MAGAZIN AMNESTY Häusliche Gewalt Häusliche Gewalt – es geht um Macht

Gewalt innerhalb der Familie, und insbesondere gegen Frauen, ist unabhängig vom kulturellen oder sozialen Hintergrund in jeder Gesellschaft alltäglich. Im Rahmen einer weltweiten Kampagne setzt sich Amnesty International gegen häusliche Gewalt ein.

In Russland stirbt jede Stunde eine Frau an den Folgen der Gewalt durch ihren Partner oder Ehemann. In der Schweiz hat jede fünfte Frau in der Schweiz mindestens einmal in ihrem Leben körperliche oder sexuelle Gewalt durch den Partner erfahren. In Nigeria erachten 35 Prozent der Frauen es als gerechtfertigt, dass ein Mann seine Frau schlägt, weil sie ihm den Geschlechtsverkehr verweigert. Gewalt durch nahe stehende Familienangehörige ist vor allem für Frauen quer durch alle Länder, Kulturen und Religionen die wohl alltäglichste Bedrohung ihrer Menschenrechte – in vielen Fällen mit tödlichem Ausgang.
Der Begriff häusliche Gewalt umfasst jede Form von Gewalt zwischen Menschen, die unter einem Dach zusammenleb(t)en oder in einer engen verwandtschaftlichen Bindung zueinander stehen. Dazu gehört das Geschlagenwerden durch den Ehepartner ebenso wie sexuelle Übergriffe gegen Kinder, verbale oder handgreifliche Attacken gegen ältere Familienmitglieder, aber auch weibliche Genitalverstümmelung, Zwangsverheiratung oder Witwenmorde.
Häusliche Gewalt findet dort statt, wo Menschen am ehesten Sicherheit und Geborgenheit erwarten dürften: im engsten Umfeld, in der eigenen Familie, im «sozialen Nahraum». Einfache Erklärungen, wie es dazu kommt – etwa weil «die Kultur eben so ist», wegen Alkohol oder weil zu viele Waffen im Umlauf sind –, greifen oft zu kurz. Alkohol, Drogen oder Waffen können die Gewalt zwar verstärken und die Folgen verschlimmern, doch sie sind erwiesenermassen kaum je der eigentliche Grund und erst recht keine Entschuldigung. Unbestreitbar ist jedoch, dass häusliche Gewalt sehr viel mit Macht, Abhängigkeit und Kontrolle zu tun hat. Oft beginnen Übergriffe in dem Moment, in dem eine Machtposition, in den meisten Fällen die des Mannes, in Frage gestellt wird. Religiöse oder traditionelle Praktiken können diesen patriarchalen Machtinteressen dienen und werden deshalb ebenfalls gerne als Begründung herangezogen. In einer Gesellschaft, die zum Beispiel einen Krieg erlebt hat, in der Menschenrechtsverletzungen und Folter verbreitet sind und der gegenseitige Respekt verloren gegangen ist, steigt auch die Bereitschaft (vgl. Artikel zu Russland  S. 8/9), Konflikte im sozialen Nahraum mit Gewalt lösen zu wollen. 
Im Rahmen der weltweiten Kampagne «Stoppt Gewalt gegen Frauen» stellt Amnesty International dieses Jahr das Thema  häusliche Gewalt ins Zentrum und legt dabei den Schwerpunkt auf Gewalt in Ehe und Partnerschaft. Zwischen Lebens- und IntimpartnerInnen sind die Mechanismen der Gewalt meist besonders subtil und schwer zu durchbrechen. Oft beginnt die Gewaltspirale schleichend mit verbalen Erniedrigungen, worauf Drohungen folgen, die schliesslich in handgreiflicher Gewalt eskalieren. Darauf folgen Entschuldigungen, eine Entspannung der Situation, bevor es zu einer erneuten, meist noch viel heftigeren Eskalation kommt. Die Spirale der Gewalt geht nicht selten einher mit einer zunehmenden Selbstentwertung der Opfer, was das Abhängigkeitsverhältnis verfestigt und ein Ausbruch beinahe unmöglich macht (vgl. Porträt auf   S. 10/11). Sie hat insofern Ähnlichkeiten mit Foltersituationen.

