An Händen und Füssen gefesselt, am Boden festgekettet, mit einer Kapuze über dem Kopf: So wurde Murat Kurnaz am 24. August 2006, von 15 US-Soldaten begleitet, in einem grossen Frachtflugzeug von Guantánamo nach Deutschland zurückgeflogen und auf dem US-Stützpunkt Ramstein den deutschen Behörden übergeben. Auf die gleiche entwürdigende Weise, wie er im Februar 2002 ins US-Gefangenenlager Guantánamo auf Kuba gebracht worden war. «Das war würdelos bis zum Ende. Die Amerikaner sind sich treu geblieben», kommentierte Bernhard Docke, der deutsche Rechtsanwalt von Kurnaz, die Art und Weise der Freilassung.
Dabei war seit vier Jahren klar, dass Kurnaz weder ein «Terrorist» noch ein Mitläufer war, sondern sich «einfach zur falschen Zeit am falschen Ort» aufhielt, wie sowohl der CIA als auch deutsche Geheimdienstmitarbeiter bereits im Herbst 2002 festgestellt hatten. Der falsche Ort, das war Pakistan, wohin Kurnaz am 3. Oktober 2001 reiste, um in einer Koranschule der islamischen Missionsbewegung «Tabligh-i-Jamaat» «mehr über den Islam zu lernen». «Ich wollte diese Reise noch machen, bevor meine Ehefrau aus der Türkei nach Deutschland kommen würde», erklärte er am 18. Januar 2007 vor einem Untersuchungsausschuss des deutschen Bundestages, der die Mitschuld deutscher Behörden an der langen Haft von Kurnaz untersucht.
Kopfgeld-Opfer
Die falsche Zeit, das waren die Wochen nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in den USA, denn am 7. Oktober startete die US-Armee ihren «Krieg gegen den Terror» mit der Operation «Enduring Freedom», mit der Al-Kaida-Chef Osama bin Laden und das afghanische Taliban-Regime ausgeschaltet werden sollten. Kurnaz wurde von der Koranschule abgewiesen und reiste einige Wochen in Pakistan umher, bevor er im November zurück nach Deutschland wollte. Er war bereits auf dem Weg zum Flughafen, als er bei einer Kontrolle von pakistanischen Polizisten aus dem Bus geholt und ein paar Tage später gegen ein Kopfgeld an die US-Armee verkauft wurde.
Kurnaz wurde in ein US-Gefängnis im afghanischen Kandahar gebracht, wo er massiv gefoltert wurde und sich bei Minustemperaturen tagelang fast unbekleidet im Freien aufhalten musste. Ungefähr Anfang Februar 2002 wurde er schliesslich als einer der ersten Gefangenen – er trug die Identifikationsnummer 053 – nach Guantánamo überführt.
Warum ausgerechnet er zu denjenigen gehörte, die ins Gefangenenlager auf Kuba gebracht wurden, ist nicht klar. Kurnaz-Anwalt Docke vermutet einen Zusammenhang mit Informationen, die auf bisher ungeklärte Weise aus Deutschland in die Hände von US-Verhörspezialisten in Kandahar gelangt sind. Die Bremer Staatsanwaltschaft führte zu jener Zeit eine Strafuntersuchung über allfällige Verbindungen von Kurnaz zu «terroristischen» Kreisen in Deutschland durch. Diese Untersuchung, die in der Zwischenzeit wegen unbegründeten Verdachts eingestellt worden ist, könnte den USA genügt haben, um ihn als gefährlichen «Terroristen» einzustufen.
Sauerstoffentzug
In Guantánamo begann für Kurnaz eine mehr als vierjährige Zeit völliger Rechtlosigkeit mit Isolation, Folter, Demütigung und Misshandlung. Als eine der schlimmsten Formen der Folter beschrieb Kurnaz vor dem Untersuchungsausschuss die Phasen der Isolationshaft. Die Gefangenen wurden in völlig abgeschlossene Kammern eingeschlossen, in denen sie nur über Ventilatoren mit Luft versorgt wurden. Von aussen konnte reguliert werden, dass sie kalter oder heisser Luft ausgesetzt wurden. Oft wurden die Ventilatoren auch abgestellt, bis nur noch so wenig Luft in den Kammern war, dass die Gefangenen das Bewusstsein verloren.
Die US-Behörden arbeiteten mit allen nur erdenklichen Tricks, um den Gefangenen die Hoffnungslosigkeit ihrer Lage und ihre Ausgeschlossenheit von der Welt deutlich zu machen. Kurnaz berichtete vor dem Untersuchungsausschuss, er sei sowohl in Kandahar wie später in Guantánamo vom gleichen Rotkreuzvertreter besucht worden, der ihn regelmässig besucht habe. Sein erster Brief, den er diesem Rotkreuzvertreter mitgegeben habe und in dem er auch die Folterungen erwähnte, sei aber bei den US-Verhörspezialisten gelandet.
Falsche IKRK-Delegierte?
Baher Azmy, der US-Anwalt von Kurnaz, der ihn als Einziger während der Gefangenschaft besuchen durfte, bekräftigte vor dem Ausschuss den Vorwurf, dass Kurnaz von US-Agenten besucht worden sei, die sich als Delegierte des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK) ausgegeben hätten. Azmy sagte, US-amerikanische Geheimdienstleute hätten sich mehrfach bei Gefangenen als ausländische Beamte, IKRK-Delegierte oder Anwälte ausgegeben, um an Informationen zu gelangen.
