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«Du musst ganz ruhig bleiben, das rät man dir. Du wendest dich an einen der Mörder deiner Familie oder an einen seiner Komplizen, und du darfst auf keinen Fall aus der Haut fahren. Ihn weder geringschätzig ansehen, noch drohend auftreten oder wütend.» Als Esther Mujawayo, eine Überlebende des Genozids in Ruanda, die heute in Deutschland lebt, im November 2005 nach Ruanda fuhr, ahnte sie, dass diese Reise nicht einfach sein würde. Sie wollte in ihrem Heimatland an einem so genannten Gacaca-Verfahren teilnehmen.
Gacaca-Gerichte
Da es über einhundertfünfzig Jahre gedauert hätte, alle Täter und Handlanger des Völkermords von 1994 in regulären Verfahren vor Gericht zu stellen, wurde im Jahr 2001 eine spezielle Justiz in Ruanda geschaffen, die Gacaca-Gerichtsbarkeit. Die Prozesse finden in den jeweiligen Dörfern und Stadtvierteln unter freiem Himmel statt, neun Laienrichter fällen die Urteile, nachdem die lokale Bevölkerung den Angeklagten Fragen stellen konnte. Die Gacaca-Gerichte sind nicht für die Drahtzieher des Völkermords zuständig, dem rund eine Million Menschen zum Opfer fielen, wohl aber für die Ausführenden, die so genannten «kleinen» Mörder.
Um die überfüllten Gefängnisse zu entlasten, können geständige Täter mit erheblicher Strafmilderung rechnen. Für die Angehörigen der Opfer ist dies zweischneidig: Zwar konnten durch die Geständnisse in einigen Fällen die sterblichen Überreste der Ermordeten gefunden und in Würde bestattet werden. Doch müssen die Überlebenden nun mit denjenigen zusammenleben, die ihre Angehörigen umbrachten. Seit 2003 wurden über 70000 Häftlinge freigelassen, die mutmasslich am Völkermord beteiligt waren.
Auch Esther Mujawayo hoffte, bei der Gacaca-Verhandlung von den Tatverdächtigen Informationen über den Verbleib ihrer ermordeten Schwester Stéphanie und deren Kinder zu erhalten, um deren sterbliche Überreste bestatten zu können. Begleitet wurde sie bei ihren Nachforschungen von der algerischen Journalistin Souâd Belhaddad, die Mujawayos Geschichte aufzeichnete. «Auf der Suche nach Stéphanie» ist bereits das zweite Buch der beiden Frauen. Das erste Buch, «Ein Leben mehr», das im Jahr 2004 erschienen war, widmete sich vor allem der Frage «Wie war das möglich?»
Schonungslos
Mujawayo verlor während des Genozids nicht nur ihre Schwester, sondern auch ihren Ehemann, ihre Eltern sowie Hunderte von weiteren Verwandten. Gemeinsam mit 50 anderen Witwen gründete sie in Ruanda die Selbsthilfeorganisation «Avega» (Association des Veuves du Génocide d’Avril), die sich um überlebende Frauen und Kinder kümmert. Inzwischen lebt Mujawayo in Deutschland und arbeitet als Therapeutin im Psychosozialen Zentrum in Düsseldorf mit traumatisierten Flüchtlingen aus Afrika.
«Auf der Suche nach Stéphanie» beschreibt eine schonungslose Konfrontation mit der Vergangenheit. Die Gegenüberstellung mit den vermeintlichen Tätern fällt Mujawayo äusserst schwer, zumal nur einer von drei Tatverdächtigen geständig ist. Eindringlich beschreiben Mujawayo und Belhaddad nicht nur die Dynamik der Gacaca-Verhandlungen, sondern das generelle Dilemma der Hinterbliebenen in Ruanda: «Sollen Überlebende, die noch unter dem Eindruck der Todeserfahrung stehen, weil sie schutzlos sind, kein Dach über dem Kopf haben, kein Geld, keinen Platz in ihrer Gesellschaft ausser dem des Opfers, sollen Überlebende – Untergegangene nach Primo Levis Worten – die schwere Prüfung noch mal durchmachen, die eine erzwungene Gegenüberstellung mit ihren Mördern ja darstellt?»
Fast unheimlich
Bei ihrem Besuch in Ruanda trifft Mujawayo viele Menschen, die in derselben Situation sind: Sie ringen um Aufklärung der Verbrechen, um Anerkennung ihres Leids, müssen sich aber gleichzeitig mit den Tätern arrangieren. «Wir haben keine andere Wahl», lautet ein immer wiederkehrender Satz. «Wir müssen miteinander leben, es gibt keine Alternative zur nationalen Versöhnung.» Mujawayo und Belhaddad berichten von überlebenden Frauen, die eine menschliche Grösse zeigen, die fast unheimlich ist. Frauen, deren Familien ermordet wurden, und die in Gefängnisse gehen, um Häftlinge auf ihre Entlassung vorzubereiten und «für den Frieden zu sensibilisieren» oder die sich als Gacaca-Richterinnen um Neutralität bemühen.
Mujawayos Haltung gegenüber Massnahmen zur Versöhnung ist zwiespältig, ihrer Ansicht nach ist der Preis für die Opfer zu hoch: «Es ist zu viel: von Überlebenden zu verlangen, Völkermördern ins Gesicht zu sehen, sie zu bitten, uns Klarheit über unsere Toten zu verschaffen (…) und sie dann zum Frieden zu bewegen suchen, das ist zu viel.» Mujawayo weist darauf hin, dass die Gacaca-Verhandlungen bei vielen Überlebenden eine erneute Traumatisierung bewirken und dass die materielle Lage der Opfer bis heute extrem schlecht ist. «Anderen Ruandern geht es nicht besser, ich weiss… aber den Überlebenden sind weder physische noch moralische Kräfte geblieben. Sie können sich kaum noch auf den Beinen halten.»
Hoher Preis
Mujawayo hat mit ihrem Buch nicht nur den Überlebenden des Genozids eine Stimme verliehen, sie zeigt auch, dass Versöhnung einen hohen Preis hat, den in aller Regel die Opfer zahlen. «Du hast ein Land, das vorankommen muss, und du, der Überlebende, bist in dem Land wie ein Tumor, der verhindert, dass es sich kerngesund fühlt.» Die Stärke dieses Buches besteht nicht zuletzt darin, dass Belhaddad auch die spontanen Reaktionen und Emotionen Mujawayos während dieser Reise dokumentierte. Mujawayo macht keinen Hehl aus ihrer Wut und Hilflosigkeit gegenüber den Tätern, aus ihren Zweifeln anlässlich der Gacaca-Verfahren. Gleichzeitig bemüht sie sich jedoch stets darum, ihr Erleben zu reflektieren, was ihr eine hohe Glaubwürdigkeit verleiht.
Esther Mujawayo, Souâd Belhaddad: Auf der Suche nach Stéphanie. Aus dem Französischen von Jutta Himmelreich. Hammer Verlag, Wuppertal 2007, CHF 35.90
Erschienen in «amnesty - Magazin der Menschenrechte» vom November 2007
Herausgegeben von Amnesty International, Schweizer Sektion