Alle tragen Verantwortung

Dass eine Menschenrechtsorganisation sich um dieses Thema kümmert, ist dennoch keine Selbstverständlichkeit: Auch wenn die Diskussion über die Notwendigkeit staatlicher Interventionen gegen häusliche Gewalt im letzten Jahrzehnt weltweit an Boden gewonnen hat, so werden Drohungen, Nötigungen, Schläge, Vergewaltigungen und Morde, denen vor allem Frauen in den eigenen vier Wänden ausgesetzt sind, selten als Menschenrechtsthema wahrgenommen. Das sind sie jedoch: Auf dem Spiel stehen elementare Rechte wie das Recht auf Leben, das Recht auf körperliche und seelische Gesundheit, das Recht auf Freiheit und Sicherheit der Person und nicht zuletzt das Recht, keiner Folter oder erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu sein. Der Staat, so das heutige Menschenrechtsverständnis, hat alles in seiner Macht Stehende zu unternehmen, um solche Menschenrechtsverletzungen auch im Privaten zu verhindern. Institutionen wie die Uno und der Europarat haben zahlreiche Normen geschaffen, wie der Staat seine Schutzfunktion wahrnehmen kann.
An diese Normen knüpft Amnesty International mit der Kampagne an, die diesen März weltweit und auch in der Schweiz startet. Der Staat, so die Forderung, muss häusliche Gewalt konsequent unter Strafe stellen und ahnden, er muss betroffene Personen vor weiteren Gewalttaten schützen, er muss gegenüber TäterInnen nicht nur strafrechtlich, sondern auch im Sinne der sozialen Rehabilitierung aktiv werden, und er muss sein Personal für den Umgang mit Opfern und Tätern schulen, sei es bei der Polizei, der Justiz, im Gesundheits- oder im Sozialwesen.
Die Verhinderung und Bekämpfung von  häuslicher Gewalt ist allerdings nicht alleine Aufgabe des Staates. «Not-wendig» – im wahrsten Sinne des Wortes – ist auch ein zunehmendes Bewusstsein jedes und jeder Einzelnen, dass es bei häuslicher Gewalt um ein gesamtgesellschaftliches und menschenrechtliches Problem geht – nicht um eine «Frauenfrage» und noch weniger um eine Privatsache. Die Antwort auf die Frage «Was kann ich denn dagegen tun, ich schlage meine Frau ja nicht?» muss mit derselben Selbstverständlichkeit, wie das etwa für den Kampf gegen die Folter oder gegen die Todesstrafe der Fall ist, lauten: die Gewalt denunzieren, klarstellen, dass sie unter keinen Umständen akzeptabel ist, und Private wie Behörden dazu auffordern, sie zu verhindern und zu  bekämpfen.

Keine Entschuldigungen

Dennoch ist es wohl oftmals schwieriger, sich gegen häusliche Gewalt zu stellen als etwa gegen Folter oder gegen die Todesstrafe – denn häusliche Gewalt liegt «nahe»: Opfer wie Täter sind unter uns. Entsprechend nahe liegen die Widerstände, sich damit auseinander zu setzen. Sie zeigen sich u.a. in den Polarisierungen zwischen Männern und Frauen, die das Thema hervorruft. Dabei wird übersehen, dass niemand nur «Gewalttäter» oder nur «Gewaltopfer» ist. Oft fällt es sowohl Opfer wie Täter schwer, die Spirale der Gewalt zu verlassen und andere Kommunikationsformen zu erlernen. Widerstände, sich mit dem Thema auseinander zu setzen, zeigen sich auch im oft zu hörenden Einwand, häusliche Gewalt betreffe doch vor allem «bestimmte Kulturen» oder eben «AusländerInnen». Dieses Argument ist jedoch nicht nur falsch, sondern unterstützt – bewusst oder unbewusst – lediglich jene (Un-)Kultur der Herrschaft von Männern über Frauen, die eben auch Gewalt und Menschenrechtsverletzungen zulässt.
Menschenrechtsverletzungen sind aber mit keiner Kultur oder Tradition entschuldbar, weder mit einer religiösen, noch mit einer wirtschaftlichen oder einer patriarchalen. Denn Menschenrechte sind keine Kulturfrage – sie gelten universell. Diese Geltung zu stärken, in Solidarität mit jenen Männern und Frauen, die sich der Kultur der Gewaltherrschaft in allen Gesellschaften, Religionen und Ländern entgegenstellen, ist unser Ziel.

Erschienen im Magazin AMNESTIE! vom Februar 2006
Herausgegeben von Amnesty International, Schweizer Sektion