Französisch und Deutsch halfen wenig. «Zudem hatte ich
Probleme, ein Gymnasium zu finden», sagt Fahreta. Es fehlte Geld, um
für die Aufnahme in die Schule zu bezahlen. Weil Daniel Devaud, der
ehemalige Französischlehrer von Fahreta, in der Schule angerufen und
interveniert hatte, darf sie dieses Gymnasium jetzt doch besuchen.
Mittlerweile hat sie auch Bosnisch gelernt, vielleicht will sie
Kinderärztin werden, vielleicht auch Dolmetscherin.
Schon kündigt sich der Winter an. Es ist kalt in Sarajevo, kalt in
Osijek. Adila, Fahreta und Nihad Omerovic schlafen im ersten Stock des
Hauses. Die Matratzen liegen auf dem Boden, dazwischen ein Karton, der
die Kälte ein wenig abhalten soll. Fahreta erzählt, dass sie sich zum
Schlafen in drei Decken einwickelt, einen Schal um den Kopf bindet –
und trotzdem noch friert. Und dass die Familie schon bald im Wohnzimmer
neben der Küche werde übernachten müssen – der einzig warme Ort im
Winter. «Wir haben kein Geld für Holz, keines für Zahnspangen, für
Studiengebühren», sagt Adila Omerovic.
«Immer noch Krieg»
Zudem fühlt sie sich nicht sicher: «Hier ist immer noch Krieg». Dass
kürzlich die Schuhe vor der Haustüre gestohlen worden sind, verstärkt
das Gefühl der Unsicherheit. Fahreta erzählt, wie ihr eine Frau in der
Stadt die Goldkette vom Hals gerissen hat und damit davongelaufen ist,
sagt, dass sie als Rückkehrer auch von den Landsleuten nicht mit
offenen Armen empfangen worden sind: «Hier erzählen alle vom guten
Leben im Ausland, wo einem die gebratenen Tauben in den Mund fliegen.
Dann kommen die Menschen zu uns auf Besuch, glauben, wir seien reich,
wollen profitieren. Dabei haben wir nichts.»
Fahreta Omerovic ist diejenige in der Familie, die mit der Situation am
besten umgehen kann. Sie lernt fleissig, bereitet sich für das
Deutsch-Diplom im Dezember vor, für das Französisch-Diplom im Mai.
Nihad, der die Technik-Schule besucht, muss das Jahr wiederholen. Er
hat Probleme mit der Sprache – und er ist unglücklich. Eigentlich
wollte er «weltbester Fussballer werden», erzählt Fahreta. Sie lächelt
wehmütig: «Und jetzt kann er nicht einmal mehr am Training teilnehmen –
weil die Mutter kein Geld hat, um den Mitgliederbeitrag im Fussballclub
zu bezahlen.»
Und Adila Omerovic? Sie würde am liebsten dorthin zurückkehren, wo sie
vor dem Krieg mit Mann und Kindern gelebt hat: nach Pobudje in der
Gemeinde Bratunac, nahe Srebrenica – zwei Stunden von Sarajevo
entfernt. Wir fahren hin, sie zeigt uns ihre ehemalige Heimat. Das Haus
ist völlig zerstört, die Ruine fast vollständig von Unkraut
überwuchert. Hier in der Nähe ist der Ehemann von Adila begraben, hier
möchte sie leben. «Ich habe bei der Gemeinde Bratunac ein Gesuch um
Rückkehrhilfe gestellt», sagt Adila Omerovic. Auf Antwort wartet sie
seit einem Jahr vergeblich. Sie zeigt auf die andere Strassenseite,
erzählt, dass dort die Panzer der serbischen Nationalisten gestanden
hätten, dass von dort aus geschossen worden sei, dass ihr Mann und
seine Kollegen Heugabeln und anderes Material zusammengesucht und
gekämpft hätten. Und dann sei er im Kampf getötet worden. Ganz in der
Nähe, durch zwei Schüsse in den Bauch.
Wir finden im Gebüsch die Reste eines Pita-Blechs, daneben ein Stück
von einer Schürze der Schwiegermutter. Erinnerungen an glücklichere
Zeiten. Adila Omerovic zeigt auf die Häuser, nennt die Namen der
Bewohnerinnen und Bewohner. Sie blüht auf, erzählt, träumt davon, das
ganze Grundstück säubern zu lassen und alles wieder aufzubauen. Zu
leben wie früher, dort, wo sie einmal glücklich war. In den letzten 13
Jahren hatte sie nie ein richtiges Zuhause, war geduldet, lebte von
Monat zu Monat, von Jahr zu Jahr, immer in Sorge und Abhängigkeit.
Alles ist fremd
Diese Zeit hat die Familie geprägt. «Wir waren immer auf Hilfe
angewiesen, haben irgendwie auch das Kämpfen verlernt», erklärt
Fahreta. «Wir sind nicht daran gewöhnt, uns zu wehren, wir kennen weder
das System noch die Strukturen. Alles ist fremd und ungewohnt.» Sie
erinnert sich zurück an das Leben in der Schweiz, an das soziale Netz,
die Unterstützung durch ihre Lehrer, durch Bekannte. «Hier sind alle in
derselben Situation: Alle brauchen Geld, suchen Arbeit. Da gibt es
niemanden, der uns irgendwelche Türen öffnet.»
Erschienen im Magazin AMNESTIE! vom Februar 2006
Herausgegeben von Amnesty International, Schweizer Sektion