MAGAZIN AMNESTY Peking 2008 Aufbauen und wieder verschwinden

Drei bis vier Millionen WanderarbeiterInnen haben – unter oft schlechten Arbeitsbedingungen – den Bau der olympischen Sportstätten und die Erneuerung Pekings vor den Olympischen Spielen 2008 ermöglicht. Vor Beginn der Spiele aber werden sie die Stadt verlassen müssen: Nichts soll das strahlende Stadtbild trüben.

Aufbauen und wieder verschwinden Wanderarbeiter vor dem neu gebauten Olympiagebäude für Wassersportarten © Ian Teh / Panos

Zhu Zhengsheng kam mit dem Zug, zusammen mit einigen Nachbarn aus dem Dorf. Die meisten anderen kannten Peking. Und als sie schliesslich in den Westbahnhof der Hauptstadt einfuhren, waren ganz plötzlich alle verschwunden. Zhu stand in der weiten fremden Wartehalle, mitten im Gewimmel, und doch fühlte er sich allein. Da wusste er, dass es nicht einfach werden würde. Er fuhr mit dem Bus zum Sommerpalast. Zum Glück hatte er die Telefonnummer eines Freundes dabei. Der holte ihn ab und brachte ihn zu der Baustelle. Am nächsten Tag begann Zhu mit der Arbeit. Niemand hatte ihm gesagt, was er baute. Er verputzte einfach die Wände, die der Vorarbeiter ihm zuteilte. Die Baustelle war sehr, sehr gross. Andere Arbeiter erzählten ihm, dass in diesem Gebäude einmal die Tischtennisturniere der Olympischen Spiele stattfinden sollen. Im nächsten Jahr wird die ganze Welt das Gebäude im Fernsehen sehen – und die Wände, die Zhu verputzt hatte. «Ein ganz besonderes Gefühl», sagt Zhu, «ich habe etwas beigetragen.»

Drei bis vier Millionen WanderarbeiterInnen arbeiten daran, die chinesische Hauptstadt für die Olympischen Spiele im kommenden Sommer herzurichten. Niemand kennt die genaue Zahl. Doch Experten schätzen, dass 200 Millionen chinesische Bauern ihr Land verlassen haben, um in den boomenden Wirtschaftszentren zu arbeiten. Chinas WanderarbeiterInnen sind das Rückgrat des Industriebooms. Doch vom neuen Wohlstand profitieren sie am wenigsten.

Wirtschaftsreformen

Vor fast 30 Jahren begann Chinas grosser Wirtschaftsreformer Deng Xiaoping mit der vorsichtigen Öffnung der kommunistischen Planwirtschaft, die über Jahrzehnte fast völlig abgeschottet von der Weltwirtschaft existierte. Er begann damit das grösste Privatisierungsprogramm in der Geschichte der Weltwirtschaft und erfand später dafür die kuriose Losung «sozialistische Marktwirtschaft». Heute ist China weder sozialistisch noch Marktwirtschaft. Doch das Land wird in wenigen Monaten an Deutschland vorbeiziehen und zur drittgrössten Volkswirtschaft der Erde aufrücken.

Deng ging davon aus, dass mittelfristig alle Bevölkerungsgruppen am wachsenden Wohlstand teilhaben würden. Doch eine Studie der asiatischen Entwicklungsbank kam im Sommer zu einem schockierend gegenteiligen Ergebnis: Ausser in Nepal wächst die wirtschaftliche Ungleichheit in keinem anderen asiatischen Land schneller als in China. Denn die sprunghaft ansteigenden Investitionen konzentrieren sich vor allem auf die boomenden Küstenstädte im Zentrum. Und dort verbessern sich auch Ausbildungsmöglichkeiten, Gesundheitsversorgung und Wohnsituation der Menschen.

Im weiten chinesischen Hinterland hat sich für die Menschen jedoch nicht viel verändert. Dafür sind neue Probleme hinzugekommen: Seit dem Beitritt des Landes zur Welthandelsorganisation WTO konkurrieren chinesische Gemüsebauern jetzt mit den Agrarfabriken aus den USA und aus Australien.

Selbst die staatliche chinesische Presse berichtete, dass die Zahl der armen Bevölkerung erstmals seit Jahrzehnten wieder wächst. Im Jahr 2003 betrug das Jahreseinkommen der als «arm» eingestuften Bauern 637 Yuan – umgerechnet nicht einmal 100 Franken. Viele Bauern haben da schlicht keine andere Wahl, als ihre Felder zu verlassen, um ihre Arbeitskraft in den Städten zu verkaufen. Und stehen dabei ganz am Ende der kapitalistischen Nahrungskette – ohne Gewerkschaften, meist ohne Versicherungen und Arbeitsverträge. Oft warten die Arbeiter monatelang auf ihre Löhne und haben kaum eine Möglichkeit, sich dagegen zu wehren.