Das IKRK hat auf Anfrage bestätigt, dass Kurnaz sowohl in Kandahar als auch in Guantánamo vom gleichen – deutschsprachigen – IKRK-Delegierten besucht worden ist. Der Vorwurf, dass US-Agenten sich als IKRK-Delegierte ausgegeben hätten, wird vom IKRK nicht kommentiert. Ein solcher Fall würde allenfalls direkt mit den zuständigen Gefängnisbehörden besprochen, hiess es in der Genfer IKRK-Zentrale.
Im September 2002 wurde Kurnaz in Guantánamo auch von deutschen Geheimdienstmitarbeitern verhört. Sie kamen, wie bereits zuvor die US-amerikanischen Verhörspezialisten, zum Schluss, dass von Kurnaz «kein Gefährdungspotential hinsichtlich deutscher, amerikanischer oder israelischer Sicherheitsinteressen» ausgehe. Wie erst 2006 öffentlich wurde, signalisierten die USA bereits zu diesem Zeitpunkt den deutschen Behörden, dass sie bereit seien, Kurnaz freizulassen.
Deutsche Mitschuld
Aber weder die Türkei noch Deutschland fühlten sich bemüssigt, sich für den türkischen Staatsbürger, der in Deutschland geboren und aufgewachsen war, einzusetzen. Kurnaz war nicht nur im «legal black hole» von Guantánamo gefangen, er fiel auch in ein juristisches Niemandsland zwischen zwei Staaten und ihren Rechtssystemen, die sich beide nicht zuständig fühlen wollten. Während die Türkei einfach nicht mehr als das Nötigste unternommen hat, taten die deutschen Behörden alles nur Erdenkliche, um eine Wiedereinreise von Kurnaz zu verhindern.
Ende Oktober 2002 entschieden die Chefs der deutschen Sicherheitsbehörden unter Führung des damaligen Kanzleramtschefs und heutigen Aussenministers Frank-Walter Steinmeier, für Kurnaz solle eine Einreisesperre erlassen werden und er solle in die Türkei abgeschoben werden, wie Recherchen der Süddeutschen Zeitung ergaben. Das deutsche Innenministerium regte an, die Bremer Behörden sollten Kurnaz’ Aufenthaltserlaubnis widerrufen, weil er sich mehr als sechs Monate im Ausland aufgehalten habe – was dann auch geschah. Gleichzeitig liess das Innenministerium gemäss Docke eine Einreisesperre für den gesamten Schengen-Raum verfügen. Beide Entscheide mussten später widerrufen werden.
Die deutschen Behörden versuchten sogar, von den US-Behörden den Pass von Kurnaz «auszuleihen», um die Aufenthaltsgenehmigung «physikalisch ungültig» zu machen – will heissen, die Seite mit der Aufenthaltsgenehmigung herauszureissen.
Mehr als zweieinhalb Jahre nach seiner Verhaftung hatte Kurnaz im Oktober 2004 erstmals Kontakt mit seinem Anwalt Baher Azmy. Im Januar 2005 bezeichnete US-Bundesrichterin Joyce Hens Green in einem Urteil die Haft von Kurnaz und anderen Gefangenen in Guantánamo als illegal und verfassungswidrig. Nirgends sei ein Beweis dafür erbracht, «dass Kurnaz selbst einen Selbstmordanschlag plante, gegen die USA kämpfen oder amerikanische Sicherheitsinteressen angreifen wollte».
Schalter umgekippt
Aber auch nach diesem Entscheid blieb Kurnaz in Haft, die US-Regierung legte Berufung gegen das Urteil ein. Im April fragten die USA allerdings erneut bei deutschen Diplomaten nach, ob Deutschland Kurnaz zurücknehmen würde. Aber Kanzleramt und Innenministerium wehrten sich noch im Oktober 2005, nach den Wahlen in Deutschland, gegen eine Wiedereinreise von Kurnaz.
Erst als sich Docke Ende 2005 an die neue Bundeskanzlerin Merkel wandte, kam Bewegung in die Sache: «Das war, wie wenn ein Schalter umgekippt worden wäre», erklärte Docke dem Untersuchungsausschuss. Merkel setzte sich im Januar 2006 bei US-Präsident Bush für die Freilassung von Kurnaz ein. Die USA versuchten, die Freilassung von Kurnaz an Bedingungen zu knüpfen. So sollte Deutschland mit ihm gleich auch noch zwei unschuldig in Guantánamo inhaftierte Uiguren aufnehmen, die nicht in ihre Heimat abgeschoben werden konnten. Obwohl Deutschland auf die Forderungen nicht eintrat, wurde Kurnaz im August 2006 freigelassen.
Wie er sich denn fühle, wollte der Untersuchungsausschuss-Vorsitzende Siegfried Kauder von Kurnaz während der Befragung wissen. «Ich kann nicht sagen, dass es mir schlecht geht», antwortete Kurnaz. «Aber ich weiss, wie es den Gefangenen in Guantánamo geht, dass sie gefoltert werden und dass sehr viele von ihnen unschuldig sind. Wenn ich an sie denke, geht es mir nicht gut.»
von Jürg Keller
Erschienen in «AMNESTY - Magazin der Menschenrechte» vom März 2007
Herausgegeben von Amnesty International, Schweizer Sektion