Von Zhuying nach Peking

Eine breite Strasse schlängelt sich durch den Norden der chinesischen Hauptstadt. Irgendwann muss man rechts in eine schmalere Strasse abbiegen, wo Bauern ihre Ernte auf den Gepäckträgern ihrer Fahrräder verkaufen. Hinter dem Friseursalon gehts noch einmal rechts in eine Sackgasse. In der Wand am Ende befindet sich ein Holztor, dahinter schlängelt sich ein Feldweg durch eine stinkende Hügellandschaft aus Müll und Kompost, dann sieht man eine kleine Hütte: Da wohnt Zhu.

Zhu wurde auf dem Land geboren, vor 36 Jahren, in einem winzigen Ort mit dem Namen Zhuying. Die Menschen waren arm, doch nicht unglücklich. Als er 14 Jahre alt war, starb sein Vater an Krebs. Die Familie hatte ihre kompletten Ersparnisse für Medikamente ausgegeben.

Boomjahre

«Ich hatte Glück», sagt Zhu. Ein Bauer hatte am Dorfrand neben dem Fluss eine Ziegelei eröffnet. Mit 14 fing Zhu dort an zu arbeiten und zog die Karren mit den rohen Steinen den Hügel hinauf zum Ofen, pro Karre bekam er einen Yuan. Zum ersten Mal seit langer Zeit war die Familie wieder satt.

Viele Männer verliessen damals das Dorf. Die Industriezentren an der Ostküste boomten. Man konnte dort sehr viel Geld verdienen, pro Monat 1000 Yuan und mit Glück sogar noch mehr. Ein Nachbar erzählte ihm von den Kohlegruben. Zhu begann seine Reise. Er war kräftig, mutig, hungrig – doch der Vorarbeiter sagte: «Du bist noch ein Kind. Ich kann dir keine Arbeit geben.» Doch weil er kein Geld für eine Rückfahrkarte übrig hatte, blieb Zhu und belud die Lastwagen der Kohlehändler, die ihm dafür ein paar Münzen zuwarfen. Irgendwann durfte er mit den anderen Kumpeln in den Berg fahren.

Zhu ist nicht unglücklich. Als er 19 Jahre alt war und die Ferien in seinem Dorf verbrachte, stellte ihm der Onkel ein Mädchen vor, dass Drachenvogel hiess und mit ihren kurzen Haaren fast wie ein Kind aussah. Sie heirateten in den Ferien ein Jahr später, heute haben sie einen Sohn. Zhus Frau arbeitet inzwischen auch in Peking. «Für einen Menschen vom Land habe ich viel erreicht», sagt Zhu. Ihre Hütte ist klein, aber sie haben einen Reiskocher, einen Farbfernseher, ein Mobiltelefon und keinen Hunger.

Als im Spätsommer 2001 die Entscheidung verkündet wurde, dass die Olympischen Spiele 2008 in Peking stattfinden werden, feierte er auf der Strasse. «Ich würde die Spiele gerne sehen», sagt Zhu, am liebsten die Tischtenniswettkämpfe. Doch das wird nicht gehen. Zhu und die anderen Millionen WanderarbeiterInnen haben Peking rechtzeitig zu den ersten Olympischen Probewettkämpfen in eine schillernde Metropole verwandelt. Jetzt, wo die Baugerüste abgebaut werden, will Peking die WanderarbeiterInnen wieder loswerden. Für die Dauer der Spiele müssen sie die Hauptstadt verlassen. Nichts soll den Glanz der Spiegelfassaden trüben.

Trotz der ungleichen Behandlung hat die Kommunistische Partei das Problem zumindest theoretisch erkannt – und bemüht sich darum, mit grossen Gesten ihre Solidarität mit den WanderarbeiterInnen zu demonstrieren. In der Eröffnungsrede des KP-Parteitags Mitte Oktober in Peking forderte Staats- und Parteichef Hu Jintao eine bessere soziale Absicherung für Bauern und Bäuerinnen sowie WanderarbeiterInnen. Die Parteihochschule in Schanghai lud 50 Wanderarbeiter ein, eine Videoübertragung der Rede in einem Klassenraum anzuschauen. Doch bisher ist es bei Symbolen geblieben.

Erschienen in «amnesty - Magazin der Menschenrechte» vom November 2007
Herausgegeben von Amnesty International, Schweizer Sektion